Sven Giegold

Für eine Europäische Demokratie: Wirtschaftliche und politische Macht trennen

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Für eine europäische Demokratie: Wirtschaftliche und politische Macht trennen

Liebe Freundinnen und Freunde,

vor fünf Jahren habt Ihr mir als Aktiven aus der Umwelt und globalisierungskritischen Bewegung viel Vertrauen geschenkt und mich auf die Liste zum Europaparlament gewählt. Realpolitik sollte ich machen. Kompromisse schließen. Und das auch noch in dem angeblich so einflusslosen Europaparlament. War das nicht Verrat an meinen Träumen und Werten?

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Ich weiß, dass Politik nicht der Ort ist, wo man zuallererst Glück suchen sollte – und Träume verwirklichen. Aber wie soll ich Euch beschreiben, was es für mich bedeutet hat, dass ich fast 15 Jahre nach der Gründung von Attac im Europaparlament Berichterstatter sein konnte, als wir die 130 größten Banken unter scharfe und demokratische Kontrolle der EU gestellt haben – Banken, die es wahrlich toll mit uns allen getrieben haben. Vor zwei Wochen haben wir noch einen drauf gesetzt. Als Grüner Schattenbericht­erstatter konnte ich dazu beigetragen, dass der Spekulation mit Nahrungsmitteln endlich enge Grenzen gesetzt werden. Die Preistreiberei des Finanzkapitals auf Kosten der Hungernden wird in Europa nicht mehr stattfinden! Das ist der Erfolg einer grandiosen europaweiten Kampagne der Entwicklungsorganisationen, Kirchen, Campact, Attac und vieler anderer. Das ist funktionierende Europäische Demokratie! Das ist der Schulterschluss der Bürgerinnen und Bürger mit den europäischen Institutionen, um wirtschaftliche Macht mit Hilfe Europas wiedereinzubetten und zu zivilisieren. Ja, wir können unsere Träume erfüllen. Nahrungsmittelspekulationen beenden. Steueroasen austrocken. Den Klimaschutz effektiv vorantreiben. Wenn wir gemeinsam kämpfen – Bürgerbewegung und Politik – können wir soziale Rechte, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte sichern und verbreitern! Bei uns zuhause und im Rest der Welt. Wenn wir das nur in Deutschland versuchen, werden wir scheitern. Nur Europa hat den Einfluss dazu. Das ist mein Traum: Dass diese Erde auch für unsere Kinder noch lebenswert bleibt. Nicht nur hier in Deutschland. Überall. Leider nur träumt Angela Merkel nicht denselben Traum. Was sollen all die Sonntagspredigten zu Europa? Schauen wir uns doch mal die Realität an: In Griechenland verpflichtete die Troika das Land die Gesundheitsausgaben auf 6% des BIP zu begrenzen. Zuschüsse für Krankenhäuser wurden um 40% gesenkt. Behandlungsgebühren unabhängig vom Einkommen drastisch erhöht. In Spanien wurden Migranten ohne Papiere von der Krankenversorgung ausgeschlossen. Das sind nur Beispiele für so viele Grundrechtsverletzungen, die auf Druck einer undemokratischen Troika eingeführt wurden.

Ich will nicht missverstanden werden: Nach dem schuldenfinanzierten Boom waren und sind Einschnitte und Reformen notwendig. Aber die Troika-Programme waren einseitig, Kosten bei den Schwachen abgeladen, die Vermögen aus den Boomjahren wurden nirgendwo mit einer Vermögensabgabe belastet, die Griechischen Reeder zahlen immer noch keine Steuern. Es gab eine gemeinsame Sparpolitik, aber keine gemeinsame Europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die Fehler beim Euro-Start ausgleichte. Die kleinen Leute sollen ihren Gürtel enger schnallen. Jeder vierte ist arbeitslos in den Krisenländern. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Schaut Euch doch mal hier in dem Saal um: eins, zwei, drei, vier-arbeitslos. Eins, zwei, drei, vier-arbeitslos. Was meint Ihr, was hier in diesem Saal los wäre, wenn jeder vierte von uns keinen Job hätte. Was meint Ihr, was es für die Gesellschaft in Spanien, Portugal und Griechenland bedeutet?
Merkel hat sich mit all zu oft korrupten “Eliten” gegen die Bürger in den Krisenländern verbündet. Warum gibt es keine Vermögensabgabe in Griechenland oder Spanien? Weil Frau Merkel Angst hat, dass das ansteckend sein könnte und auch Deutschland sich sozialer Gerechtigkeit nicht mehr verschließen könnte. Dabei fordern selbst IWF und Bundesbank eine Vermögensabgabe in Europa anstatt dieser desaströsen Austeritätspolitik. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: die Bastionen konservativster Wirtschaftsdoktrin schließen sich unseren grünen Positionen an. Aber Frau Merkel treibt lieber den Keil in Europa. Mit der einseitigen Politik der Troika wirft sie die Europa dem Zorn der Menschen zum Fraß vor.

Diese Politik wurde beschlossen – vorbei am Europäischen Parlament und gegen die Europäischen Verträge. Die Bundesregierung schwadroniert gerne von Vertragsänderungen für eine politische Union praktiziert aber Intergouvernementalismus auf Kosten des Europaparlaments. Merkels Krisenpolitik hat die Gewaltenteilung auf dem Gewissen. Und nicht nur das. Frau Merkel zerstört die Demokratie in Europa. Wenn es nur die intransparente Euro-Regierung im Hinterzimmer wäre. Es ist ja noch viel gefährlicher: Noch den 70er Jahren waren in Spanien, Portugal und Griechenland faschistische Diktaturen an der Macht. Was glaubt Ihr, was 50% Jugendarbeitslosigkeit über viele Jahre in einer Gesellschaft anrichten? Was glaubt Ihr, was hier los wäre! Jeder zweite Jugendliche ohne Perspektive. Was glaubt Ihr, wie lange unsere Gesellschaft das aushalten würde. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was es bedeuten würde, wenn in Spanien oder Griechenland extremistische Parteien die Macht übernehmen würden. Die Konflikte zwischen der Türkei und Griechenland schwelen doch immer noch. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Frau Merkel leichtfertig die Demokratie in Europa aufs Spiel setzt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Europaskepsis verbreitet. Lasst uns mit unserer Vision einer Europäischen Demokratie antworten! Was jetzt ansteht, ist eine Demokratieoffensive in Europa – auf ganz verschiedenen Ebenen.

Wir im Europaparlament werden dafür kämpfen, dass das Europa der Hinterzimmer aufhört. Wir werden mit aller Macht gegen Merkels Politik der undemokratischen zwischenstaatlichen Verträge kämpfen. Nur mit einem starken Europaparlament können wir das Europa der Kurfürsten beenden. Europäische Demokratie fängt zuerst mit der Einhaltung der Grundrechte an. Wir werden es nicht tolerieren, dass europäische Bürger wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden nur weil sie aus Rumänien oder Bulgarien kommen. So wie wir Grüne immer für die Rechte von Minderheiten in Deutschland gekämpft haben, so werden wir auch dafür sorgen, dass in Europa Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz herrscht. Dazu gehört auch die Gleichheit vor dem Steuergesetz. Ich bin schon gespannt, wie die Amigowirtschaft in Bayern ausgeht. Ob der Spezl Ministerpräsident mit dem Spezl Staatsanwalt dem Spezl Uli Hoeneß ein Auge aushacken werden. Aber dazu gehören erst einmal Gesetze, die dafür sorgen, dass man nicht mehr ganz legal seine Steuern vermeidet.

In Rheinberg im niederrheinischen Kreis Wesel hat der Internetriese Amazon ein Versandzentrum gebaut. Dort arbeiten 4.000 Beschäftigte. Die meisten zu Hungerlöhnen. In der Kreisstadt gibt es auch die Buchhandlung am Dom, die Buchhandlung Korn, die Mayersche Buchhandlung und die Buchhandlung zeilenreich. Noch. Zwischen Amazon&Co und den lokal verwurzelten Händlern herrscht ein gnadenlos unfairer Wettbewerb. Amazon verschickt seine Pakete per Lieferservice und sozialisiert die ökologischen Kosten. Während die kleinen Buchhändler einer nach dem anderen pleite gehen, erwirtschaftet Amazon in Deutschland 6 Mrd. Euro jährlich. Steuern zahlen aber nur die kleinen. Amazon sitzt in Luxemburg und drückt sich um die Gewerbesteuer im Kreis Wesel. Und mit seinen komplexen gesellschaftsrechtlichen Schachtelkonstruktionen, Zweckgesellschaften in Luxemburg, Irland usw. können die in Deutschland erwirtschafteten Gewinne steuerfrei in die USA geschleust werden. Doch auf Druck des BDI halten CDU, CSU und SPD in Berlin ihre schützende Hand über Amazon, google, Starbucks & co.  Wie auf S. 95 im Koalitionsvertrag ausdrücklich festgelegt, engagiert sich die Große Koalition in Brüssel gegen Steuertransparenz für Konzerne. Liebe Freundinnen und Freunde, wir Grüne im Europaparlament werden dafür sorgen, dass mit diesem unfairen Wettbewerb, mit diesem Steuerdumping im Binnenmarkt endlich Schluss gemacht wird!

Wir werden auch dafür sorgen, dass die Politik nicht mehr von Lobbyisten diktiert wird. Große Rückschläge für den Klimaschutz, Bankenkontrolle, Verbraucherschutz,  für unseren grünen Wandel kamen immer durch bestens organisierte Lobbys. Wir brauchen endlich Gesetze, die wirtschaftliche Macht von politischer Macht trennen. Alle Lobbyaktivitäten müssen aus den Dunkelkammern heraus und ans Tageslicht. Dafür werden wir in Europa kämpfen! Und wir werden uns auch für die lokale Demokratie einsetzen: Europäische Demokratie schützt das Lokale, uns Grünen ging es noch nie um Zentralisierung, uns geht es um Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe, Basisdemokratie, direkte Mitbestimmung der Bürger. Wir Grüne haben im Europaparlament dafür gesorgt, dass die Vergaberechte vernünftig geregelt werden, dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken eine Chance gegen Großbanken haben und im Schulterschluss gemeinsam mit Euch Kommunalos und mit den vielen Bürgerbewegungen in Europa haben wir die Wasserprivatisierung verhindert.

Und wir werden dafür kämpfen, dass all unsere Werte, unsere Sozial- und Umweltstandards nicht durch ein von der Lobby diktiertes im Hinterzimmer ausgehandeltes Freihandelsabkommen zu Nichte gemacht werden. Wir sind nicht blind gegen Freihandel. Wir wollen auch Jobs in Europa. Aber bitte schön nur demokratisch. Warum scheut denn das Verhandlungsteam das Licht der Öffentlichkeit? Weil sie doch wissen, dass es demokratisch niemals möglich wäre, unsere mühsam erreichten Sozial- und Umweltstandards durch so ein unfassbares TTIP auszuhebeln. Gemeinsam mit Euch, mit den vielen NGOs wie campact, attac und all den anderen und mit den vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern werden wir im Europaparlament dafür sorgen, dass es keinen Lobbydiktiertes TTIP geben wird. Lasst uns diese Europawahl nutzen, um ein Zeichen zu setzen. Für soziale Gerechtigkeit. Für Nachhaltigkeit und Ökologie. Für Solidarität mit den Krisenländern. Für Gleichheit vor dem Gesetz. Für Gesetze, die nicht von der Lobby diktiert werden. Für einen GreenNewDeal.  Und vor allem für die Demokratie in Europa.
Ich danke Euch