Lobbyismus in Brüssel: Stadt der Flüsterer
Von PETER RIESBECK. Sie ist noch ein zartes Pflänzchen, diese kleine Platane direkt vor dem Europaparlament in Brüssel. Und weil der erste Schnee den Ästen auch das letzte Laub geraubt hat, sieht das Ganze noch kümmerlicher aus. Für Pia Eberhardt aber ist klar: „Dass dieser Baum direkt vor dem Parlament steht, ist ein Skandal.“ Die Platane ist vor elf Jahren gestiftet worden von der Seap, der Society of European Affairs Professionals, einem Verband der Brüsseler Lobbyisten.
Rund 15 000 Menschen, so wird geschätzt, versuchen den politischen Prozess in Brüssel zu beeinflussen. Andere glauben, 30 000 Lobbyisten seien in Brüssel unterwegs. Schließlich haben vier von fünf Gesetzen in Europa direkt oder indirekt hier ihren Ursprung. Und das weckt Begierden. „Wichtige Probleme müssen gelöst werden durch Diskussion und Entscheidung, mit Bestimmtheit, Geduld und Hingabe“, heißt es beschönigend auf der Tafel am Fuße des Baumes. Wer wissen will, wie das Business mit der Hingabe genau läuft, kann mit Pia Eberhardt reden. Die junge Politologin arbeitet für die Lobbykontrollgruppe Corporate Europe Observatory (CEO).
Ein monofunktionales Ghetto
Eberhardt und ihre dreizehn Kollegen wollen die Arbeit der Lobbyisten offenlegen. Einen Lobby-Planeten Brüssel, eine Art Reiseführer der lobbyaktiven Orte in Europas Hauptstadt, hat CEO erstellt und auch eine Lobbystadtführung – ein Streifzug durch das Europaviertel.
„Monofunktionales Ghetto“, nennt Pia Eberhardt den Kiez, weil hier rund 90 000 Menschen tagsüber arbeiten, aber abends alles so schläfrig ist wie auf einem Dorfplatz im Westerwald. Unweit vom Platz Schuman, in der Rue Froissart, macht Pia Eberhardt zum ersten Mal Halt und bleibt vor dem Sitz der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz der EU-Kommission stehen. Deren Chef John Dalli musste im Oktober gehen. Ein Geschäftsmann soll der Tabaklobby ein Treffen mit Dalli für eine Millionensumme angeboten haben. Dalli bestreitet, davon gewusst zu haben.
Aber was ist Lobbying? Pia Eberhardt zitiert aus dem Transparenzregister der EU, in das sich Lobbyisten eintragen müssen. Die werden dort wie folgt definiert: „Menschen, die damit beschäftigt sind, die Politik der EU zu beeinflussen.“ Eberhardt ist diese Definition zu knapp. Ihr fehlt das entscheidende Stichwort: Geld. „Lobbyismus ist Politikbeeinflussung für Geld“, sagt sie.
Aber wie läuft das ab mit der Einflussnahme? Pia Eberhardt bleibt nur ein paar Häuser entfernt von Dallis altem Dienstsitz stehen. Dort ist das European Training Institute beheimatet. Es schult Lobbyisten. Wer nach einem Termin fragt, den empfängt Yves de Lespinay. Der Franzose hat lange für Verbände gearbeitet, seit fünf Jahren ist er Partner und Consultant von ESL, einer Lobbyfirma, die auch Ausbildungskurse anbietet. Tagessatz je nach Beratungsintensität zwischen tausend und siebentausend Euro.
Über eine schmale, steile Treppe kommt man hinauf in De Lespinays Büro. An der Wand hängt ein Plakat von Marseille, der kommenden Kulturhauptstadt Europas. Auch Dank der Arbeit von Yves de Lespinay. Er hat in Brüssel das Lobbying für Marseille übernommen. „Lobbyismus ist der Versuch, die Gesetzgebung zu beeinflussen“, sagt de Lespinay und holt eine Grafik hervor. Sie zeigt die Kurve der Einflussmöglichkeiten.
Die Kurve steigt zunächst steil an, das ist die Anfangsphase, wenn über ein Gesetz noch im Entwurfsstadium geredet wird. Je mehr Leute mitreden, desto stärker sinkt der Einfluss und auch die Kurve. Ist das Gesetz im Parlament, steigt die Kurve nochmal leicht an: Zu diesem Zeitpunkt können die Abgeordneten noch einmal etwas ändern – wenn man sie in die richtige Richtung bewegt. Auf der nächsten Stufe der Gesetzgebung, im Rat der Mitgliedstaaten sinkt die Kurve. Auch in dieser späten Phase lässt sich noch was machen. Aber nur mit viel Aufwand.
Parteikontakte sind nicht so entscheidend
Nichts ist unmöglich in der Welt der Lobbyisten. „Man muss wissen, in welcher Phase sich ein Gesetz befindet“, lautet De Lespinays erste Grundregel. „Ein großer Etat heißt nicht auch automatisch großen Erfolg“, eine andere. Man muss eben wissen, wo man ansetzt. „Brüssel funktioniert anders als Berlin oder andere nationale Hauptstädte.“ Parteikontakte seien nicht so entscheidend, sagt De Lespinay. „Ich habe gute Lobbyisten gesehen, die glaubten, sie könnten hier arbeiten wie daheim in ihrer Hauptstadt. Sie hatten keinen Erfolg.“
Pia Eberhardt bleibt auf ihrer Lobby-Stadtführung nur ein paar Häuser entfernt von de Lespinays Büro stehen. Dort, im Konferenzzentrum Albert Borschette, tagen die sogenannten Expertengruppen der EU – im embryonalen Stadium eines Gesetzes. Hier wird mit Studien hantiert und mit Interessen. Hier also muss der Lobbyist ansetzen. Auch andere Möglichkeiten gibt es, zum Beispiel Frontgruppen bilden. So nennen Experten Tarnorganisationen, die sich wie Bürgerinitiativen gebärden, aber keine sind, weil sie ihr Geld von der Industrie erhalten.
Als Europa zum Beispiel darüber diskutierte, ob auf Twix, Snickers und Co. eine Ampel über Zucker und Fettgehalt Auskunft geben sollte, da tauchte vor zwei Jahren plötzlich eine Gruppe namens „Alliance for Food Transparency“ auf. Im Plenum des Parlaments ließ sie gar Flugblätter auf die Abgeordneten regnen, der Skandal führte zu Nachforschungen. Es kam heraus: Die Allianz war gesponsert von der Lebensmittelindustrie. Ein anderes Mal hatten Bauern der Gruppe „Farmers Food Biotech Network“ Journalisten zum Genfood-Essen in ein nobles Hotel geladen. Finanziert war das Ganze indirekt über die Gentechindustrie.
Weiter geht es durch einen kleinen Park zur Bibliothek Solvay. Der belgische Chemiker entwickelte im 19. Jahrhundert Syntheseverfahren, heute werden in seinem Haus andere Dinge zusammengebracht. Die Security and Defence Agenda (SDA) etwa residiert dort, ein Thinktank, der sich um Sicherheitsfragen und transatlantische Beziehungen kümmert. Streng wissenschaftlich, wie man betont. Pia Eberhardt präsentiert eine Tafel mit den Geldgebern. Darunter sind die Signets von Rüstungsfirmen wie Lockheed Martin und Boeing. Wie es um die streng wissenschaftliche Objektivität bestellt ist, lässt sich erahnen.
Weiter geht es durch das politische Brüssel. Vorbei am Parlament zum Place Luxembourg. Bei Mittagessen werden dort Kontakte gepflegt, zartes Anfüttern nennt man das in der Branche. Gleich dahinter am Place Meeus residieren die großen der Lobbybranche wie der global aufgestellte Kommunikationskonzern Fleishman-Hillard. Die Nähe zum Parlament ist wichtig. Und auch die Hilfe von altgedientem politischem Personal. „Drehtüreffekt“, nennt das Pia Eberhardt. Eben noch in der Kommission, jetzt bei einer Lobbygruppe oder in der Industrie beschäftigt, wie der deutsche Ex-Kommissar Martin Bangemann. Die Willfährigkeit, so ein Insider, setze bereits dann ein, wenn auch nur die Chance auf einen Seitenwechsel besteht. Der Übergang von der Verwaltung zu Lobbyfirmen sei nirgendwo so einfach wie in Brüssel, sagt Eberhardt.
Glaubwürdigkeit ist Kapital
Vor knapp zwei Jahren erschütterte ein Bestechungsskandal auch das Europäische Parlament. Reporter der Londoner Sunday Times boten Abgeordneten Geld und forderten Einflussnahme auf die Gesetzgebung. Zwei Abgeordnete mussten gehen. Was sagen Insider wie Yves de Lespinay? „Ich habe zwei Säulen meines Kapitals: Mein Adressbuch und meine Glaubwürdigkeit.“ Geld lehne er ab, ebenso wie Schmutzkampagnen.
Das Parlament reagierte und gab sich einen Verhaltenskodex. Doch dem Grünen Abgeordneten Sven Giegold geht das nicht weit genug. Er hat selbst erlebt, wie erdrückend die Macht der Lobby werden kann. Im Zuge der Finanzkrise stellten die Europa-Parlamentarier fest, dass sie zu Finanzthemen ganz einseitig, fast nur von Vertretern der Finanzindustrie, informiert werden. Im Sommer 2010 riefen 22 Parlamentarier deshalb dazu auf, eine Gegenlobby zu gründen und finanzierten sogar ihren Aufbau mit: Entstanden ist Finance Watch.
Giegold fordert „eine stärkere Trennung zwischen Politik und Vertretern von Partikularinteressen“. Er verlangt ein Transparenzregister nach Vorbild des US-Kongresses. „Dort muss offengelegt werden, wer an Beratungen zu Gesetzen teilgenommen hat.“ Zudem fordert der Grüne eine Karenzzeit für EU-Kommissare. „In den ersten 18 Monaten nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt sollen sie keinen Job annehmen dürfen.“ Helfen könnte auch eine Begrenzung der Wahlkampfmittel. „Die Parteien verlassen sich dann mehr auf ihre Mitglieder als auf Spenden der Industrie.“ Giegolds Fazit: „Exzessives Lobbying verträgt sich nicht mit dem Gleichheitsprinzip der Demokratie: One man, one vote.“