Der Weg aus der hochriskanten Konfrontation zwischen der Regierung Griechenlands und den Euroländern, allen voran der Bundesregierung, führt nur über Verhandlungen. Seit dem Abbruch der Verhandlungen Samstagmorgen erleben wir eine totale Renationalisierung. Die Äußerungen der Akteure nehmen einen Ton nationaler Einseitigkeit an, in dem sonst Kriege vorbereitet werden. Die Gläubiger stellen sich als großzügig dar, obwohl sie Kürzungen fordern, die direkt in eine neue Rezession führen. Die griechische Regierung behauptet, sie habe “nicht einen Moment lang erwogen, nachzugeben”, während sie in Verhandlungen selbst auch schmerzhafte Reformen vorschlug. Hier dokumentieren wir die gröbsten Falschdarstellungen mit Quellen zu den Aussagen und Fakten.
Vizekanzler Sigmar Gabriel: Griechische Regierung wollte Finanzhilfen ohne Gegenleistungen
Vizekanzler Gabriel behauptet, die griechische Regierung sei zu keinen Gegenleistungen bereit gewesen und hätte damit die Geschäftsgrundlage der Eurozone untergraben. Wörtlich sagte er in der Pressekonferenz zusammen mit Kanzlerin Merkel am Montag, 29. Juni 2015:
“Die griechische Regierung hat diese weitreichenden Angebote nicht weiterverhandelt, sondern einen anderen Weg eingeschlagen, weil sie mit den Finanzhilfen der Zukunft im Rahmen eines denkbaren dritten Programms und einer veränderten Schuldentragfähigkeit kein eigenes Reformprogramm verbinden wollte, sondern eigentlich die Absicht hatte, sich sozusagen Hilfe zu verhandeln, ohne dafür Gegenleistungen erbringen zu müssen.”
In Wirklichkeit hatte die griechische Regierung am Montag, 22.06.2015 ein Paket an Kürzungen auch in Bereichen wie der Rente vorgelegt, obwohl das den eigentlichen Zielen von Syriza zuwiderläuft. http://s.kathimerini.gr/resources/article-files/protasi–2.pdf
Dieser Vorschlag will die Haushaltsanpassung vorrangig auf der Einnahmeseite realisieren, durch höhere Mehrwertsteuern, höhere Unternehmenssteuern und eine nachgelagerte Besteuerung der Renten (über Krankenversicherungsbeiträge). Das ist nicht gut, beispielsweise weil er den ineffizienten Staatsapparat weitgehend unangetastet läßt und die verbliebenen erfolgreichen Unternehmen bremst statt fördert. Aber das Konzept erfüllte die Finanzziele der Institutionen und wurde von der demokratisch gewählten Regierung Griechenlands getragen. Der IWF und die anderen Gläubiger setzten massiv den Rotstift in diesem Vorschlag an und wollten die griechische Regierung zwingen, das Ziel der Haushaltskonsolidierung über andere Maßnahmen zu erreichen. Diese Maßnahmen sind ökonomisch nicht minder fragwürdig. Die Version im Änderungsmodus findet sich hier: http://www.scribd.com/doc/269570038/Proposals-of-Greece-s-creditors-24-6-2015
Alexis Tsipras: Wir haben nicht einen Moment lang erwogen, nachzugeben
In seiner Fernsehansprache von Samstagmorgen, 27.06.2015 sagte Tsipras: “Obwohl unsere Vorgängerregierungen für ihre Entscheidungen bei den letzten Parlamentswahlen vom griechischen Volk klar und unmissverständlich bestraft worden sind, hat man von uns während des gesamten Verhandlungsprozesses immer wieder verlangt, von ihnen eingegangene Vereinbarungen umzusetzen. Wir haben nicht einen Moment lang erwogen, nachzugeben und das in uns gesetzte Vertrauen zu verraten.”
Ein Leak der Vorschläge von Tsipras vom Montag, 22.06.2015 zeigt, dass Tsipras’ Regierung bereit war auf viele Forderungen der Gläubiger einzugehen. Die Vorschläge enthielten auch Kürzungen bei Renten über Sozialversicherungsbeiträge, ein Prozentpunkt statt zwei. http://s.kathimerini.gr/resources/article-files/protasi–2.pdf
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Troika wollte keine Rentenkürzungen
In seiner Pressekonferenz am 29.06.2015 sagte Kommissionspräsident Juncker: “There are no pension cuts in this package. No pension cuts in this package.”
http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-15-5274_en.htm
Dem widersprach fast live der renommiert Europa-Journalist Peter Spiegel von der Financial Times
““There are no pension cuts in this package,“ says @JunckerEU. Sorry, that’s just not true. #Greece” https://twitter.com/SpiegelPeter/status/615475387208966144
“#EU officials clarify @JunckerEU „no pension cut“ line. Say it refers to current pensioners. They view EKAS as a non-pension payment.” https://twitter.com/SpiegelPeter/status/615484129325543424
Tatsächlich kommt das Wort Rentenkürzungen im Angebot der Geldgeber nicht vor. Die Institutionen fordern aber unter anderem die Anhebung der Krankenkassenbeiträge für Rentner von 4 auf 6 Prozent. Zudem sollen diese Beiträge auf Zusatzrenten ausgeweitet werden. Auch die sogenannten Solidaritätszahlungen („EKAS“) wollte die Troika einstellen. Diese ergänzen die Einkommen der vielen Bezieher niedeiger Renten. Damit haben wir es mit einer Rentenkürzung zu tun, die so gestaltet wurde, dass sie nicht so heißen muss. Juncker hat der Sache nach die Unwahrheit gesagt, um sein Angebot attraktiver darzustellen, als es in Wirklichkeit ist.
Die Kommission hat ihr Angebot selbst ins Netz gestellt (“Attachments: List of prior actions – version of 26 June 20 00.pdf” unten auf): http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5270_en.htm
Auf Seite 4 von 10 des pdf findet sich: “Gradually phase out the solidarity grant (EKAS) for all pensioners by end-December 2019. This shall start immediately as regards the top 20% of beneficiaries with the modalities of the phase out to be agreed with the institutions;” und darunter “increase the health contributions for pensioners from 4% to 6% on average and extend it to supplementary pensions;”.
Kommissionspräsident Juncker: 35 Milliarden Euro Investitionen für Griechenland
Als Balance zu den vielen Kürzungen und Abgabenerhöhungen soll laut Kommissionspräsident Juncker Griechenland ein Wachstumsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro erhalten. Juncker sagt, sein Vizepräsident Dombrovskis und andere hätten tagelang daran gearbeitet und erweckt damit den Eindruck, das Geld sei neu. Wörtlich sagt Juncker am 29.06.2015 in seiner Pressekonferenz:
“And a deal could also have ensured that we, the Commission, could go ahead with a package for a „new start for jobs and growth“ package of 35 billion euro to help the Greek economy getting back on tracks.
Vice-President Dombrovskis was spending hours, days together with all the other Commissioners involved to put together all the elements needed to provide Greece of a growth package of 35 billion euro. This is not only about fiscal consolidation, this is also about pushing forward the growth opportunities for the Greek economy. It is a huge part of the package the Commission, myself together with Vice-President Dombrovskis have been proposing to our Greek friends.”
http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-15-5274_en.htm
Im Angebot der Institutionen findet sich dieses „Investitionspaket“ in Form von Mitteln aus dem europäischen Struktur- und Agrarfonds wieder. Diese stehen Griechenland als EU-Mitglied aber unabhängig vom Angebot der Gläubiger zu. Es gibt kein zusätzliches Geld. Cerstin Gammelin von der Süddeutschen Zeitung erläutert, dass Griechenland die Mittel wohl gar nicht abrufen könnte, weil sie die dafür notwendigen 15 Prozent Eigenbeitrag nicht aufbringen könnten:
Bundeskanzlerin Angela Merkel: außerordentlich großzügiges Programmangebot an die griechische Regierung
Kanzlerin Merkel behauptet, das Angebot der Bundesregierung und der anderen Gläubiger sei außerordentlich großzügig gewesen: Wörtlich sagte sie bei ihrer Pressekonferenz am Montag, 29. Juni 2015:
“Der Finanzminister hat über die Verhandlungen in der Eurogruppe berichtet und noch einmal deutlich gemacht, dass es ein außerordentlich großzügiges Programmangebot an die griechische Regierung gegeben hat.”
Sie begründet dies nicht zuletzt mit dem gleichen 35 Milliarden Wachstumsprogramm, das auch Juncker nennt:
“Wir wollen noch einmal betonen – das haben wir eben in der Unterrichtung auch getan -, dass alles, was Griechenland an konjunkturellen Impulsen versprochen wurde, natürlich weiter im Raum steht. Jean-Claude Juncker hat für die Kommission hier sehr ausführliche Darlegungen gemacht.”
Das Angebot war nicht großzügig. Großzügig wäre es nur gewesen, wenn damit wirklich eine Lösung für das griechische Dilemma einhergegangen wäre. Es gab aber kein Element zusätzlicher Investitionen, es gab kein Element zur Lösung der Altschuldenprobleme wie eine entlastende Umschuldung. Stattdessen verschärfte das Paket die ohnehin schon unverantwortlichen Sparauflagen. Konkret wollten die Institutionen zum Beispiel die Subventionen für Agrar-Diesel und Heizöl streichen und Einkommensteuervorteile von Landwirten beschränken. Das hätte bedeutet, dass die Bauern bei neuen Einkommensverlusten in der Krise auf die Barrikaden gegangen wären. Es gibt diese Agrarsubventionen überall in der EU, sie sind nicht Grün oder nachhaltig, aber diese Kürzungen wären ein Bärendienst für die Stabilität in Griechenland gewesen.
Das Angebot von Donnerstagabend/Freitagmorgen unterschied sich auch nicht wesentlich vom Angebot der Gläubiger von Mittwoch, außer der Korrektur bei der Mehrwertsteuer auf Hotels (13 statt vorher 23 Prozent): https://sven-giegold.de/2015/letztes-angebot-an-griechenland-die-augenwischerei-der-grosszuegigen-glaeubiger/
Merkel: Schuldenrestrukturierung oder nicht?
Spiegel Online berichtet, Merkel habe “dem Vernehmen nach” auch “Schuldenerleichterungen, also eine teilweise Umschuldung” angeboten.
Cerstin Gammelin von der Süddeutschen Zeitung hingegen schreibt über die letzten Verhandlungen von Freitagabend kurz vor dem Abbruch durch Tsipras: “Ein Angebot zur Umschuldung wurde – jedenfalls schriftlich – auch zu diesem Zeitpunkt nicht unterbreitet.”
Das wurde uns inzwischen aus verschiedenen Quellen bestätigt.
Statt Kriegsrethorik braucht es noch vor Sonntag eine Einigung. Dafür werben Grüne in ganz Europa auf: http://supportgreens.eu/de/griechenland