Der Sprecher von Bündnis90/Grüne im Europaparlament, Sven Giegold, kritisert die Bundesregierung im cicero-Interview scharf. Die deutsche Grexit-Drohung sei ein Bruch mit dem Grundgesetz und habe viel Vertrauen zerstört. Giegold warnt vor einer Entdemokratisierung in Europa und rät der SPD, ihr Verhältnis zu Europa zu klären
Herr Giegold, die Eurogruppe hat sich am Morgen endlich mit Griechenland geeinigt, ein Kompromiss liegt vor. Würden Sie dem dritten Hilfspaket zustimmen?
Als Mitglied des Europaparlaments habe ich diese Entscheidung nicht zu treffen. Aber was ich dazu denken soll, da bin ich, ehrlich gesagt, noch sehr mit mir am Ringen. Klar ist: Die Einigung hat Europas Einheit vorerst gewahrt, aber die europäischen Grundwerte sind schwer beschädigt.
Sie haben den Forderungskatalog noch während der Verhandlungen sogar als „Folterinstrument“ bezeichnet. Warum?
Wenn Sie sich anschauen, was von Griechenland gefordert wird, dann ist das die Wiederholung alter Fehler: starke Rentenkürzungen, weitere Steuererhöhungen, die automatische Kürzung von Ausgaben, wenn Einnahmeziele nicht erreicht werden. Das bedeutet doch, dass man die Wirtschaft noch tiefer in die Rezession zieht, wenn es zum Abschwung kommt. Ich könnte die Liste weiter fortsetzen.
Aber was ist so falsch daran, dass das griechische Statistikbüro Elstat unabhängig wird?
Gar nichts. Das sollten wir in Deutschland auch machen. Viele Reformen sind richtig. Was ich etwa positiv finde, ist die weitere Öffnung von Produkt- und Dienstleistungsmärkten. Wofür ich überhaupt kein Verständnis habe, ist, ein anderes Land zur Lockerung der Ladenöffnungszeiten am Sonntag zu zwingen. Das ist eine Form von Fremdbestimmung. Und wenn neue Gesetze der Troika vorab zur Genehmigung vorgelegt werden müssen, bevor sie überhaupt von der griechischen Öffentlichkeit oder gar vom Parlament beraten werden dürfen, dann ist das staatliche Entmündigung, keine Europäische Demokratie. Ich fürchte, diese Forderungsliste wird von Griechenland als deutsche Zuchtmeisterei empfunden werden. Auch für mich ist es beschämend: Europäische Länder entdemokratisieren sich gegenseitig.
Aber die Eurogruppe möchte die Parlamente einbeziehen. Bis Mittwoch sollen die Abgeordneten in Athen abstimmen. Ist das nicht demokratisch?
Wie viel Demokratie existiert, wenn Sie vor die Wahl zwischen Ruin oder Unterwerfung gestellt werden? Natürlich hat die Tsipras-Regierung durch ihre unerträglichen Manöver in den vergangenen Wochen zu ihrer desaströsen Lage entscheidend beigetragen. Aber die Frage ist doch, wie geht man in Europa damit um, wenn jemand am Boden liegt? Wenn jemand am Boden ist, tritt man nicht nach. So stelle ich mir Europa jedenfalls nicht vor.
Ist das denn „nachtreten“, wenn man 80 Milliarden lockermacht?
Die 80 Milliarden werden ja im Wesentlichen verwendet, um Schulden der Partner zu tilgen. Das ist kein Geschenk. Das ist die Erhaltung der Zahlungsfähigkeit der bisherigen Schulden plus die Bankenrekapitalisierung. Wobei sich die Bankenrekapitalisierung durch die Privatisierung der Banken auch refinanzieren wird, sofern die griechische Wirtschaft durch das ganze Paket wieder auf die Beine kommt. Hier geht es nicht um Hilfszahlungen, sondern um die Aufrechthaltung der Finanzierung der Auslandsschulden.
Aber wenn Griechenland seine Schulden nicht wegkriegt, wird es auch nie einen Wirtschaftsaufschwung geben.
Es geht nicht darum, die Schulden wegzukriegen, sondern zu bedienen. Damit verhindert Griechenland einen Staatskonkurs.
Selbst DIW-Präsident Marcel Fratzscher nennt das jetzt geplante dritte Hilfsprogramm „mehr als großzügig für Griechenland“.
Es ist nicht großzügig. Es ist teuer – vor allem, weil es eine lange Laufzeit hat. Damit werden Schulden gestreckt. Großzügig ist es nicht, weil es ein sozialer und demokratischer Kahlschlag ist.
Sie haben Wolfgang Schäuble, der einen Grexit als „Auszeit“ für Griechenland am Wochenende kurzzeitig ins Spiel gebracht hatte, stark kritisiert. Ist es aber nicht normal, in Verhandlungen auch mit einer Alternative zu drohen? Um ein Ergebnis zu erreichen?
Wer unter Bruch des Grundgesetzes mit solchen Positionen verhandelt, macht sich auf Dauer Feinde. Diese Verhandlungsposition wurde von der Bundesregierung in Europa eingebracht, ohne vorher dem Bundestag Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben. Für diesen Verhandlungsstil wird man noch schwer bezahlen. In diesen Tagen sind zwei Konstanten der deutschen Außenpolitik verletzt worden: die enge Abstimmung bei wichtigen Fragen mit Paris und die transatlantische Kooperation. Frankreich und die USA waren gegen den Grexit. Die deutsche Grexit-Drohung hat viel Vertrauen zerstört.
Dass die Hardliner in der CDU und CSU dafür gesorgt haben, die Verhandlungslinien von Merkel und Schäuble zu verhärten, ist klar. Was ich nicht verstanden habe: warum Sigmar Gabriel, der doch das Greixt-Papier kannte, nicht sein Veto eingelegt hat.
Am Ende sagte Gabriel, dass er den Grexit nicht mitträgt.
Nachdem der interne Druck sehr groß wurde. Aber wie viel Vertrauen hat er zerstört, indem er dem nicht früher Einhalt geboten hat? Am Samstagabend kannte Herr Gabriel das Papier noch, am Sonntag wollte er nichts mehr davon wissen. Vizekanzler Gabriel ist heillos überfordert. Ich finde, dass die SPD ihr Verhältnis zu Europa und ihren Beitrag zur Lösung der Krise klären muss. Sie hat jedenfalls Schäuble überlassen, die harte Linie zu diktieren.
Selbst Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat den Griechen „Macho-Verhandlungen“ vorgeworfen und gesagt: „Mich nervt die Weigerung, Reformen anzugehen, die für eine linke Regierung selbstverständlich sein müssten.“
Ich habe Herrn Tsipras und seine Regierung auch seit Monaten immer wieder kritisiert – weil er Korruption und Steuerflucht nicht angeht, große Vermögen nicht besteuert. Aber es ist doch ein Unterschied, ob ich unter Partnern sage, was mir nicht gefällt, oder ob ich in Verhandlungen mit einem Grexit drohe. Das ist Erpressung. Also, dieser Vergleich hinkt. Genervt zu sein, rechtfertigt nicht den Verhandlungsstil der Bundesregierung.
Die Zeitung „The Australian“ sprach sogar von einer „diktierten Vereinbarung“ und verglich diese mit dem Versailler Vertrag: „Dieser führte zum 2. Weltkrieg.”
Ein Versagen in dieser Krise ist die kriegsähnliche Rhetorik vieler Akteure. Die meisten historischen Vergleiche sind nicht haltbar. Aber etwas anderes hat mich besorgt: Der Privatisierungsfonds erinnert die Griechen an die osmanische Zeit und den Umgang mit Vermögen in dieser Zeit der Besatzung. Das ist fatal, weil Europas Werte dabei dauerhaft Schaden nehmen. Auch wenn Tsipras die Geduld aller Euroländer strapaziert hat: Das ist das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn – und nicht das Prinzip, auf das Europa gebaut wurde. Es waren auch nicht die Europäischen Institutionen – EU-Kommission, Parlament und EZB, die so vorgegangen sind. Sie hatten sichtbar das gesamteuropäische Interesse im Auge und nicht nur den nationalen Stammtisch.
Was wäre denn so schlimm an einem Grexit gewesen?
Erstens würde es in Griechenland eine ungeordnete Währungsumstellung geben. Dafür gibt es in der Geschichte nur wenige Beispiele, und die führten zu sehr tiefen sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Zweitens bedeutet das für die Griechen eine Entwertung all ihrer Ersparnisse. Sie wären zurückgeworfen auf eine unsichere Währung. Das wiederum würde das Land an den Märkten zu einer dauerhaften Instabilität verdammen. Drittens würde ein Grexit den Euro auf Dauer zur Schönwetterwährung machen. Denn bei der nächsten Krise in einem anderen Land würden sich die Anleger wieder fragen: Wird die Währung erhalten bleiben? Es käme zur Kapitalflucht und zu einer Erhöhung des Zinsniveaus in den ökonomisch wackligen Euroländern, was fatal wäre für Stabilität der Währung. Deswegen sind ja Italien, Spanien und Frankreich so stark gegen den Grexit gewesen. Und viertens würde Deutschland noch mehr seiner Kredite nicht mehr wiedersehen. Daher ist ein Grexit auch schlecht für den deutschen Steuerzahler.
Was empfehlen Sie denn nun?
Dieser ganze Verhandlungspoker hat wieder gezeigt: Wir können EU-Politik nicht in immer weiteren, nächtlichen Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen machen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik. Es gab bereits einen vorsichtigen Reformvorschlag der fünf Präsidenten von Kommission, Rat, Parlament, EZB und Eurogruppe. Doch den haben die Staats- und Regierungsschefs einfach zu den Akten gelegt. Das war falsch. Ich wünsche mir von der Bundesregierung ein ganz klares Bekenntnis zu einer demokratischen Vertiefung der EU und der Eurozone. Denn ohne diese Vertiefung wird das Gewürge immer weitergehen.
Das Interview führte Petra Sorge