Abstimmungserklärung von Sven Giegold und Jan Philipp Albrecht zur Wahl von Jean-Claude Juncker als neuem EU-Kommissionspräsidenten im Europäischen Parlament.
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir haben heute den Kandidaten Jean-Claude Juncker mit vielen anderen ProeuropäerInnen in das Amt des EU-Kommissionspräsident gewählt und möchten Euch hiermit unsere Beweggründe für diese Entscheidung darlegen.
Als Europäische Grüne Partei und Bündnis 90/Die Grünen sind wir im Europawahlkampf 2014 mit einem Programm angetreten, das zahlreiche konkrete Schritte für eine grünere, für eine bessere Europäische Union enthält. Darunter wichtige Projekte, die in den kommenden fünf Jahren auf EU-Ebene essenziell sein werden, um den akuten Herausforderungen einer globalisierten und digitalisierten Welt gerecht zu werden und dramatische Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Wir sind dazu mit der klaren Entscheidung angetreten, die Europäische Union demokratischer und das Europäische Parlament stärker zu machen. Dazu gehört die Entscheidung durch SpitzenkandidatInnen zu demokratisieren, wer die Europäische Kommission führt. Die Entscheidung über die Nominierung des/der designierten EU-KommissionspräsidentIn haben die Europäischen Parteien aus den Hinterzimmern des Europäischen Rates geholt und in die Hände der Wählerinnen und Wähler in der EU gelegt.
Die Europäische Volkspartei ist aus den Wahlen als die stärkste Fraktion hervorgegangen und damit hat das Europäische Parlament mit unserer einvernehmlichen Grünen Unterstützung Jean-Claude Juncker als EVP-Spitzenkandidat mit der Findung einer Mehrheit im Parlament beauftragt. In der Grünen Fraktion haben wir ein hartes öffentliches Hearing mit Juncker durchgeführt. Nach der Vorstellung seines Programms in den Fraktionen und in seiner heutigen Plenarsitzung hat er dabei als Kandidat überzeugt. Er hat viele Punkte unserer Grünen Programmatik aufgenommen, auch aus dem öffentlichen Hearing. All das ist ein großer Schritt in Richtung einer Europäischen Demokratie!
Nun die konkreten Gründe:
1) Eine Wahl von Jean-Claude Juncker, den das Parlament erst gegen die Widerstände einiger Regierungschefs wie David Cameron und Victor Orban durchsetzen musste, galt bis zuletzt nicht als 100%ig sicher. Denn Abweichler aus den beiden großen Fraktion mehrten sich – unter anderem hatte Silvio Berlusconi darauf hingewirkt, dass die Abgeordneten seiner Partei in der EVP-Fraktion für ein Nein werben. Wäre es zu einer Ablehnung Junckers oder auch nur einem schwachen Ergebnis gekommen, wäre nicht nur der Integrationsfortschritt der Benennung des Kommissionspräsidenten im Rahmen der Wahlen zum EP verloren gegangen, sondern es wäre Wasser auf die Mühlen der falschen Apostel der Renationalisierung und des Nationalsmus.
2) In seinem vorgelegten Programm sind zahlreiche Grüne Kernforderungen gegen starke Widerstände aus der EVP und auch aus den Fraktionen der Liberalen und Sozialdemokraten aufgenommen worden. Deutlich mehr als es unserem Stimmengewicht im Europaparlament entspricht. So fordert Juncker zum Beispiel überraschenderweise ein verpflichtendes öffentliches Register aller Lobbyisten in allen EU-Instututionen und die Schaffung voller Transparenz. Etwa auch bei Verhandlungen, wie etwa über TTIP, dessen Scheitern er andernfalls in Aussicht stellte. Zudem legte er mit Blick auf TTIP ausführlich dar, dass nicht über EU-Standards beim Datenschutz verhandelt werden und auch in den Bereichen Umwelt, Verbraucherschutz und Gesundheit keine Absenkung stattfinden dürfe. Private Schiedsgerichte lehnte er klar ab. Natürlich teilen wir seine grundsätzliche Unterstützung von TTIP nicht und engagieren uns weiter für den Stopp dieses Handelsabkommens. Ebenso kritisieren wir sein ausbaufähiges ökologisches Profil.
Mit Blick auf die Regeln des digitalen Marktes legte er ambitionierte Ziele bei Datenschutz, Urheberrecht und Netzneutralität vor. Bei der Steuerpolitik sprach er sich für eine Mindestbesteuerung bei den Unternehmenssteuern aus und kündigte Maßnahmen zur Bekämpfung des Steuerbetrugs an. Bei all diesen Zusagen wollen wir ihn glaubwürdig zur Verantwortung ziehen können.
3) Seine Rede war gekennzeichnet von einem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Er versprach eine große Investitionsanstrengung mit Investitionsprogramm in Zukunftssektoren. Dabei legte er besonderen Wert auf den Ausbau Erneuerbare Energien und sprach sich für verbindliche Energieeffizienzziele aus. Das ist ein anderer Juncker als der Meister der Hinterzimmer der Eurogruppe.
4) Unsere Unterstützung für Juncker als Kommissionspräsident ist keine automatische Unterstützung für die neue EU-Kommission als Ganzes. Die Anhörungen der Kandidatinnen und Kandidaten für die einzelnen Kommissarposten mit ihren jeweils vorgeschlagenen Zuständigkeiten werden wir kritisch begleiten und nötigenfalls auch bei der Bestätigung ein Nein zur vorgeschlagenen Kommission in Betracht ziehen.
5) Wir wollen in den nächsten fünf Jahren auch über die EU-Kommission Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nehmen. Grüne Stimmen für Juncker sind dafür ein Türöffner. Wir wollen die Kommission nicht der angeblichen Großen Koalition überlassen. Gleichzeitig wurden wir zu einer solchen Koalition weder eingeladen noch glauben wir, dass sie gut für Europa wäre. Für Juncker zu sein, ist daher keine Unterstützung für die angebliche Große Koalition in Rat und Europaparlament.
Wir können die Beweggründe all derer, die gegen Juncker als Kommissionspräsident gestimmt haben, gut nachvollziehen und sehen es nicht als Problem sondern als Chance, dass die Grüne Europafraktion mit einem durchmischten Abstimmungsbild aus der Wahl über den Kommissionspräsidenten heraus geht. Es zeigt, dass wir alle gemeinsam Licht und Schatten bei der Personalie Juncker sehen, den wir als Europäische Grüne einst selbst als Alternative zu Jose Manuel Barroso ins Spiel gebracht hatten. Wir stehen klar hinter dem institutionellen Fortschritt für die europäische Demokratie und sind für eine konstruktive und kritische Zusammenarbeit an den konkreten Aufgaben der kommenden fünf Jahre bereit. Dennoch machen wir uns als Fraktion nicht mit der Politik der Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im EP gemein, sondern gehen unseren eigenen Grünen Weg.
In diesem Sinne wollen wir mit Euch weiterhin für ein Grünes Europa und Mehrheiten für unsere Forderungen im Europäischen Parlament streiten.
Eure
Sven & Jan