Für die Grünen Blätter der Grünen Baden-Württemberg habe ich zum Verhältnis Religionsgemeinschaften und Staat einen Artikel geschrieben:
Entspannt Euch!
Im Untergrund unserer Partei brodelt wohl kein Thema so lebendig wie das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. In Fragen, über die wir uns üblicherweise streiten, wie Steuern oder Grundsicherung, sind die Unterschiede zwischen uns Grünen marginal im Vergleich zur Leidenschaft, die entfacht wird, wenn man in das Wespennest der Religionspolitik sticht. Viele von uns sind im Kern ihrer politischen und zutiefst persönlichen Identität berührt. Teile unserer Partei halten Religionen im besten Falle für Opium des Volkes, im Schlimmsten für Verbrecherbanden. Darüber hinaus werden konkrete Regelungen in Frage gestellt: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, das kirchliche Arbeitsrecht, die Beschneidung von Jungen, Kruzifixe in Gerichtssälen, die Kirchensteuer u.v.a.
Auf der grundsätzlichen Ebene stehen sich innerhalb unserer Partei zwei Positionen gegenüber: Einige wollen eine möglichst radikale Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat, etwa nach Vorbild des französischen Laizismus. Andere wollen eine kooperative Trennung, bei der der Staat mit den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften zusammenarbeitet. Die strikte Trennung scheint einfach und konsequent, hat aber gravierende Schwächen. Denn Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften sind Ausdruck menschlicher Freiheit. Religionsfreiheit ist nicht nur ein individuelles Recht sondern auch ein kollektives. Eine kooperative Beziehung zu den Religionsgemeinschaften bietet dem Staat und den Religionen große Chancen. Der Staat kann sich aus weltanschaulichen Fragen heraushalten, gerade weil er unterschiedlichen Gemeinschaften die Möglichkeit gibt, diesen Raum zu füllen. Es ist pluralistisch, freiheitsschonend und antiautoritär, dass etwa Jugendhilfe, Sozialeinrichtungen, Religionsunterricht, Krankenhäuser usw. nicht vom Staat alleine angeboten werden, sondern überwiegend von freien Trägern und Religionsgemeinschaften. Das schützt den Staat vor Allmachtsphantasien und der Anmaßung, selbst weltanschauliche Orientierung geben zu wollen. Umgekehrt schützt die Kooperation der Religionen mit dem Staat die Religionsgemeinschaften und auch die Gesellschaft vor religiösem Extremismus.
Beide grundsätzlichen Positionen haben gemeinsam, dass sie das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen vielfach reformieren wollen. Die jetzigen Strukturen der Zusammenarbeit sind historisch gewachsen und entsprechen nicht mehr der Pluralisierung des Religiösen in unserem Land. Muslime, erfreulicherweise Jüdinnen und Juden, Patchwork-Religiöse, Atheist*innen, die vielen Christ*innen, die den großen Kirchen den Rücken gekehrt haben, sind zahlreicher geworden. Daraus folgt, dass die Kooperation zwischen Staat und Kirche die verschiedenen Religionsgemeinschaften gleichbehandeln muss, wenn der Staat seine Neutralität nicht dauerhaft verletzen will. Nicht nur die christlichen Kirchen sollten Religionsunterricht in öffentlichem Rahmen anbieten dürfen, sondern z.B. auch die muslimischen Gemeinschaften. Der Einzug der Kirchensteuer sollte kein exklusives Recht der Kirchen bleiben, sondern der Staat sollte auch anderen gemeinnützigen oder mildtätigen Großorganisationen helfen, sozial progressiv gestaltete Beiträge einzuziehen. Sofern sie für die Einziehung genauso bezahlen, wie es die Kirchen tun. Die Staatskirchenleistungen sollten langfristig abgelöst werden, wie es das Grundgesetz vorsieht. Das kirchliche Arbeitsrecht ist in einer Weise weiter zu entwickeln, dass es Grundrechte wie das Streikrecht garantiert. Die neue Pluralität in unserem Land erfordert Reformen im Verhältnis zwischen Staat und Religionen, eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirchen brauchen wir jedoch nicht.
Sven Giegold, MdEP, Mitglied des Landesvorstands der Grünen NRW und der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags, der 2015 in Stuttgart stattfinden wird.
Weiterlesen: Hier ein Presse-Bericht über eine Diskussionsveranstaltung zum gleichen Thema in Reutlingen, an der ich teilgenommen habe.