Sven Giegold

GameStop-Wahnsinn legt Ineffizienz der Aktienmärkte schonungslos offen

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Interessierte,

es ist ein Kampf zwischen David und Goliath, der sich seit rund einer Woche um die Aktie der Firma GameStop entfaltet. Auf der einen Seite: Die ganz großen der Finanzbranche, allen voran amerikanische Hedgefonds. Auf der anderen: Ein Schwarm internetaffiner Kleinanleger*innen, der die Hedgefonds mit ihren eigenen Waffen schlagen will. Mit einer Art Finanz-Flashmob treiben die Anleger*innen die Aktie in die Höhe und damit die Hedgefonds in die Verluste – bisher mit Erfolg. Während der vermeintliche Triumph der Underdogs bei vielen Sympathien auslöst, herrscht in Teilen der Finanzbranche blankes Entsetzen. Die ehemalige amerikanische Präsidentschaftskandidaten Elizabeth Warren kommentierte treffend: “Plötzlich schreien die Milliardäre und manche Hedgefonds auf, weil sie nicht mehr die einzigen sind, die an erfolgreicher Manipulation Geld verdienen”. Wie das verrückte Spektakel ausgeht, bleibt abzuwarten. Doch schon jetzt stellen sich viele Fragen. Auf meine Initiative hin wird sich deshalb der Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europaparlaments demnächst in einer Expert*innenanhörung mit dem Thema beschäftigen. Insbesondere werden wir die europäische Marktaufsichtsbehörde ESMA bitten, die Ereignisse der vergangenen Tage zu untersuchen und eine Bewertung aus europäischer Perspektive vorzunehmen.

Worum geht es? Im Zentrum des Geschehens steht der amerikanische Videospielhändler GameStop. Noch am 21. Januar notierte die Gamestop-Aktie an der New Yorker Börse bei knapp über 40 Dollar. Nur eine Woche später wurden zwischenzeitlich fast 500 Dollar für die Aktie bezahlt. Auslöser für diese beispiellose Kursexplosion war mutmaßlich ein Ansturm von Kleinanleger*innen auf die Aktie. Zuvor wurde in Internetforen, vor allem auf der Plattform reddit, und in den sozialen Netzwerken zum Kauf der Aktie aufgerufen. Das erklärte Kalkül: Wenn sehr viele Kleinanleger*innen gemeinsam agieren, können sie den Preis der Aktie nach oben treiben. Steigt der Preis hoch genug, kommen irgendwann die Hedgefonds in Bedrängnis, die mit sogenannten Leerverkäufen auf einen Absturz der Aktie gewettet haben. Von diesen “Shortsellern” gab es bei GameStop-Aktie besonders viele. Um weitere Verluste zu verhindern, müssen die Hedgefonds irgendwann selbst Aktien kaufen – und damit den Kurs der Aktie weiter anfeuern. So entsteht ein sich selbst verstärkender Effekt, der den Aktienwert in schwindelerregende Höhen treiben kann. Man spricht von einem “Short Squeeze”, weil die Leerverkäufer dabei regelrecht ausgequetscht werden. Gleichzeitig zog bei GameStop der immer größer werdende Hype im Internet stetig neue Kleinanleger*innen an. Schätzungen zufolge verloren Hedgefonds nur aufgrund der GameStop-Aktie binnen einer Woche fast 20 Milliarden Dollar. Längst hat sich der Schwarm der Kleinanleger*innen auch andere Titel vorgeknöpft, bei denen ebenfalls große Shortpositionen existierten. Unter anderem beim Kinobetreiber AMC, bei Nokia und bei Blackberry kam es so seither zu deutlichen Kurssteigerungen. Ausgang: offen.

Klar ist: Mit Fundamentaldaten sind die Kursbewegungen der vergangenen Tage nicht zu rechtfertigen. Wenn es sich um einen kuriosen Einzelfall handeln würde, wäre das kein großes Problem. Der GameStop-Kursverlauf legt jedoch systematische Defizite in der Preisbildung offen. Das ist schlecht, denn den Finanzmärkten kommt eine wichtige Rolle bei der Information von Investoren und Geschäftspartner*innen von Unternehmen zu. Zwar war der Glaube an effiziente Märkte schon immer illusorisch und der Informationsgehalt beschränkt, doch einige aktuelle Entwicklungen scheinen die Marktintegrität in besonderer Weise zu beeinträchtigen:

Massive Leerverkäufe: Eine entscheidende Rolle bei den Vorgängen um GameStop spielen die Leerverkäufe, mit denen große institutionelle Investoren, zum Beispiel Hedgefonds, auf fallende Kurse wetten. Dazu leihen sie sich Aktien bei anderen Investoren, etwa bei Investmentfonds, die sie zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeben müssen. Anstatt die Aktien einfach zu behalten, verkaufen die Shortseller diese am Markt und hoffen, sie später wieder zu einem günstigeren Preis zurückkaufen zu können. Je billiger die Aktie bei Ablauf der Leihe, desto größer der Gewinn. Umgekehrt können große Verluste auftreten, wenn der Preis der Aktie steigt. Grundsätzlich können Leerverkäufe ein wichtiges Korrektiv für die Aktienmärkte sein. Exzessive Leerverkäufe jedoch erzeugen Instabilitäten. Bei GameStop zeigen die Daten, dass Investoren mehr Aktien leerverkauft hatten, als überhaupt im Umlauf waren. Das ist prinzipiell möglich, weil Aktien mehrfach verliehen und verkauft werden können. Allerdings ist damit bei steigenden Kursen Panik natürlich vorprogrammiert, wenn sich alle Leerverkäufer in einem viel zu kleinen Markt eindecken müssen. Ich werde vorschlagen, dass wir hier eine stärkere Begrenzung ins Auge fassen, um solche Short Squeezes in Zukunft unwahrscheinlicher zu machen.

Spekulativer Handel durch Kleinanleger: Die enorme Beteiligung von Kleinanleger*innen wurde ermöglicht durch eine neue Generation von Online-Brokern wie Robinhood oder Trade Republic, die ihren Kund*innen kommissionsfreien Wertpapierhandel via App anbieten. Deren Nutzerzahlen stiegen vor allem während der Corona-Krise noch einmal massiv an, weil Lockdowns weltweit Kleinanleger*innen freie Zeit und ungenutzte Mittel beschert hatten. Dass junge Firmen mit attraktiven Angeboten den Markt aufmischen, ist aus Konsumentensicht natürlich zunächst einmal sehr positiv. Doch es gibt auch kritische Aspekte. Warum viele dieser Broker in den vergangenen Tagen immer wieder den Handel für Kleinanleger*innen ausgesetzt haben, sollte untersucht werden. Außerdem basiert das gebührenfreie Modell darauf, dass Gebühren indirekt über die Ausübungspreise erhoben werden, was vielen Nutzer*innen nicht klar ist. Das Neue am Fall GameStop ist, dass uninformierte Kleinanleger*innen massenweise ihre Anlageentscheidung aufgrund eines Internetphänomens getroffen haben. Die Grenze zwischen legitimer Investmentempfehlung und Marktmanipulation verläuft dabei fließend. Das schadet mittelfristig sowohl der Markteffizienz als auch den Kleinanlegern*innen selbst. Die Preisfindung, eigentlich Aufgabe der Aktienmärkte, wird zusätzlich verzerrt. Auch der aktuelle GameStop-Kurs ist eine eindeutige Blase, die irgendwann platzen wird. Meine Befürchtung ist, dass professionelle Anleger*innen den Ausstieg eher schaffen werden und der Großteil der Verluste von Kleinanleger*innen getragen wird. Ich finde, Kleinanleger*innen sollten grundsätzlich das Recht besitzen, auch riskante oder unvernünftige Investitionen zu tätigen. Wichtig ist mir aber, dass sie diese Entscheidung frei treffen und dabei nicht von Finanzdienstleistern gelockt werden, die an Provisionen verdienen. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir uns die Geschäftspraktiken der neuen Online-Broker noch einmal genau ansehen.

Liquiditätsschwemme auf den Aktienmärkten: Die anhaltend aktivistische Geldpolitik und das Niedrigzinsumfeld haben in den letzten Jahren zu einer noch nie dagewesenen Liquidität an den Aktienmärkten geführt. Auf der Suche nach Rendite investieren Anleger*innen in praktisch alles, was Einkünfte verspricht. Auch die stetig wachsende Bedeutung regelbasierter Anlageformen wie ETFs sorgen für eine erhebliche Nachfrage. Bei GameStop sind zum Beispiel mehr als ein Viertel der Aktien im Besitz der großen Vermögensverwalter BlackRock und Fidelity. Aus Anlegersicht sind ETFs, die die Wertentwicklung eines Index abbilden, ein gutes Produkt, da niedrige Gebühren anfallen und das Risiko breit gestreut ist. Diesen Anlageformen ist jedoch gemein, dass sie die Informationseffizienz der Märkte senken, weil sie nur wenig an Fundamentaldaten orientiert sind und oft durch schiere Nachfrage die Preise an den Aktienmärkten treiben.

Der Fall GameStop führt mir erneut vor Augen, wie wenig effizient die Finanzmärkte oft funktionieren. Diese haben bei der Preisfindung eigentlich eine wichtige ökonomische Rolle zu erfüllen. Doch exzessive Spekulation, die Dominanz regelbasierter Investments oder neuerdings auch die Finanz-Flashmobs internetaffiner Kleinanleger*innen verzerren das Bild. Riesige Vermögensverwalter wie BlackRock besitzen nennenswerte Anteile des Gesamtmarktes und verfügen so über enorme Marktmacht. Viele fordern zurecht eine Demokratisierung der Finanzmärkte. Damit das nicht auf Kosten von Marktintegrität und Markteffizienz geht, müssen wir dabei die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Der Fall GameStop zeigt, wo wir noch einmal genauer hinsehen müssen.

Mit grünen europäischen Grüßen
Sven Giegold

 

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Rubrik: Europaparlament, Wirtschaft & Währung

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