Die EU-Kommission hat heute, am 21. April 2021, den lange erwarteten ersten Delegierten Rechtsakt zur Taxonomie-Verordnung vorgestellt. Der Delegierte Rechtsakt regelt, welche Kriterien wirtschaftliche Aktivitäten erfüllen müssen, um in der Taxonomie als nachhaltig im Hinblick auf Klimaschutz bzw. die Anpassung auf den Klimawandel gelten zu dürfen. Zwischenzeitlich hatte die Kommission erwogen, auf Druck der Mitgliedstaaten viele der harten wissenschaftsbasierten Kriterien aufzuweichen. Der heute vorgestellte Entwurf geht nicht so weit wie zuletzt befürchtet. Die geplante Berücksichtigung von fossilem Gas als Übergangstechnologie sowie der gesamte Bereich der Agrarwirtschaft werden vorerst ausgeklammert. Stattdessen will die Kommission noch dieses Jahr eine Erweiterung des Delegierten Rechtsakts vorlegen, welche die Bereiche Agrar, fossiles Gas und Atomkraft regelt. Für letztere hat die Kommission angekündigt, sich an die kürzlich fertiggestellte Empfehlung des Joint Research Centers (JRC) zu halten. Die Experten kamen darin zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass Atomenergie trotz des Mülls die Umweltziele der Taxonomie nicht wesentlich beeinträchtigen würde. Das JRC wurde im Rahmen der EURATOM-Gründung in den 50er-Jahren als nukleare Forschungseinrichtung ins Leben gerufen und sollte ursprünglich “Plutonium-Institut” heißen.
Vor allem in den Bereichen Bioenergie und Forstwirtschaft ist die Kommission den Forderungen der skandinavischen Staaten nachgekommen und hat die Kriterien deutlich abgeschwächt. Diese orientieren sich nun insbesondere an den Kriterien der zweiten Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Diese gelten unter Experten im Hinblick auf Bioenergie als nicht nachhaltig und sollen im Sommer im Rahmen des Europäischen Green Deal überarbeitet werden. Die Kommission hat angekündigt, eventuelle Anpassungen anschließend in die Taxonomie übertragen zu wollen.
Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament, erklärt:
“Die ganz große Katastrophe wurde vertagt. Ein Nachhaltigkeitslabel für fossiles Gas hätte das europäische Sustainable-Finance-Projekt in eine dramatische Glaubwürdigkeitskrise gestürzt. Es droht ein gefährliches Greenwashing von Finanzprodukten. Das wäre eine weitere Untergrabung des europäischen Green Deals.
Für uns Grüne sowie nachhaltige Finanzwirtschaft und Wissenschaft ist es ein großer Erfolg, dass dies vorerst verhindert wurde. Doch das Desaster ist nur verschoben. Die Kommission hat angekündigt, noch dieses Jahr neue Regeln für fossiles Gas und Atomkraft vorzuschlagen. Ein Nachhaltigkeitslabel für Atomkraft würde die Glaubwürdigkeit der Taxonomie irreparabel beschädigen. Die Technical Expert Group on Sustainable Finance hatte letztes Jahr klargestellt, dass Atomenergie in der Taxonomie nichts zu suchen hat. Doch die Kommission will sich an die gegenteilige Empfehlung des Joint Research Centres halten, das bei seiner Gründung im Rahmen des EURATOM-Vertrags in den 50er-Jahren noch “Plutonium-Institut” heißen sollte. Das ist ein schlechter Witz. Verantwortlich für diese Positionierung ist vor allem Frankreichs Regierung. Aber auch die deutsche Bundesregierung hat sich nicht konsequent gegen Gas und Atomenergie in der Taxonomie eingesetzt.
Der Schaden ist schon jetzt immens. Laut Gesetz sollen sich die Taxonomieregeln strikt am Stand der Wissenschaft orientieren, um dem Greenwashing im Sustainable-Finance-Bereich ein Ende zu setzen. Die Führung der EU-Kommission hätte sich darauf berufen und einfach die Empfehlungen der Technical Expert Group umsetzen können. Stattdessen öffnete sie die Tür für die Partikularinteressen der Mitgliedstaaten und deren Industrielobbies. Damit signalisierte die Kommission: Die Taxonomie ist offen für politische Sonderinteressen. Dieses Vorgehen hat die Glaubwürdigkeit der Taxonomie nachhaltig beschädigt. Schon jetzt muss sich die Finanzindustrie fragen, ob nicht privatwirtschaftliche Initiativen doch die bessere Alternative sind.
In vielen Punkten hat die EU-Kommission die wissenschaftlichen Empfehlungen erheblich aufgeweicht. Mit laxen Vorgaben zu Bioenergie und Forstwirtschaft will sich die Kommission die Zustimmung von Finnland und Schweden erkaufen. Das Verbrennen praktisch jeder Form von Biomasse sowie die nicht nachhaltige Bewirtschaftung von Wäldern dürfen damit als nachhaltig gelten. Hier braucht es schnell eine Überarbeitung. Sobald in der dritten Erneuerbare-Energien-Richtlinie oder der kommenden Wald-Strategie ambitioniertere Standards vereinbart sind, müssen diese auch auf die Taxonomie übertragen werden.
Für den Europäischen Green Deal verheißt der heutige Tag nichts Gutes. Die Kommission hat es nicht einmal geschafft, die eher harmlosen Transparenzregeln der Taxonomie glaubhaft an den Pariser Klimazielen auszurichten. Es ist unklar, wie eine so schwache Kommission die wirklich einschneidenden Maßnahmen für den nachhaltigen Umbau von Automobilwirtschaft, Bauindustrie oder Chemie durchsetzen will. Nach der Überarbeitung der Gemeinsamen Agrarpolitik ist die Taxonomie bereits das zweite Gesetzesvorhaben, bei dem die EU-Kommission die selbstgesteckten Ziele ihres Green Deals krachend verfehlt. Bei der Taxonomie kann sich bis zum Sommer jedoch noch ökologische Vernunft durchsetzen. Jetzt gilt es: Rettet den Green Deal!”
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Meine Eil-Petition “Retten den Europäischen Green Deal!”:
Offener Brief von 250+ Expert*innen aus dem Sustainable-Finance-Bereich für glaubwürdige Regeln in der Taxonomie:
Mein Brief an die EU-Kommission zur geplanten Aufweichung der Taxonomie-Regeln:
https://groenlinks.nl/sites/groenlinks/files/2021-03/letter-gas-taxonomy.pdf
Gesetzesvorschläge der EU-Kommission zur Taxonomie und der Corporate Sustainability Reporting Directive:
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_1804
Ausführliche Dokumentation der strukturellen Ausrichtung pro Atomkraft des Joint Research Centres durch Greenpeace:
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Hintergrund: Taxonomie
Eigentlich hätte die Kommission den Delegierten Rechtsakt bereits Ende 2020 vorlegen sollen, verschob die Veröffentlichung dann aber angesichts massiver Lobbybemühungen der Mitgliedstaaten. Während einige osteuropäische Staaten eine stärkere Rolle für fossiles Gas als Übergangstechnologie forderten, setzten sich die skandinavischen Staaten für laxere Regeln bei Forst- und Agrarwirtschaft sowie Bioenergie ein. Zudem pochte Frankreich auf eine Berücksichtigung von Atomkraft.
Wie geleakte Entwürfe der EU-Kommission im März zeigten, erwog die Kommission zwischenzeitlich, auf etliche dieser Forderungen einzugehen und damit weit von den wissenschaftlichen Empfehlungen abzuweichen, die die Technical Expert Group on Sustainable Finance (TEG) abgegeben hatte. Dies provozierte massiven Widerstand aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Mehrere Mitglieder der Platform on Sustainable Finance, dem Nachfolgegremium der TEG, drohten mit ihrem Austritt, falls die geplante Aufweichung kommen sollte. Zuletzt stütze auch das Führungsteam der Plattform diese Position und ermahnte die Kommission, sich, wie gesetzlich gefordert, bei den Taxonomiekriterien am Stand der Wissenschaft zu orientieren.
Der heute von der Kommission vorgelegte Delegierte Rechtsakt kann weder vom Parlament noch von den Mitgliedstaaten abgeändert werden. Beide können ihn jedoch mit einer qualifizierten Mehrheit stoppen.