Liebe Freundinnen und Freunde,
Bundesfinanzminister Olaf Scholz möchte die vorgeschlagene Grundrente unter anderem durch eine europäische Finanztransaktionssteuer finanzieren. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet Scholz jetzt mit der Finanztransaktionssteuer um die Ecke kommt. Scholz hat die Finanztransaktionssteuer zu einer Mini-Steuer in Brüssel dezimiert. Was der Finanzminister Finanztransaktionssteuer nennt, ist ein Etikettenschwindel. Nur den Aktienhandel zu besteuern und Derivate auszuklammern, torpediert die ursprüngliche Idee der Steuer, sekundenschnelle Spekulationsgeschäfte einzudämmen und relevante Einnahmen zu erzielen. Die Einnahmen einer echten Finanztransaktionssteuer wären zehnmal höher als das abgespeckte Modell von Scholz. Etwa 12 Milliarden würde eine echte Finanztransaktionssteuer Deutschland jährlich einbringen, Scholz Mini-Steuer bringt nur etwa 1,2 Milliarden. Ohne die Besteuerung von Derivaten wird der Schaden von spekulativen Übertreibungen an den Finanzmärkten weiterhin auf die Gesellschaft abgewälzt. Olaf Scholz hat damit ein Gerechtigkeitsprojekt zu Grabe getragen, für das sich hunderttausende Menschen jahrelang eingesetzt haben. Seit fast 20 Jahren haben Entwicklungsorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen und globalisierungskritische Organisationen große Hoffnungen in die Steuer gelegt, unterstützt von zahlreichen Wirtschaftswissenschaftler*innen. Im Europaparlament gibt es seit langem eine Mehrheit für eine echte Finanztransaktionssteuer, gerade durch den Einsatz der europäischen Sozialdemokraten und Grünen.
Unten findet Ihr und Sie einige Hintergrundinformationen, wie diese große politische Idee zur Unkenntlichkeit dezimiert wurde. Aber der Kampf ist noch nicht verloren! Ich werde auch in Zukunft für dieses wichtige Projekt streiten. Wir brauchen eine echte europäische Finanztransaktionssteuer!
Mit europäischen Grüßen
Sven Giegold
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HINTERGRUND ZUR FINANZTRANSAKTIONSSTEUER
Eine EU-Steuer zur Beteiligung des Finanzsystems am Gemeinwesen
Nach Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 wurde die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer auf die politische Agenda gehoben. Der Finanzsektor sollte fortan einen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten und die Stabilität gefährdende Finanztransaktionen wie der schädliche Hochfrequenzhandel sollten eingedämmt werden. In dieser Situation schlug die Europäische Kommission im September 2011 eine harmonisierte Finanztransaktionssteuer für die gesamte Europäische Union vor. Der damalige Kommissionsvorschlag umfasste eine harmonisierte Bemessungsgrundlage und Mindestsätze für alle Transaktionen bei denen mindestens ein Finanzinstitut mit Sitz in der EU beteiligt war. Die vorgesehenen Mindeststeuersätze betrugen 0,1% für den Handel mit Aktien und Anleihen und 0,01% für den Handel mit derivativen Vereinbarungen wie Optionen, Futures oder Swaps. Die Steuer sollte für alle Märkte gelten (regulierte Märkte genauso wie außerbörsliche Geschäfte), für alle Instrumente (Aktien, Anleihen, Derivate usw.) und alle Marktteilnehmer (Banken, Schattenbanken, Vermögensverwalter, etc.). Dies würde mögliche Wettbewerbsverzerrungen zwischen unterschiedlichen Marktsegmenten auf ein Minimum reduzieren und das Risiko von Steuerplanung, -substitution und -verlagerung klein halten. Laut Kommissionsvorschlag sollten die Einnahmen aus der FTT als erste eigene Einnahmequelle der EU in der Haushalt der Europäischen Union fließen.
Koalition der Willigen
Doch bald wurde klar, dass die EU-Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit keine einstimmige Einigung über den Vorschlag für eine EU-weite FTT würden erzielen können. Daraufhin hielt sich eine Untergruppe von elf Mitgliedstaaten die Möglichkeit offen, das Verfahren der „verstärkten Zusammenarbeit“ bei einer gemeinsamen, untereinander harmonisierten Finanztransaktionssteuer einzuleiten. Ende September 2012 erhielt die Kommission einen entsprechenden Antrag. Am 23. Oktober 2012 schlug die Kommission dem Rat vor, die von diesen elf Mitgliedstaaten geforderte verstärkte Zusammenarbeit zu genehmigen. Das Europäische Parlament erteilte am 12. Dezember 2012 seine Zustimmung und der Rat der EU fasste am 22. Januar 2013 einen entsprechenden Beschluss. Die Finanzminister der elf willigen Mitgliedstaaten setzten ihre Gespräche zur FTT 2013 im Schatten der Treffen aller 28 EU-Finanzminister fort, aber parallel erhöhte die Finanzlobby ihren Druck auf die willigen Mitgliedstaaten.
Prokrastination und Zurückrudern
Die Verhandlungen wurden 2014 weitergeführt, allerdings verloren sich die Unterhändler allmählich in den Details zur Besteuerungsbasis und des anwendbaren Steuersatzes. Das bewog einzelne Mitgliedstaaten wie Italien und Frankreich, unilateral nationale Transaktionssteuern einzuführen, wodurch der Druck für eine schnelle Einigung unter den elf Ländern weiter schwand. 2015 trafen sich die Unterhändler der Mitgliedstaaten unregelmäßiger und mit jedem neuen Kompromissvorschlag verringerte sich die Bemessungsgrundlage. So wollten Frankreich und Italien nur den Aktienhandel besteuern, nicht aber Transaktionen mit Derivaten. Deutschland hielt zu dem Zeitpunkt noch an einer breiten Bemessungsgrundlage fest, setzte sich aber in den Verhandlungen nicht mit dem notwendigen politischen Nachdruck für die FTT ein. Den Mehrwert einer so beschnittenen FTT bezweifelnd, verließ Estland 2015 die Koalition der Willigen. Das Referendum zum Brexit veranlasste die Zweifler 2016, von der EU-Kommission eine Auswirkungsanalyse unter den Voraussetzungen einer EU-27 zu fordern. Österreich hatte informell die Federführung der Verhandlungen übernommen und veranstaltete bis zur Wahl seiner neuen Regierung kaum weitere Treffen. Erst 2017 nahmen die Verhandlungen – nach Druck von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft – erneut Fahrt auf, als Deutschland und Frankreich öffentlich bekundeten, die FTT weiter zu unterstützen.
Deutsch-französischer Etikettenschwindel
Aber unter dem Deckmantel der nicht-öffentlichen Sitzungen der Arbeitsgruppe zur FTT schlug sich auch Deutschland auf die Seite derjenigen, die die Finanztransaktionssteuer unterminieren und plädierte dafür, Lebensversicherungen und Pensionsfonds ausnehmen. Seit Ende 2018 besteht nun unter den verbliebenen zehn Mitgliedstaaten (neun sind für das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit mindestens erforderlich) Einigkeit zur Bemessungsgrundlage wie auch zum Steuersatz, nicht jedoch zum Verwendungszweck. Vom ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission ist derweil nicht viel übrig geblieben. Der neuste, von Deutschland und Frankreich zusammen ausgearbeitete Kompromiss sieht nur noch eine Besteuerung des Handels von Aktien, nicht aber von Derivaten vor. Statt der ursprünglich anvisierten 30-35 Milliarden Euro Einnahmen jährlich prognostizierte der deutsche Finanzminister Olaf Scholz Steuereinnahmen von gerade einmal 5 bis 7 Milliarden. Mit der Ausnahme von Derivaten wird die FTT zum Etikettenschwindel. Nicht Aktien sondern Derivate machen den Großteil kurzfristiger Börsengeschäfte aus. Gefährliche Spekulationsgeschäfte werden vor allem durch Derivate getätigt. Ohne die Besteuerung von Derivaten wird der Schaden von spekulativen Übertreibungen an den Finanzmärkten weiterhin auf die Gesellschaft abgewälzt. Der Finanzminister zerstört so ein Gerechtigkeitsprojekt, für das sich viele Menschen jahrelang eingesetzt haben. Im Europaparlament gibt es seit langem eine Mehrheit für eine echte Finanztransaktionssteuer, auch dank des Einsatzes der europäischen Sozialdemokraten. Scholz dagegen macht aus einem scharfen Schwert eine Kindergabel. Vor diesem Hintergrund beschloss die Mitgliederversammlung des Bündnisses „Steuer gegen Armut“ Ende November 2018, ihre Kampagnentätigkeit in der bisherigen Form einzustellen. Für diese Schrumpfsteuer lohne es sich nicht, zu kämpfen. Im einstimmigen Beschluss der Mitgliederversammlung heißt es aber, die Notwendigkeit und Richtigkeit einer umfassenden Finanztransaktionssteuer bestehe fort. Sie bleibe Teil der zivilgesellschaftlichen Forderung nach einer Regulierung der Finanzmärkte.
Ausgang ungewiss
Selbst der Kompromiss für eine Alibi-Steuer mit einer stark beschnittenen Bemessungsgrundlage fand unter den zehn Mitgliedstaaten der verstärkten Zusammenarbeit noch kein grünes Licht, da sie sich bislang nicht auf eine Verwendung der Einnahmen aus der FTT einigen konnten. Frankreich und Deutschland werben dafür, mit den Einnahmen einen eigenen und neuen Eurozonen-Haushalt zu finanzieren. Andere wollen sich die Einnahmen auf ihre Beiträge in den EU-Haushalt anrechnen lassen während wieder andere die Einnahmen am liebsten behalten würden. Nachdem das für Mai geplante Treffen der Finanzminister zur FTT auf Juni verschoben wurde, ist eine Einigung noch im Jahr 2019 ungewiss.
Hinweis: Dieser Blogbeitrag wurde innerhalb der letzten 6 Wochen vor der Europawahl 2019 veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurde die Homepage und die zugrunde liegende IT-Infrastruktur aus Wahlkampfmitteln und nicht aus dem Parlamentsbudget finanziert.