Durch rechtspopulistische Regierungen und Krisen in anderen Länder ist einer der Grundpfeiler Europas zunehmend in Gefahr: die Rechtsstaatlichkeit. In Ungarn wurde die regierungskritische Tageszeitung Nepszabadsag de facto geschlossen, die polnische Regierung entmachtet das Verfassungsgericht, in Frankreich sind seit knapp einem Jahr Notstandsgesetze in Kraft und die spanische Regierung schränkt das Demonstrationsrecht ein. Immer mehr Mitgliedstaaten der EU verletzen die Gebote von Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten. Genau zu diesen Prinzipien haben sie sich aber in den EU-Verträgen verpflichtet. Als die Menschen in Osteuropa ihre kommunistischen Diktaturen abschüttelten, als sie in Spanien und Griechenland faschistische Regime überwanden, hofften sie auf Europa als Garant ihrer Freiheit. Doch der EU fehlen die Instrumente, um Bürgerinnen und Bürger vor Grundrechtsverletzungen der Mitgliedsstaaten zu schützen. Europa hat keine EU-Bundespolizei oder keine EU-Bundesanwaltschaft.
Doch heute ist ein Tag der Hoffnung im Europäischen Parlament: Mit großer Mehrheit haben die EU-Abgeordneten beschlossen, die Hilflosigkeit Europas bei Grundrechtsverletzungen zu beenden. In Zukunft soll die EU besser reagieren können, wenn in einem Mitgliedstaat rechtsstaatliche Prinzipien verletzt werden. Mit ihrem stärksten Instrument – dem legislativen Initiativbericht – fordert das Parlament von der EU-Kommission die Vorlage eines Pakts für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte. Die EU-Kommission soll bis September 2017 einen Vorschlag für eine Vereinbarung zwischen den EU-Institutionen für diesen Pakt vorlegen. Zentrale Forderung ist eine permanente länderspezifische Evaluierung durch unabhängige Expertinnen und Experten. Sie sollen die Lage von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten in jedem Mitgliedstaat beurteilen und ihre Einschätzung in einem jährlichen Bericht veröffentlichen. Damit würde die EU in Zukunft viel genauer hinschauen, was in den Mitgliedstaaten passiert.
Wenn Mitgliedstaaten die Grundrechte verletzen, kann der Rat der Mitgliedstaaten im schlimmsten Fall mit den Stimmen aller anderen einem einzelnen Land das Stimmrecht entziehen (Art. 7 des EU-Vertrags). Dieser Schritt gilt aber als so schwerwiegend, dass er nur extrem selten zur Anwendung kommt. Regierungen wie die aktuellen in Ungarn und Polen können sich zudem gegenseitig schützen. Deshalb schlägt das Parlament kleinere Schritte vor, die sich leichter gehen lassen:
- Die EU-Institutionen wählen eine Gruppe von Rechtsexperten: die Mitgliedsstaaten je einen hochrangigen Richter, das Europaparlament 10 Experten aus Universitäten, Zivilgesellschaft und Internationalen Organisationen.
- Die Rechtsexperten schreiben einen jährlichen Bericht über die Lage in jedem Mitgliedstaat und geben länderspezifische Empfehlungen. Der Bericht wird veröffentlicht und dann von der EU-Kommission bestätigt.
- Der Bericht wird öffentlich debattiert im Rat der Mitgliedstaaten und auf einer interparlamentarischen Konferenz, die Abgeordnete aus nationalen Parlamenten und EU-Abgeordnete zusammenbringt.
- Die EU-Kommission entscheidet über die Einleitung eines Grundrechts-Verletzungsverfahrens auf Grundlage des Jahresberichts.
- Die EU-Kommission, das Europaparlament und der Rat der Mitgliedstaaten können jeweils über die Notwendigkeit eines Verfahrens bis zum Stimmentzug nach Artikel 7 des EU-Vertrags auf Grundlage des Jahresberichts beraten.
Die Europäische Union steht gegenüber den mutigen Menschen in der Pflicht, die teils ihr Leben für die Freiheit eingesetzt haben, Diktaturen demokratisch überwunden haben und dann in Beitritts-Referenden ihre Freiheit unter einen europäischen Schutzschirm stellten.
Dieser Pakt für Demokratie und Grundrechte stärkt und verteidigt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in Europa. Der Pakt sendet eine klare Botschaft an diejenigen, die sich an den Grundrechten in den letzten Jahren vergangen haben: Europa hat Euch im Blick und lässt Grundrechtsverletzungen nicht ohne Folgen.
Wir Grünen hätten die EU-Institutionen gerne noch stärker zu quasi-automatischen Reaktionen verpflichtet, wenn die unabhängigen Experten mit klarer Mehrheit Alarm schlagen. Zudem hätten wir gerne die Stimme der Zivilgesellschaft bei der Auswahl der Experten noch stärker gemacht. Der Bericht zeigt aber, dass wir Europaabgeordneten uns zum Schutz der wichtigsten Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger von Grünen, Linken, Sozialdemokraten bis hin zu den Konservativen zusammenraufen und erfolgreich zusammenarbeiten können.
Entwurf des Berichts der niederländischen Liberalen Sophie in’t Veld: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=REPORT&reference=A8-2016-0283&language=DE