Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Mai 2014
Die EU-Abgeordneten haben erheblichen Einfluss auf EU-Gesetze, besonders in der Wirtschaftspolitik. Bekannt ist kaum einer von ihnen.
Von Hendrik Kafsack und Werner Mussler
BRÜSSEL, 12. Mai. Martin Schulz hat es geschafft: Der Präsident des Europaparlaments ist in Deutschland bekannt, und dies nicht erst seitdem er zum Spitzenkandidaten der europäischen Sozialisten für die Europawahl am 25. Mai ausgerufen wurde. Schulz gilt als das Gesicht des Parlaments. Das liegt daran, dass der SPD-Politiker sein Präsidentenamt, das er seit 2012 innehat, immer zur eigenen Profilierung genutzt hat. In Deutschland werfen ihm Union, Grüne, Linke und Liberale seit einiger Zeit vor, er missbrauche sein Amt zu Wahlkampfzwecken. Hinter vorgehaltener Hand sind sich indes auch die Kritiker einig: Etwas Besseres als Schulz hätte dem Parlament nicht passieren können. Denn die meisten Europaabgeordneten sind und bleiben unbekannt.
Das ist kein Grund, sie zu unterschätzen. Sie haben enormen Einfluss auf die Gesetzgebung der EU. Schließlich ist das Parlament seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf beinahe allen Feldern gleichberechtigt mit dem Ministerrat bei der Verabschiedung neuer Richtlinien und Verordnungen. Für Wirtschaftsthemen gilt das besonders. Weil für jede neue Regelung ein Abgeordneter als Berichterstatter die Federführung für die Debatte im EU-Parlament erhält, spielt der einzelne dabei eine wichtige Rolle. Die Macht des Parlaments in der Gesetzgebung hängt in der Regel von zweierlei ab: der Fachkenntnis der in der Regel wenig bekannten zuständigen Abgeordneten – und ihrer Fähigkeit, parteiübergreifend eine gemeinsame Parlamentsposition für die Verhandlungen mit dem Ministerrat zu schmieden.
Geradezu exemplarisch hat sich das in der Euro-Krise gezeigt, in der das Parlament zunächst kein entscheidender Spieler war. Für das Krisenmanagement waren die EU-Staaten zuständig, deren Staats- und Regierungschefs und Finanzminister sich auf zahllosen Brüsseler Krisentreffen neue Rettungsmechanismen zurechtzimmerten. Der wichtigste, der Krisenfonds ESM, bleibt eine zwischenstaatliche Einrichtung – weil das Geld, das in den Fonds eingezahlt wurde, von den Eurostaaten kommt. Zwar hatten alle Parlamentarier ihre Meinung zur Krise und taten diese kund. Einfluss auf die unmittelbare Krisenbewältigung hatten sie aber nicht.
Anders sah es dann bei den neuen Gesetzen zur Krisenprävention aus, an denen das Parlament seit 2011 mitgearbeitet hat. Die Vorschläge von EU-Kommission und Finanzministern haben die Abgeordneten teilweise erheblich verändert. Das gilt für die neuen Regeln für die Überwachung der Haushaltspolitik der Staaten, noch stärker gilt es für die Bankenunion. Es waren letztlich vier Abgeordnete, die die Parlamentslinie bestimmten: die niederländische Christdemokratin Corien Wortmann, die portugiesische Sozialistin Elisa Ferreira, die französische Liberale Sylvie Goulard – und als einziger Deutscher der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold.
Giegold, der dem Parlament erst seit 2009 angehört, kandidiert jetzt auf der deutschen Grünen-Liste auf Platz 2 und darf sich deshalb Spitzenkandidat nennen. Unter den deutschen Wirtschaftspolitikern im Parlament ist er einer der wenigen, die öffentlich wahrgenommen werden. Das liegt nicht nur an seinem ausgeprägten Sendungsbewusstsein, sondern auch an seiner Kompetenz. Auch die Gegner des 44 Jahre alten Ökonomen bescheinigen ihm, dass er praktisch alle schwierigen Finanzmarktdossiers inhaltlich beherrscht und analytisch zu durchdringen vermag.
Nur aufgrund der akribischen Detailarbeit der Fachparlamentarier konnte Schulz im Januar, nachdem die Finanzminister nach langem Streit einen Kompromiss über die Regeln der Abwicklung maroder Banken gefunden hatten, den starken Mann geben und damit drohen, dass das Parlament die Verhandlungen scheitern lasse. Natürlich spielten ihm dabei auch die sonstigen politischen Rahmenbedingungen in die Hände. Denn ein Scheitern vor der Europawahl wollten die Minister aus Angst vor negativen Reaktionen der Finanzmärkte unbedingt vermeiden. In den Kompromiss, der im März zu Stande kam, gingen dann zentrale Parlamentsforderungen ein. Schulz sprach in diesem Fall zu Recht von einem „riesigen Erfolg“.
Im Sommer 2013 wusste sich Schulz in den Verhandlungen über den EU-Haushalt 2014 bis 2020 ähnlich in Szene zu setzen. Zunächst hatte der erfahrene Haushaltspolitiker Reimer Böge (CDU) die Linie des Parlaments in den Gesprächen über Ausgaben und Einnahmen der EU geprägt. Aus Frust über die mangelnde Kompromissfähigkeit der Staaten trat der Fachpolitiker Böge im Juni als Verhandlungsführer zurück. Schulz drohte daraufhin kurz mit einem Veto des Parlaments, setzte eine – minimale – Aufstockung des Budgets durch und ließ sich deshalb feiern.
Fast alle anderen wirtschaftspolitischen Themen der ablaufenden Legislaturperiode, auf die deutsche Abgeordnete Einfluss hatten, wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und blieben damit auch für Schulz uninteressant. Profilieren konnten sich dennoch einige Parlamentarier, etwa der Grüne Jan Philipp Albrecht als Berichterstatter für die neuen EU-Datenschutzregeln. Im Zuge der NSA-Spionageaffäre machte sich ausgerechnet der mit 31 Jahren jüngste deutsche EU-Abgeordnete auch in Deutschland einen Namen. In der Klimapolitik, von der Diskussion über die Grenzwerte für CO2-Emissionen von Autos bis hin zur Einbeziehung des Luftverkehrs in den europäischen Emissionshandel, spielten der Vorsitzende des Umweltausschusses, Matthias Groote (SPD), und der CDU-Politiker Peter Liese eine zentrale Rolle.
Wegen der Euro-Krise war aber der Wirtschafts- und Währungsausschuss der wichtigste Ausschuss der Legislaturperiode. Die anderen dort vertretenen deutschen Abgeordneten betreuten teils zwar bedeutende Dossiers, hatten innerhalb ihrer Fraktionen aber weniger zu sagen als Giegold, der wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen. Der SPD-Abgeordnete Peter Simon war Berichterstatter für die Einlagensicherungsrichtlinie, mehr als ein Ersatzspieler in den Beratungen zur Bankenunion war er aber nicht. Sein Parteifreund Udo Bullmann, der seinen Protest gegen die angeblich wachstumsfeindliche Sparpolitik in den Eurostaaten früher beinahe täglich kundtat, ist ruhiger geworden, seitdem er 2012 Chef der SPD-Gruppe im Parlament wurde.
Auch der Einfluss der Unionsabgeordneten im Ausschuss ist – anders als früher – überschaubar. Ähnlich wie sein SPD-Kollege Bullmann profilierte sich auch Markus Ferber (CSU) vor allem als Chef seiner Gruppe und weniger als Fachpolitiker. Die schwierige Finanzmarktrichtlinie Mifid betreute er indes souverän. Die CDU-Abgeordneten Werner Langen und Burkhard Balz waren zwar für ebenfalls schwierige Einzelfragen der Finanzmarktregulierung zuständig, hatten aber mit den Schlussberatungen der Bankenunion kaum noch etwas zu tun. Ein fleißiger Einzelkämpfer war der Linken-Politiker Jürgen Klute, zuständig unter anderem für das „Konto für jedermann“. Wolf Klinz, der einzige FDP-Abgeordnete im Ausschuss, verlor in seiner zweiten Amtszeit weitgehend an Einfluss. Dennoch will es der mittlerweile 72 Jahre alte Klinz noch einmal wissen: Er kandidiert noch einmaå auf Listenplatz 5. Ob der für ihn noch reicht, ist indes fraglich.
Ihr Einfluss sollte nicht unterschätzt werden: Die EU-Abgeordneten im Parlament in Straßburg