Sven Giegold

Liberale und Grüne fordern große Reform der Wirtschaftsprüfung

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Interessierte,

angesichts des massiven Bilanzskandals beim deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard haben Luis Garicano und ich als liberale und grüne Koordinatoren im ECON-Ausschuss gemeinsame Forderungen für eine Reform der EU-Regeln für die Wirtschaftsprüfung veröffentlicht. Unser gemeinsamer Text findet sich unten.

Mit Europäischen Grüßen,
Sven Giegold

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Gemeinsamer Aufruf von Luis Garicano (Renew Europe) und Sven Giegold (Bündnis 90/Die Grünen):

In den vergangenen Tagen ist ein massiver Bilanzskandal beim deutschen Zahlungsdienstleister Wirecard ans Licht gekommen. Viele Details sind noch unklar, aber eines hat das Unternehmen bereits bestätigt: 1,9 Milliarden Euro, etwa ein Viertel seiner Bilanzsumme, haben wahrscheinlich nie existiert. Dem Unternehmen werden seit langem Unregelmäßigkeiten in der Rechnungslegung und Unternehmensführung vorgeworfen, es hat jedoch stets alle Vorwürfe bestritten. Die kritische Berichterstattung erreichte 2019 einen ersten Höhepunkt, nachdem die Financial Times über zweifelhafte Bilanzierungspraktiken der Wirecard-Niederlassung in Singapur und fragliche Umsätze mit einem in Dubai ansässigen Partnerunternehmen berichtet hatte. Die Vorwürfe zwangen Wirecard, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer Sonderprüfung zu beauftragen. Doch anstatt Wirecard zu entlasten, offenbarte der im April dieses Jahres veröffentlichte Prüfbericht erhebliche Mängel und stellte frühere Aussagen zum Geschäft mit internationalen Drittparteien in Frage. Schließlich weigerte sich Wirecards Abschlussprüfer EY (ehemals Ernst & Young) am vergangenen Freitag, den Jahresabschluss des Unternehmens für 2019 zu testieren.

Die Entwicklungen, die zu diesem Skandal geführt haben, wecken große Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit bestehender Kontrollmechanismen. Vor gut einem Jahr hat EY Wirecards Jahresabschluss für 2018 testiert, ohne auf ernsthafte Probleme hinzuweisen. Trotz der seit langem erhobenen Vorwürfe konnten die Ermittlungen der deutschen Finanzaufsichtsbehörde BaFin, die Wirecards deutsche Banktochter beaufsichtigt, die gravierenden Probleme nicht aufdecken. Stattdessen erstattete die BaFin im April 2019 in einem bemerkenswerten Affront gegen die Pressefreiheit Anzeige wegen angeblicher Marktmanipulation gegen die beiden Journalisten der Financial Times, die über die Bilanzierungspraktiken in der Niederlassung in Singapur berichtet hatten.

Eine effektive und verlässliche Rechnungslegung ist für das Funktionieren der Finanzmärkte unerlässlich. Wirtschaftsprüfer spielen eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer erfolgreichen europäischen Kapitalmarktunion. Der europäische Gesetzgeber sollte den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften einen passenden gesetzlichen Rahmen bieten, damit sie diese Rolle konsequent erfüllen können.

Wirecard ist nur der jüngste in einer langen Geschichte von Bilanzskandalen. Die Schwächen und Probleme, die im aktuellen Fall aufgedeckt wurden, sind seit langem bekannt. Es ist nun an der Zeit, sie endlich anzugehen.

Deshalb fordern wir:

  1. Wir werden dem Europäischen Parlament vorschlagen, eine Anhörung zum Wirecard-Skandal durchzuführen. Es sollte untersucht werden, ob die aufsichtsrechtliche Kontrolle durch alle beteiligten Behörden, insbesondere durch die deutsche Finanzaufsichtsbehörde BaFin und die europäischen Aufsichtsbehörden ESMA und EBA, effektiv und angemessen ausgeübt wurde. Wir werden auch vorschlagen, die wichtigsten Journalisten einzuladen. Funktionierende Aufsichtssysteme sind für eine erfolgreiche Kapitalmarktunion unerlässlich.
  2. Wir fordern die Europäische Kommission auf, die Abschlussprüfungsrichtlinie so bald wie möglich zu überprüfen, um die inhärenten Fehlanreize bei der Abschlussprüfung zu beseitigen. Solche Anreize entstehen, weil die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften von den geprüften Unternehmen ausgewählt und bezahlt werden. Als Kunden können die geprüften Unternehmen ihre eigenen Prüfer frei berufen und entlassen. Darüber hinaus sind alle großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften auch in der Beratung tätig und verkaufen Beratungsleistungen an geprüfte Unternehmen. Infolgedessen haben die Wirtschaftsprüfungsfirmen starke Anreize, ihre Kunden zufrieden zu stellen, statt eine effektive Kontrolle auszuüben.
  3. Wir fordern die Europäische Kommission auf zu untersuchen, ob oligopolistische Strukturen auf dem Wirtschaftsprüfungsmarkt die wirksame Ausübung von Kontrolle behindern. Zu viel Einfluss konzentriert sich auf die „Big Four“, die vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die den Markt dominieren. Kleine und mittelgroße Wirtschaftsprüfer brauchen ein günstiges regulatorisches Umfeld, um mehr Wettbewerb möglich zu machen.

Luis Garicano, Renew ECON-Koordinator
Sven Giegold, Grüner ECON-Koordinator

 

MdEP Sven Giegold (Bündnis 90/Die Grünen), Koordinator der Grünen im Ausschuss für Wirtschaft und Währung:

Wir müssen die falschen Anreize für Abschlussprüfer beenden. Die EU-Regeln für die Abschlussprüfung müssen so geändert werden, dass Abschlussprüfer nicht mehr direkt vom geprüften Unternehmen ausgewählt und bezahlt werden. Prüfungsgesellschaften und Beratungsgeschäft müssen vollständig getrennt werden.

MdEP Luis Garicano (Ciudadanos, Spanien), Koordinator von Renew Europe im Ausschuss für Wirtschaft und Währung:

Der vielleicht beunruhigendste unter den vielen beunruhigenden Aspekten in diesem Fall ist der Versuch der deutschen Aufsichtsbehörden und Staatsanwälte, den Überbringer schlechter Nachrichten zu bestrafen. Im Gegensatz zu den Aufsichtsbehörden Singapurs, die eine Untersuchung von Wirecards Rechnungslegung einleiteten, entschieden sich die deutschen Behörden, gegen Journalisten zu ermitteln. Die Aufdeckung von Finanzdelikten in unseren Ländern sollte keinen Heldenmut erfordern, und dennoch bedurfte es in diesem Fall nichts weniger als solchen Heldenmut aufseiten der Investigativjournalisten der Financial Times, um diese Recherche durchzuführen.

Rubrik: Europaparlament, Wirtschaft & Währung

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