Sven Giegold

Deutscher Wiederaufbauplan: Reformverweigerung der Bundesregierung

Die Europäische Kommission wird heute, den 22. Juni, die deutschen, italienischen und lettischen Aufbau- und Resilienzpläne (RRPs) offiziell genehmigen. Zusammen haben die Länder 96,3 Milliarden Euro an Zuschüssen beantragt, plus 122,6 Milliarden Euro an Darlehen für Italien. Deutschland erhält 25,6 Milliarden Euro Zuschüsse aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Mit der Genehmigung bescheinigt die Kommission, dass die nationalen Wiederaufbaupläne die Richtwerte von mindestens 37% Ausgaben für den Green Deal und 20% für die Digitalisierung erfüllen. Nachhaltige Strukturreformen im Einklang mit den länderspezifischen Empfehlungen sind ebenfalls ein wichtiges Bewertungskriterium.

Bei der Vorstellung des deutschen Wiederaufbauplans am 27. April wurde deutlich, dass Deutschland die EU-Gelder nicht für strukturelle Reformen sondern vielmehr zur teuren Umschichtung von Schulden nutzen will. 80% der Maßnahmen im deutschen Aufbau- und Resilienzplan sind bereits Bestandteil des deutschen Konjunkturprogramms und damit keine Mehrausgaben für den Klimaschutz oder die Digitalisierung.

Außerdem setzt Deutschland die länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters faktisch nicht um: anstatt die langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems zu sichern, ist lediglich ein kleiner Betrag zur Bereitstellung einer digitalen Rentenübersicht vorgesehen. Auch effektive Maßnahmen für die Reduzierung der hohen Steuer- und Abgabenbelastung für Gering- und Zweitverdiener*innen, die Schaffung von Voraussetzungen für höheres Lohnwachstum und die Verbesserung der Bildungsergebnisse und des Kompetenzniveaus benachteiligter Gruppen fehlen. Seit Jahren mahnt die EU-Kommission die Veränderung des Ehegattensplittings an, um die Anreize für Zweitverdiener*innen zur Arbeitsaufnahme zu verbessern und den Gender Pay Gap zu vermindern. Diese angemahnten strukturellen Veränderungen für eine effizientere und sozialere Wirtschaft adressiert der deutsche Aufbau- und Resilienzplan jedoch lediglich mit höheren Ausgaben für Kitas und Auszubildende sowie der “Sozialgarantie 2021”. Insgesamt sind dafür weniger als 1,5 der 25 Milliarden Euro des Plans veranschlagt. Strukturelle Reformen fehlen vollständig.

Nach der Einreichung der nationalen Aufbaupläne hat die Kommission die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Bewertungskriterien intern geprüft. Diese Analysen sowie die Ergebnisse ihrer Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten zur Verbesserung der Pläne werden erst nach der offiziellen Bewilligung der Pläne mit dem Europäischen Parlament geteilt. Damit ist die Möglichkeit der Ausübung seiner Aufsichts- und Kontrollfunktion stark begrenzt.

Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament, erklärt:

“Die Bundesregierung hat eine große Chance für dringende strukturelle Reformen verpasst. Es ist eine Schande, dass die EU-Gelder nicht für die Stärkung von Geringverdienenden oder mehr Gleichstellung genutzt werden. Die Reformverweigerung der Bundesregierung sendet ein fatales Signal nach Europa: Während die Bundesregierung die Umsetzung struktureller Reformen in anderen EU-Ländern zur Bedingung gemacht hat, drückt sie sich zu Hause davor. Die Leidtragenden der Reformverweigerung der Bundesregierung sind die jüngeren Generationen, die weiter auf ein tragfähiges Sozialsystem warten müssen. Das Nachsehen haben auch die Menschen mit geringem Einkommen oder einem Zweitverdienst, die weiter unter einer unverhältnismäßig hohen Steuer- und Abgabenlast zu leiden haben. Reformen zur Verkleinerung des Gender Pay Gap werden auch weiter aufgeschoben. Dabei hat eine Studie jüngst die positiven wirtschaftlichen Effekte der Abschaffung des Ehegattensplittings bei gleichzeitiger Erhöhung des Grundfreibetrags aufgezeigt. Von dieser überfälligen Reform im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit will die Union auch in ihrem Wahlprogramm nichts wissen.

Statt ernsthafte Reformen anzugehen, nutzt die Bundesregierung die EU-Gelder zum Stopfen von Löchern im deutschen Haushalt. Da Deutschland an den Kapitalmärkten etwas geringere Zinsen zahlt als die EU, kostet die Umschuldung der Finanzierung des deutschen Konjunkturprogramms auf die EU den deutschen Steuerzahler sogar Geld. Die Umetikettierung des deutschen Konjunkturprogramms ist daher ökonomisch absurd. Es ist enttäuschend, dass die EU-Kommission die Bundesregierung damit durchkommen lässt. Wir fordern die EU-Kommission auf, ihre Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten transparent zu machen. Das Europäische Parlament und die Zivilgesellschaft müssen eingebunden werden wie es die EU-Verordnung vorsieht.

Grundsätzlich ist der europäische Wiederaufbaufonds ein großer Erfolg. Erstmals nehmen die EU-Länder gemeinsam Schulden auf, um die europäische Wirtschaft solidarisch zu stärken und wichtige Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Im Gegensatz zu Deutschland hat Italien weitreichende strukturelle Reformen unter anderem im Justiz- und Steuersystem geplant. Allerdings wird die Klimabilanz der vorgeschlagenen Maßnahmen besonders in den Bereichen Mobilität und Gebäudesanierung von ihrer Umsetzung abhängen. Hier kommt es also darauf an, dass die EU-Kommission die Umsetzung kontinuierlich begleitet und die Einhaltung der Klimavorgaben überprüft. Das Next Generation EU Programm wird die Zukunft der europäischen Volkswirtschaften maßgeblich prägen. Die EU-Kommission muss sicherstellen, dass das transformative Potenzial des Programms ausgeschöpft wird. Der europäische Wiederaufbaufonds darf nicht Opfer von Greenwashing werden.”

Die deutsche Umsetzung des EU-Wiederaufbaufonds: ein schlechtes Beispiel für Europa https://sven-giegold.de/darp-schlechtes-beispiel-fuer-europa

Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) zur Abschaffung des Ehegattensplitting: https://www.rwi-essen.de/media/content/pages/publikationen/rwi-materialien/rwi-materialien_144.pdf

P.S.: Eil-Petition: EU-Agrarpolitik darf die Klimakrise nicht weiter anheizen, Agrarwende jetzt! – In Brüssel steht in diesen Wochen eine der wichtigsten Entscheidungen für den Klima- und Umweltschutz an: Es geht um die Zukunft der EU-Agrarpolitik. Doch im Rat der Mitgliedsländer blockiert Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner die Agrarwende für mehr Klima-, Umwelt- und Tierschutz. Helft mit diese Blockade zu beendet und unterzeichnet unsere Eil-Petition hier: www.change.org/agrarwende-jetzt 

Rubrik: Wirtschaft & Währung

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