Sven Giegold

ESMA-Bericht zu Wirecard deckt Defizite bei der BaFin auf

Heute, am 03.11.2020, hat die European Securities Markets Authority (ESMA) ihren lang erwarteten Bericht zur Rolle der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) im Wirecard-Bilanzskandal vorgelegt. BaFin und DPR sind in Deutschland in einem zweistufigen Verfahren gemeinsam für die Bilanzkontrolle, also die Überwachung von Unternehmensabschlüssen zuständig. Die ESMA veröffentlicht Richtlinien, mit denen die Bilanzkontrolle europaweit harmonisiert werden soll und überprüft deren Umsetzung regelmäßig in sogenannten Peer Reviews. Der Analyserahmen dieser Peer Reviews ist jedoch eng. Der heute veröffentlichte Bericht, den die EU-Kommission am 25. Juni 2020 angefordert hatte, stellt das Ergebnis eines solchen Peer Reviews mit besonderem Fokus auf die Vorgänge um Wirecard dar. Es handelt sich deshalb um keine vollumfängliche und offene Prüfung des Vorgehens von BaFin und DPR im Wirecard-Skandal, sondern lediglich um einen Abgleich mit den konkreten Vorgaben der ESMA-Richtlinien zur Bilanzkontrolle. Die kritische Rolle der BaFin bei der Markt-, Banken- und Zahlungsdienstleisteraufsicht über Wirecard, insbesondere die Short-Selling-Verbote und Anzeigen gegen Financial-Times-Journalisten, bleiben im Bericht daher unberücksichtigt.

Der Bericht legt erhebliche Defizite offen. Die Kooperation von BaFin und DPR wird behindert von Vertraulichkeitsregeln, außerdem sind sich die beiden Behörden nicht einig, welche Rolle der jeweils anderen Behörde bei Bilanzbetrug zukommt. Der Kontrolltätigkeit der DPR fehlt es teilweise an der professionellen Skepsis, außerdem wurden kritische Medienberichte zu lange nicht angemessen berücksichtigt. Der BaFin fehlen Ressourcen, um die Arbeit der DPR kritisch zu begleiten. Zweifel äußert der Bericht an den internen Kontrollsystemen der BaFin. Handelsaktivitäten der eigenen Mitarbeiter mit kritischen Finanztiteln werden nicht erfasst, und ausgerechnet Mitarbeiter der Abteilung für Marktmissbrauch handelten im relevanten Zeitraum mit Wirecard-Aktien. Außerdem geht von intensiven Berichtspflichten an das Bundesfinanzministerium die Gefahr der politischen Einflussnahme auf die Arbeit der BaFin aus.

Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament, erklärt:

“Der Wirecard-Bericht der ESMA legt schonungslos offen, dass das deutsche System der gemeinsamen Bilanzkontrolle durch die BaFin und die DPR nicht funktionieren kann. Wenn Vertraulichkeitsregeln die effektive Kommunikation der Behörden vereiteln und sich diese teils bezüglich ihrer jeweiligen Rollen uneinig sind, wird es Betrügern zu leicht gemacht. Dass es die DPR laut Bericht teilweise an der professionellen Skepsis mangeln lässt, die BaFin sich aber mangels Ressourcen ungeprüft auf die DPR verlassen muss, zeugt von der Absurdität des Aufsichtsmodells. Dieses Verantwortlichkeitenchaos muss ein Ende haben. Statt das staatliche Aufsichtsmonopol an einen privatwirtschaftlichen Verein outzusourcen, braucht es eine schlanke und effektive Bilanzkontrolle durch eine schlagkräftige BaFin.

Der Bericht zeigt auch erneut, wie vieles bei der BaFin im Argen liegt. Die BaFin-Bilanzkontrolle kannte relevante Medienberichte über Wirecard nicht, obwohl sich die Marktmissbrauchsabteilung damit beschäftigte. Hier weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Vor allem aber mangelt es am behördenweiten Selbstverständnis, dass die gemeinsame Bekämpfung von Finanzkriminalität oberste Priorität hat. Dieser fehlende Biss kommt auch zum Vorschein, wenn die BaFin in ihrer Verteidigung ihr wenig beherztes Vorgehen damit begründet, dass es ja auch viel positive Berichterstattung zu Wirecard gegeben habe. Ein fatales Licht wirft der Bericht auch auf die internen Kontrollsysteme der BaFin. Ausgerechnet Mitarbeiter der Marktmissbrauchsabteilung handelten mit Wirecard-Aktien, die Leitung wusste mangels Offenlegungspflichten von all dem nichts.

Einen besonders pikanten Vorwurf richtet der Bericht an Olaf Scholz. Aufgrund intensiver Berichtsverpflichtungen der BaFin gegenüber dem Bundesfinanzministerium sei nicht sichergestellt, dass die Behörde frei von politischer Beeinflussung ihren hoheitlichen Aufgaben nachkommen könne. Olaf Scholz darf die unübersehbaren Defizite der BaFin nicht länger ignorieren. Aus dem zögerlichen Finanzmarktverwalter muss endlich ein unabhängiger und schlagkräftiger Finanzaufseher werden. Ein organisatorischer und personeller Neustart für die BaFin ist überfällig. Die Empfehlungen der ESMA gehen weit über Olaf Scholz’ Pläne zur Neuaufstellung der BaFin hinaus.

Es ist wichtig und richtig, dass die Bilanzkontrolle in Deutschland gestärkt wird. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass das eigentliche Problem die oft völlig unzureichende Qualität der Wirtschaftsprüfung ist. Wer nicht nur Symptome, sondern Ursachen behandeln will, muss deshalb unbedingt auch die aktuellen Fehlanreize für Wirtschaftsprüfer beseitigen. Solange diese vom zu prüfenden Unternehmen selbst bestellt und entlassen werden und zusätzlich an begleitenden Beraterverträgen verdienen, stellen sie keine zuverlässige erste Verteidigungslinie dar. Olaf Scholz sollte die Lehren aus der Wirecard-Pleite ziehen und sich im Ministerrat für eine Anpassung der Wirtschaftsprüfer-Richtlinie einsetzen, um diese Missstände an der Wurzel zu packen.”

 

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Peer-Review-Bericht der ESMA zur Rolle von BaFin und DPR im Wirecard-Skandal:

https://www.esma.europa.eu/press-news/esma-news/esma-identifies-deficiencies-in-german-supervision-wirecard%E2%80%99s-financial

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Für Leser*innen mit Sinn für Humor empfehlen wir diese Empfehlung an die BaFin:

“The PCR recommends that FREP and BaFin review articles in international newspapers (including online newspapers) with widespread acceptance in the sphere of international finance in the area of financial and economic matters in order to add these elements when selecting issuers for examination or when performing examination.”

 

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P.S.: Webinar: Wissenschaftsupdate mit Top-Klimaforscher Prof. Rahmstorf “Die Zuspitzung der Klimakrise” Online. Mittwoch, 4.11.2020, 19:00 – 20:00 Uhr. Gleich hier anmelden!

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