In leisen aber deutlichen Tönen hat EU-Steuerkommissar Semeta die bilateralen Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland sowie Großbritannien juristisch zerpflückt. Als Antwort (1) auf die vom Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europaparlaments einvernehmlich beschlossene mündliche Frage (2) äußerte der Kommissar drei zentrale Einwände.
Erstens, entspricht der Abgeltungssteuersatz von 26,375% nicht dem im EU-Schweiz-Abkommen über Zinserträge (3) festgelegten Quellensteuersatz von 35%.
Zweitens, sind die im Deutsch-Schweizer Abkommen festgelegten Quellensteuern endgültig abgeltend, während das EU-Schweizer Abkommen (3) mit der Quellensteuer lediglich eine Vorabzahlung vorsieht.
Drittens, dürfen bilaterale Abkommen keine Rechtbereiche regeln, die bereits durch das EU-Schweiz-Zinssteuerabkommen (3) abgedeckt sind.
Dazu erklärt Sven Giegold, Initiator der ECON-Frage und Sprecher der Grünen im Europaparlament für Finanz- und Wirtschaftspolitik:
„Die Antwort der Kommission ist eine starke Verteidigung Europäischen Gemeinschaftsrechts gegen nationale Sonderwege. Es ist damit eine Ohrfeige für Finanzminister Wolfgang Schäuble, der sonst immer für mehr Europäische Integration eintritt. Selbst wenn die Kommission sich noch nicht endgültig festgelegt hat: Die juristischen Argumente sind gewichtig. Das Deutsch-Schweizer-Abkommen greift in bestehende bilaterale Verträge ein und ist in zentralen Punkten schwächer. Daraus muss die Bundesregierung nun die Konsequenz ziehen und das paraphierte, aber noch nicht ratifizierte Steueramnestieabkommen mit der Schweiz zurückziehen. Sonst begeht Deutschland einen europäischen Rechtsbruch und riskiert ein Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission. Ich werde sorgsam darüber wachen, dass die EU-Kommission hier keine falsche Rücksicht nimmt. Das Ziel muss eine gleichmäßige Besteuerung von Zinseinkünften in der gesamten EU auf Basis des automatischen Informationsaustauschs sein. Schäuble sollte seine Energie lieber mit denen der europäischen Partner bündeln, um dieses gemeinsame Ziel baldmöglichst zu erreichen.“
Anmerkungen:
(1) Antwort der EU-Kommission auf die mündliche Frage, vorgetragen durch Kommissar Semeta am 25. Oktober 2011 im Plenum des Europaparlaments
(2) Mündliche Frage des Ausschuss für Wirtschaft und Währung
Presseschau dazu:
EU kritisiert Abkommen mit Schweiz
Bedenken aus Brüssel stützen Schäubles deutsche Kritiker
Mark Schrörs, Brüssel. Die EU-Kommission hat erstmals Bedenken am Steuerabkommen zwischen Deutschland und der Schweiz geäußert. Steuerkommissar Algirdas Semeta sagte gestern vor dem EU-Parlament zwar, dass die Kommission das Abkommen weiter prüfe. Bei einzelnen Punkten ließ er aber Zweifel erkennen.
Semeta verwies darauf, dass die vereinbarte Quellensteuer von rund 26 Prozent unterhalb des Satzes von 35 Prozent liege, die in einem Abkommen zwischen der EU und der Schweiz verankert ist. Zudem erscheine die zwischen Deutschen und Schweizern verabredete Steuer endgültig, während das EU-Schweiz-Abkommen eine Vorabzahlung vorsehe. Die deutsch-schweizerische Lösung sei im Kampf gegen Steuerflucht womöglich „weniger effizient“.
Semetas Aussagen sind Wasser auf die Mühlen der Kritiker des Abkommens. Die SPD kritisiert es als Ablasshandel und droht mit einer Blockade im Bundesrat. Der Finanzexperte der Grünen im EU-Parlament, Sven Giegold, warnte davor, dass es den gemeinsamen Kampf Europas gegen Steuerhinterziehung unterlaufe.
Deutschland und die Schweiz hatten sich Mitte August auf ein Steuerabkommen geeinigt. Demnach müssen Deutsche zwar künftig für Kapitalerträge und -gewinne in der Schweiz genauso wie in der Heimat eine Abgeltungsteuer inklusive Solidaritätszuschlag von gut 26 Prozent zahlen. Dafür bleiben sie aber anonym – die Schweizer Banken sollen dafür sorgen, dass alles Geld korrekt versteuert wird. Die EU hatte sich dagegen mit ihrer 2005 in Kraft getretenen Zinsrichtlinie den automatischen Informationsaustausch auf die Fahnen geschrieben. Den vermeidet die Schweiz aber mit dem neuen Abkommen mit Deutschland.
Semeta betonte, bilaterale Abkommen dürften EU-Recht nicht entgegenstehen. Im Zweifelsfall kann die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einreichen. Semeta monierte, dass die Kommission nicht ausreichend in die Verhandlungen zwischen Berlin und Bern eingebunden gewesen sei.
EU zweifelt an Abgeltungssteuer
26 October 2011. BRÜSSEL/STRASSBURG. Ohne bereits ein definitives Urteil vorzulegen, äussert die EU-Kommission gewisse Zweifel, ob die Abgeltungssteuer-Abkommen zwischen der Schweiz und Deutschland sowie Grossbritannien der EU-Zinsbesteuerung entsprechen. EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta sagte gestern im EU-Parlament, dass die Kommission falls nötig Korrekturen verlangen würde. Er stellt allerdings nicht in Frage, dass die EU-Mitgliedstaaten berechtigt sind, bilaterale Steuerabkommen mit Drittstaaten abzuschliessen. Das gelte auch für Griechenland, sagte seine Sprecherin. Das Land könne sofort mit der Schweiz zu verhandeln beginnen. Es müsse nur darauf achten, dabei die EU-Zinsbesteuerungsrichtlinie einzuhalten.
Abweichender Steuersatz
Der Kommission ins Auge gestochen ist der mit Deutschland ausgehandelte Steuersatz von 26,375 Prozent, der von den 35 Prozent abweicht, die im Zinsbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und der EU vorgeschrieben sind. Dies kommt deshalb zustande, weil bei deutschen Bankkunden zwar 35 Prozent abgezogen werden, aber der Berner Fiskus seinen Anteil von einem Viertel der Steuereinnahmen, den er bisher behalten durfte, dem Bankkunden im Namen der deutschen Steuerbehörden wieder zurückzahlt. Dies wegen der abgeltenden Wirkung dieser Steuer: Im Unterschied zur Zinsbesteuerung hat der deutsche Bankkunde damit seine Steuerpflicht in Deutschland erledigt.
Die Kommission anerkennt diesen Mechanismus. Sie vermutet aber, dass er weniger effizient ist, um Steuerflucht zu verhindern – weil der Bankkunde bei der Abgeltungssteuer anonym bleibt. Die EU-Staaten sollten durch Verträge mit Drittstaaten die weitere Ergänzung der Zinsbesteuerungsrichtlinie nicht behindern, fordert Semeta. Die EU-Kommission werde weiterhin auf den automatischen Informationsaustausch innerhalb der EU drängen. Bei Drittländern werde man auf die höchsten Standards bezüglich Transparenz und Informationsaustausch setzen. Im übrigen will Semeta, dass die EU-Staaten endlich das Mandat verabschieden, um mit der Schweiz über die geplante Ausweitung der Zinsbesteuerung, zu der Bern bereit ist, zu verhandeln.
Schnelle Einnahmen möglich
Die EU-Kommission kann theoretisch gegen Deutschland und Grossbritannien ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, falls sie sich mit den Abkommen nicht an die EU-Zinsbesteuerung halten. Dies würde allerdings Jahre dauern und wohl jeden anderen Fortschritt im Steuerdossier behindern. Eine andere Möglichkeit besteht darin, von Deutschland oder Grossbritannien Änderungen im Abkommen zu verlangen. Dass sich die Kommission so schwer tut mit der Beurteilung der Abkommen, könnte damit zusammenhängen, dass von politischer Seite der Druck steigt, diese Lösung, welche schnelle Einnahmen für den Fiskus der arg bedrängten Euroländer verspricht, zuzulassen. So plädierte der Chef der Task Force für Griechenland, Horst Reichenbach, dafür, dass Griechenland mit der Schweiz ein solches Abkommen schliesst. Unterstützt wird er von Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, der allerdings ein EU-weites Abkommen mit der Schweiz will.
Auch aus Italien kommen Signale, dass ein solches Abkommen, das weit mehr Steuersubstanz erfasst als die Zinsbesteuerung, schnell zweistellige Milliardenbeträge in die Staatskasse spülen könnte. Im EU-Parlament gibt es dagegen nach wie vor kritische Stimmen. So sieht der grüne Finanzspezialist Sven Giegold durch die Abkommen die über zehnjährigen Bemühungen der EU um die Zinsbesteuerung zunichte gemacht. Auch das internationale Netzwerk Steuergerechtigkeit bezweifelt, dass durch das Abkommen, das viele Schlupflöcher enthalte, die erwarteten Milliarden an Steuereinnahmen zu erzielen seien.
Indikator für Fiskalunion
Was, wenn das Steuerabkommen mit Deutschland scheitert? – Juristische Zweifel in der EU
26 October 2011, Dietegen Müller, Frankfurt. Es ist eine Zitterpartie. Ob das Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland im November vom Bundesrat (Länderkammer) in Berlin abgesegnet wird, ist ungewiss. Weil Bund, Länder und Gemeinden davon profitieren würden, galt eine Zustimmung anfangs als sicher. Doch die von der Opposition (SPD, Grüne, Linke) dominierten Länder wollen diszipliniert dagegen votieren.
Scheitert das Abkommen, muss die Schweiz Positionen überdenken. Denn in der EU wächst der Wunsch, die Hoheit in Steuerfragen zu zentralisieren. Noch ist völlig offen, ob und wie die EU zur Fiskalunion wird, aber auch in Deutschland gibt es dafür prominente Befürworter, nicht zuletzt institutionelle Investoren wie Munich Re. Die Strategie der Schweiz, auf bilaterale Steuerabkommen zu setzen, wäre so nicht zukunftsfähig. Die Schweiz wäre gezwungen, nur mit der EU zu verhandeln.Die Ablehnung des Abkommens wäre für Deutschland nicht tragisch. Es wären zwar Mehreinnahmen gefährdet. Aber: «Die Summe an Mehreinnahmen ergibt sich nur aus der Differenz derer, die sich nicht ohnehin selbst angezeigt hätten, und sich nun entscheiden, sich doch anzuzeigen, oder dann eben unter das Abkommen fallen», sagt Karsten Randt von der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg. Es gehe weniger um die Frage, ob, sondern wann die Einnahmen kommen. Immer wieder tauchen neue Datenträger auf, und das Abkommen hält im Übrigen nur fest, dass Deutschland nicht «aktiv» solche CD annimmt – heisst übersetzt, wird etwas angeboten, kann zugegriffen werden.
Juristische Bedenken
«Rein juristisch hege ich grosse Bedenken gegen das Abkommen», fügt Steuerexperte Karsten Randt hinzu. So sieht er die Gleichbehandlung der Steuerzahler verletzt. Deutsche, die in der Schweiz Steuern hinterzogen haben, würden anders behandelt als Deutsche, die dies in Luxemburg oder Singapur tun. Auch missfällt ihm der anonymisierte Pauschalcharakter der Steuer. Frühere Steueramnestien hat das Bundesverfassungsgericht nur deshalb akzeptiert, weil die Amnestie nach Einnahmen differenzierte und den Vorgaben des Steuergesetzes gefolgt sei.
Doch wer könnte dagegen klagen? «Es gibt hier kein abstraktes Normenkontrollverfahren», sagt Randt. Ein Betroffener müsste erst den Weg durch die Instanzen beschreiten, was eher unwahrscheinlich ist. Nicht haltbar ist aber der Vorwurf, die Höhe der Abgeltungssteuer läge unter dem von der Schweiz mit der EU vereinbarten Satz von 35% aus der Zinsrichtlinie. Heute schon überweist die Schweiz der EU aber nur einen Anteil, der einem Satz von 26,25% entspricht. Der nun vorgesehene Abgeltungssteuersatz liegt mit 26,38% darüber. Anders sieht es bei der Regelung bisher nicht versteuerter Vermögen aus (19 bis 34%). Besonders in Schenkungs- oder Erbschaftsfällen spricht die Lösung tendenziell eher dafür, Vermögen nicht zu deklarieren, meint Martina Tippelhofer, Steuerberaterin bei CMS Hasche Sigle. Je nach Faktenlage des Einzelfalles können aber «sehr unterschiedliche und somit vorteilhaftere oder unvorteilhaftere steuerliche Belastungen resultieren».
Automatischer Austausch?
Sven Giegold, für die Grünen im Europaparlament im Ausschuss für Wirtschaft und Währung, will einen automatischen Informationsaustausch, als Teil einer «verschärften» EU-Zinsrichtlinie: «Ein Informationsaustausch muss auch die Besteuerung von Erbschaft und Vermögen ermöglichen, dort sind Schlupflöcher», sagt Giegold auf Anfrage von «Finanz und Wirtschaft». Der Attac-Aktivist rügt Deutschland: «Ein bilaterales Abkommen entspricht nicht der multilateralen Tradition Deutschlands in der europäischen Integration.»
Der Ausschuss für Wirtschaft und Währung hat deshalb auf seine Initiative die Kommission angefragt, inwieweit das Abkommen «mit dem ausgegebenen Ziel einer engeren Koordinierung in Steuerfragen zwischen den Mitgliedstaaten auf EU-Ebene vereinbar» ist und ob die Mitgliedstaaten Vollmachten besitzen, bilaterale Abkommen abzuschliessen, obwohl «die entsprechenden Regelungen bereits in der Zinsbesteuerungsrichtlinie getroffen wurden». Gefragt wurde auch, ob die Kommission bei bilateralen Abkommen konsultiert werden will. Die Aussprache war im Parlament für Dienstag nach Redaktionsschluss traktandiert. Giegold teilte vorab nur mit, die Kommission äussere «juristische Zweifel» am Abkommen.
Nicht ganz konsistent
Das Eidgenössische Finanzdepartement lehnt den automatischen Informationsaustausch klar ab. Ganz konsistent ist dies aber nicht: Die Schweiz habe der EU signalisiert, man sei offen für eine Erweiterung der Zinsrichtlinie auf anderen Ertrag und würde die Direktive, so sie denn EU-intern beschlossen würde, «eins zu eins» übernehmen. Allerdings betont man, Amtshilfe solle stets nur auf konkretes Ersuchen und unter Einräumung von Beschwerdemöglichkeiten gewährt werden.
Die Minimalposition in Steuerinformationen ist für die Schweiz Artikel 26 des Musterabkommens der OECD zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, das die Staaten zum Informationsaustausch verpflichtet und seit 2009 vom Bundesrat anerkannt wird, wenn auch nur unter folgendem Vorbehalt: «Die Umsetzung soll im Rahmen von bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen erfolgen. Der erweiterte Informationsaustausch wird erst mit dem Inkrafttreten dieser neu zu verhandelnden Abkommen Wirkung entfalten. Zudem muss im Verhältnis zur EU eine Anpassung des Zinsbesteuerungsabkommens folgen.» Diese austarierte Position könnte kippen, wenn bilaterale Abkommen scheitern, die EU auf automatisiertem Austausch beharrt oder Steuerhoheit zentralisiert.EU-intern ist der automatische Informationsaustausch umstritten. Österreich und Luxemburg sträuben sich und verweisen auf das Abkommen der Schweiz mit Deutschland, das einfacher und trotzdem wirkungsvoll sei. Italiens Finanzminister Giulio Tremonti hält den seit langem auf dem Tisch liegenden Vorschlag der EU-Kommission für eine neue Zinsrichtlinie für einen «Papiertiger». Doch gemäss «Il Sole 24 Ore» soll es nun erste informelle Gespräche mit der Schweiz über ein Abkommen ähnlich dem mit Deutschland gegeben haben. Und EU-Parlamentarier – in ihrer Haltung ebenfalls inkonsistent – begrüssen, dass die Schweiz derzeit Gespräche mit Griechenland führt, die auf ein weiteres bilaterales Abkommen hinauslaufen könnten, dem jenes mit Deutschland als «Blaupause» dient.
Auf gleiche Stufe gehoben
Nolens volens wird das Abkommen der Schweiz mit Deutschland zum Gradmesser für den Weg Europas hin zur Fiskalunion. Denn die Vereinbarung, so heisst es wörtlich, kommt in der Wirkung dem «automatischen Informationsaustausch im Bereich der Kapitaleinkünfte dauerhaft» gleich. Deutschland stellt damit implizit das Abkommen auf gleiche Stufe mit einer noch gar nicht beschlossenen revidierten EU-Zinsrichtlinie, aus Sicht Brüssels ein Affront. Gelindert wird der Schock nur, weil das Abkommen umfassender ist als die geltende Zinsrichtlinie.
Wenn sich das Europaparlament und der Ministerrat auf eine neue Zinsrichtlinie einigen, könnte sich die Schweiz Forderungen nach automatisiertem Informationsaustausch gegenübersehen. Blockt die Schweiz ab, müssten sich die EU-Partner überlegen, «ob man mit so einem Land noch freien Kapitalverkehr zulässt», droht EU-Parlamentarier Giegold. Auch national könnte der Druck steigen, etwa nach einem Regierungswechsel in Berlin. Um das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz auf Deutsche in der Schweiz durchzusetzen, könnte die Bundesregierung drohen, die Schweiz auf eine schwarze Liste zu setzen. Neuer Druck könnte kommen, wenn neue Steuern zur «Sanierung Europas» auf grosse Privatvermögen erhoben würden, wie das etwa Sven Giegold fordert. Fürsprecher wird er in klammen Euroländern viele finden.