Das Schweigen zu Europa verunsichert unsere Partner
Ein Beitrag von Sven Giegold und Daniel Freund
26. September. 18 Uhr. Auf den Bildschirmen wachsen die bunten Balkendiagramme nach oben. Ganz Deutschland verfolgt gebannt die aktuellen Hochrechnungen zur Bundestagswahl. Ganz Deutschland? Nein. Nicht nur. Am kommenden Sonntag wird ganz Europa nach Berlin schauen. Denn die Wählerinnen und Wähler entscheiden nicht nur, wer in Deutschland stärkste Kraft wird und ins Kanzleramt einzieht. Sie bestimmen auch, welchen Kurs das größte und mächtigste Mitgliedsland der Europäischen Union nach 16 Jahren Angela Merkel für den Kontinent einschlagen wird.Und trotzdem ist Europa in diesem Wahlkampf bei den meisten Parteien nur ein Randthema. Millionen Zuschauer verfolgten die ersten beiden Trielle zwischen Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz. 200 Minuten Debatte zu Koalitionspartnern, Klima und Corona – der europapolitische Fahrplan der/des künftigen Chef*in im Kanzleramt spielte hingegen keine Rolle. Die Beobachter in Brüssel und den europäischen Hauptstädten werden ungeduldig. Denn sie wissen, dass wir weder bei Klima und Energie, noch bei Migration und Werten vorankommen, ohne dass Berlin mit voller Kraft den Wandel vorantreibt. Und auch in Deutschland sind sich nur wenige bewusst, welche europapolitischen Konsequenzen das eigene Kreuz am Wahltag hat. Wer ist der mächtigste Verkehrspolitiker der Europäischen Union? Andreas Scheuer. Wer ist die einflussreichste Agrarpolitikerin? Julia Klöckner. Deutsche Ministerinnen und Minister gestalten im Rat der Europäischen Union Gesetze, die maßgebliche Auswirkungen auf den Alltag von rund 450 Millionen Europäerinnen und Europäern haben.
Unter Merkel wurde Deutschland nur aktiv, wenn es brannte
Die Verantwortung der deutschen Bundesregierung beginnt nicht bei deutschen Windrädern und hört auch nicht bei bei deutschem Kohlestrom auf. Von der neuen Hausherr/in im Kanzleramt wird nichts geringeres als ein Aufbruch für ganz Europa erwartet. 16 Jahre lang hat Angela Merkel mit ihrer Politik des Verwaltens und Abwartens den Kontinent geprägt. Europapolitisch aktiv wurde Deutschland nur dann, wenn es brannte. Man hangelte sich von Eurokrise zu Flüchtlingskrise ohne die Konstruktionsfehler der Europäischen Union anzugehen. Eine Vision? Ein Projekt? Einen Aufbruch für Europa anführen? Fehlanzeige. Wollten andere vorangehen – wie Frankreichs Präsident Macron – ließ man sie im Regen stehen.
Das Resultat ist ein Europa, in dem die Integration auf halbem Wege stecken geblieben ist. Ein Europa, dem Werkzeuge, Geld und Zuständigkeiten fehlen, sodass schnelle und konsequente Antworten auf eine Pandemie, auf Migration, auf eine Krise des Rechtsstaats zu langsam, zu spät oder gar nicht kommen.
Gefährliche Narrative der Union
Mit dem bevorstehenden Wechsel an der Spitze der deutschen Bundesregierung muss endlich ein neuer Impuls – eine neue Vision für Europa einhergehen. 17 Jahre nach der Osterweiterung dürfen wir in Europa nicht mehr nur den kleinsten gemeinsamen Nenner ausloten. In einer Welt, die sich immer schneller verändert, in der die populistischen Fliehkräfte weiterhin stark sind, ist das Festhalten am Status Quo gefährlich.
Wie wir unser Europa verantwortungsvoll, aber doch entschieden voranbringen wollen, darüber gehen zumindest die Wahlprogramme von Grünen, SPD und Union weit auseinander. Eine echte Debatte findet jedoch nicht statt. Das ist gefährlich. Denn es gibt jenen Rückenwind, die Europa zum finanziellen Fass ohne Boden verklären wollen und billige Ressentiments von angeblich faulen Süd- und Osteuropäern schüren. Wohin das führen kann, haben wir 2016 in Großbritannien beobachten müssen. Das Narrativ vom deutschen Zahlmeister in Europa ist veraltet. Das Festhalten an Schwarzen Nullen mitten in einer Klimakrise ist verantwortungslos gegenüber der jungen Generation und unsolidarisch gegenüber unseren Partnern.
Ein neuer Impuls von Europa
Widmen wir uns den Fragen, die die Menschen wirklich umtreiben! Wie können wir garantieren, dass in der nächsten Krise Grenzen offen bleiben und die Solidarität europäischer Partner vor nationalen Alleingängen steht? Wie können wir gemeinsam einen Ausweg aus einer Klimakatastrophe finden, die eben nicht an den Landesgrenzen halt macht? Können wir dieser Generationanaufgabe mit Spardiktaten beikommen oder investieren wir endlich mutig in die Zukunft? Und wie gehen wir damit um, wenn einer wie Viktor Orban eine autokratische Herrschaft aufbaut und trotzdem weiter EU-Gelder kassiert?
All dies sind Themen, die in ihrer europäischen Dimension in den wichtigsten Debatten dieses Wahlkampfes nicht zur Sprache gekommen sind. Europa darf kein gut gemeintes Lippenbekenntnis sein. Europa muss mit zukunftsweisender Politik jeden Tag aufs neue gestaltet werden. Die Bundestagswahl 2021 wird eine der bedeutendsten demokratischen Abstimmungen in Europa seit Jahren. Die Wählerinnen und Wähler – aber eben auch die Bürgerinnen und Bürger Europas – haben es verdient zu erfahren, in welche Zukunft Deutschland die Europäische Union steuern wird.