Sven Giegold

Meine 5-Jahres-Bilanz zum Wahltag

Liebe Freundinnen und Freunde,

Liebe Interessierte,

nach 5 Jahren Arbeit im Europaparlament und mit der angesammelten Erfahrung der fünf Jahre davor kann ich zurückblickend sagen: Das Europaparlament ist ein mächtiger Ort. Es ist ein Parlament, das viel stärker ist als sein Ruf. Inzwischen wusste ich, wie dort der Hase läuft und konnte noch mehr als in den ersten fünf Jahren erreichen. Denn im Europaparlament kann man Veränderungen durchsetzen, vor allem aus einer entschieden pro-europäischen Position heraus. Mit dieser Bilanz möchte ich Euch zurückberichten, was ich dort geschafft habe, aber auch womit ich gescheitert bin und warum. Mir selbst und allen, die mich unterstützt haben, kann ich aufrichtig ins Gesicht sagen: Die erneuten fünf Jahre harter Arbeit mit meinem Team haben sich gelohnt. Lest selbst!

Heute werden Ihr und Sie als Wählerinnen und Wähler einen langen Wahlzettel vor sich haben. Aber wir Grünen sind es, die den Wählerstimmen dieses Mal besonderes politisches Gewicht für Veränderung verleihen. Wir haben im Europaparlament schon so viel erreicht: mehr Klimaschutz, verbindliche Lobbytransparenz, starken Datenschutz, mehr Steuergerechtigkeit, eine Mehrheit für bessere Bedingungen bei Tiertransporten und vieles mehr!

Und mit jedem weiteren grünen Abgeordneten können wir die nächste EU-Kommission auf mehr grüne Politik verpflichten. Denn die große Koalition von Christdemokraten und Sozialdemokraten wird in Brüssel ihre Mehrheit verlieren und auf weitere pro-europäische Stimmen angewiesen sein, schon um eine neue EU-Kommission zu wählen. Deshalb ist jede grüne Stimme, ein Stück mehr grüne Politik in Europa! Wer Sonntag in Deutschland Grün wählt, bekommt in den nächsten 5 Jahre grüne Ergebnisse in Brüssel!

Aber, ein starkes grünes Ergebnis wirkt nicht nur in Europa, sondern es wird auch die Politik in Deutschland ändern. Wenn wir es gemeinsam schaffen, dass am Sonntagabend der Wahlsieger Grün und nicht AfD heißt, dann kann die große Koalition ihre europapolitische Blockade nicht mehr fortsetzen, dann kann die Bundesregierung Investitionen in den europäischen Zusammenhalt nicht mehr verhindern, dann kann Herr Scholz mehr Steuertransparenz nicht länger behindern, dann kann die GroKo konsequenten Klimaschutz nicht länger verweigern.

Kurzum: Ich bitte Sie und Euch bei dieser Wahl Bündnis 90/Die Grünen zu unterstützen! Helft mir erfolgreiche Arbeit in Brüssel mit Verstärkung fortzusetzen.

Mit europäischen grünen Grüßen

Euer und Ihr Sven Giegold

 

Meine Bilanz 2014-2019

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Liebe Interessierte,

eine Wahlkampftour ist eine gute Zeit, um über Grundsätzliches nachzudenken. Die Fragen der Bürgerinnen und Bürger fordern zum Nachdenken heraus. Auch auf einer anderen Ebene als Einzelfragen: Täglich werde ich mehrmals vor einem Publikum vorgestellt. Besonders bei einem Punkt beginnt es in meinem Hirn zu rattern: Seit 10 Jahren schon bin ich Mitglied des Europäischen Parlaments und bin damit schon ein langgedienter Abgeordneter. Doch umso mehr ist das Grund vor sich selbst und vor den eigenen Freundinnen und Freunden sowie Unterstützerinnen und Unterstützern nachzudenken, was die Arbeit eigentlich gebracht hat. Was ich erreichen konnte und warum, genauso wie was ich nicht erreichen konnte und warum nicht.

Klar, war mein Gefühl bei der Arbeit im Europaparlament zu Beginn der zweiten  Legislaturperiode ganz anders als bei der ersten. Vieles fühlte sich vor fünf Jahren vertraut an, was vor 10 Jahren fremd war. Die großen Gebäude, die vielen Leute, die einen mal hofieren oder auch mal befremdet anschauen. Doch gleichzeitig gibt es Vieles, an das ich mich bis heute nicht gewöhnt habe. Das viele Fleisch bei den meisten Veranstaltungen. Die dicken Autos des Fahrdienstes. Und die Aufbietung von Luxus ohne viel Sinn und Verstand.

Politisch gab es von der ersten zur zweiten Legislaturperiode einen großen Unterschied: die erste Welle an Gesetzesänderungen nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise war durch die Europäischen Institutionen beschlossen worden. Die Erschütterung der Macht von Finanzmarktakteuren hatte sich deutlich vermindert. Die traditionelle Finanzlobby hatte zu altem Einfluss gefunden. Für die meisten meiner Kolleg*innen im Europaparlament war das Standardargument wieder einleuchtend: Zu strenge Finanzmarktregulierungen für Banken, Versicherungen und Fonds bremsen das Wachstum der Realwirtschaft. Dabei gibt es dafür gar keine überzeugenden Belege. Jedenfalls war damit klar: Anders als in der ersten Legislaturperiode kann ich mich nicht mehr auf die Chancen verlassen, die sich aus der Finanzkrise ergeben. Das ist deshalb bitter, weil die Finanzkrise ja keineswegs überwunden ist. Wir haben zwar wichtige Dinge durchgesetzt: So ist die Eigenkapitalausstattung der Banken höher und vor allem liegt die Aufsicht über die Großbanken nun bei der EZB. Aber: Stabil ist weder das Finanzsystem noch unsere Gemeinschaftswährung Euro. Doch bevor ich mir weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, ergab sich direkt nach der Europawahl 2014 eine neue Chance: Die LuxLeaks belasteten den designierten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker schwer, dass unter seiner Amtsführung systematisch Großunternehmen Sondersteuer-Deals bekamen. Darin lag eine Chance für eine Offensive gegen Steuerdumping, Steueroasen und Finanzkriminalität. In einer kleinen Kampagne gelang es mir, zusammen mit Kolleg*innen, ausreichend Unterschriften für einen Untersuchungsausschuss zu sammeln. Der kam letztlich nach diversen Tricks von u.a. Parlamentspräsident Martin Schulz nicht zustande. Aber wir bekamen einen Sonderausschuss und später noch einen Untersuchungsausschuss zu den später veröffentlichten PanamaPapers und noch zwei weitere Sonderausschüsse im gleichen Themenfeld.

Im Rahmen dieses Ausschusses konnte ich gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Sebastian Mack aufklären, warum über nun mindestens 20 Jahre die Mitgliedstaaten gegen Steuerdumping so wenig auf die Reihe bekommen haben. Dabei haben wir eng mit dem damaligen Europaabgeordneten Fabio De Masi zusammengearbeitet. Das Ergebnis: Im Schutz der Geheimhaltung von wichtigen Ratsarbeitsgruppen der Mitgliedsländer blockiert vor allem Luxemburg, Belgien und die Niederlande wichtige Fortschritte gegen Steuerdumping. Doch das wirklich erschütternde war: Die geschädigten Staaten wie Deutschland, Frankreich und Italien wehrten sich kaum. Das hat sich bis heute nicht geändert. Und das zeigt: Gerade im Geheimen üben mächtige Sonderinteressen ihren Einfluss auf Politik aus. Das gefährdet die Unterstützung für demokratische Institutionen, wenn mächtige Sonderinteressen über dem Gemeinwohl obsiegen. Gerade Pro-europäer dürfen über solche Fehlentwicklungen nicht schweigen, sondern müssen hier mit Entschiedenheit gegen Fehlentwicklungen angehen! Das will ich weiter tun.

Die ganze Legislaturperiode blieb das Europaparlament Treiber für mehr Steuergerechtigkeit und gegen Finanzkriminalität. Wir Grünen richteten eine eigene Kampagne ein – mit einer brillanten französischen Juristin als Mitarbeiterin, Catherine Olier. So konnten wir mit Studien, Aktionen und intensiver Medienarbeit die Juncker-Kommission zum Jagen treiben. Mit dem Wirtschaftskommissar Moscovici und Wettbewerbskommissarin Vestager hatten wir in der Kommission mächtige Verbündete. Auch im Europaparlament verschob sich das Meinungsspektrum. Vor allem die Liberalen und Christdemokraten wurden über die intensive Arbeit deutlich offener für mehr europäische Steuerkooperation und weniger Steuerwettbewerb. Es ist schön zu erleben, wie sich Haltungen durch die Realität der Steuerskandale und Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen verändern. So gelang es wichtige Erfolge durchzusetzen, darunter:

–         Den Vorschlag der EU-Kommission für länderbezogene Steuertransparenz von Großunternehmen (Country-by-country reporting). Dieser Vorschlag fand auch im Parlament eine Mehrheit, aber wird bis heute im Rat der Mitgliedsländer von der großen Koalition in Berlin blockiert.

–         Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwälte und andere Vermittler von Steuergestaltungen müssen grenzüberschreitende Steuertricks künftig an die betroffenen Steuerbehörden automatisch melden.

–         Maßgeschneiderte Steuerdeals („tax rulings“) mit Großunternehmen müssen bei internationalem Bezug automatisch grenzüberschreitend gemeldet werden.

–         Die EU hat nun eine eigene Schwarze Liste von Steueroasen. Alle relevanten Drittländer müssen EU-Mindeststandards erfüllen, um die Listung auf der Steueroasenliste zu vermeiden. Schon über 40 Staaten und Territorien haben zugesagt, ihre schädlichsten Steuergesetze abzuschaffen. Hier zeigt sich, was die EU bewirken kann, wenn die Länder gemeinsam handeln. Leider ist der ganze Prozess notorisch intransparent.

–         Zuletzt konnte ich als Berichterstatter noch erreichen, dass das EU-Programm Fiscalis zur Zusammenarbeit der Steuerbehörden in der EU verstärkt und effizienter wird. Dabei haben mich besonders meine Mitarbeiter*innen Anja Gottschalk und Sebastian Mack mit Erfolg und Nachdruck unterstützt.

 

Insgesamt wurden so 14 EU-Gesetze gegen Steuerdumping und Finanzkriminalität beschlossen, die viele Schlupflöcher für Steuertrickser und Geldwäscher geschlossen haben. In kaum einem anderen Bereich ist Europa in den letzten fünf Jahre so viel vorangekommen. Doch es bleiben noch große Lücken, um die ich mich weiter kümmern will.

Für Steuergerechtigkeit und gegen Finanzkriminalität

Mein Interesse an Steueroasen entstand ja durch die ungleiche Besteuerung von Vermögenden und normalen Leuten ebenso wie transnationalen Unternehmen und lokal gebundenen Unternehmen. Doch in den letzten Jahren interessiert mich immer mehr die Nutzung des Schattenfinanzsystems durch Kriminelle. Es sind die gleichen Strukturen in den Steueroasen, die sowohl von Steuerhinterziehern als auch von der organisierten Kriminalität genutzt werden. Überhaupt habe ich heute vielmehr Kontakte zu Polizei und Steuerbehörden. Ihre Arbeit ist so wichtig und oft viel zu schlecht ausgestattet. Organisierte Kriminalität ist eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft, die wir ernsthaft anpacken müssen. Hier hat sich meine Sicht der Welt deutlich verändert.

 

Angetrieben von den großen Geldwäscheskandalen bei europäischen Großbanken wie Deutsche Bank, Danske Bank, ABLV haben wir viel Arbeit in das Thema gesteckt. Durchaus mit Erfolg. Die EU-Kommission musste eine eigene Strategie gegen Geldwäsche auflegen. Die EZB hat eine eigene Einheit geschaffen, um Geldwäsche und Finanzkriminalität zu bekämpfen. Das EU-Parlament hat eine erste europäische Untersuchung der Integrität des Finanzsystems als Folge des Cum-Ex-Skandals beschlossen. Vor allem jedoch haben wir gleich zweimal die EU-Anti-Geldwäsche-Richtlinie reformiert. Dabei gelangen uns zahlreiche Verbesserungen, jedoch mit einem zentralen Punkt: Alle Unternehmen müssen künftig öffentlich transparent machen, wem eine Firma wirklich gehört. Das war lange umkämpft und wurde vor allem von der deutschen Bundesregierung entschieden abgelehnt. Erst mit der Veröffentlichung der Paradise Papers kam Bewegung in die Sache, so dass wir eine langjährige Forderung von Nichtregierungsorganisationen erfüllen konnten.

Finanzmarktpolitik

Auch wenn grundlegende positive Bewegungen im Bereich der Finanzmärkte in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu erreichen waren, so hatten wir doch viel Arbeit mit Banken, Versicherungen, Fonds, EZB und ihren Kundinnen und Kunden. Oftmals waren es Abwehrkämpfe, um zu erreichen, dass bestehende Gesetze nicht aufgeweicht wurden. Auch war es immer wieder der Fall, dass die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission im Europaparlament im Interesse der Anbieter aufgeweicht wurden. Besonders bitter war der Stillstand bei der Regulierung der Schattenbanken. So scheiterte an Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen die Geldmarktfonds so zu regulieren, dass sie anders als eine Bank immer fluktuierende Werte haben müssen. Gegen fast alle Experten können Geldmarktfonds so weiter als Schattenbanken die Finanzmarktstabilität gefährden.

Besonders geärgert hat mich, dass es mir trotz intensiver Kampagnenarbeit gemeinsam mit anderen Abgeordneten anderer Fraktionen, nicht gelungen ist die einseitige Dominanz von Männern in den wichtigsten Finanzinstitutionen der EU zu korrigieren. Fast durchweg liegt die macht bei EZB, EIB, ESM, Eurogruppe, usw. in der Hand von Männern. Das schwächt die Institutionen und ist einfach mittelalterlich. Leider wurde diese Einseitigkeit von Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten regelmäßig kritisiert, aber es gab keine Bereitschaft durch die Blockade einzelner Ernennungsverfahren wirklich ein Ernennungsverfahren durchzusetzen, dass Frauen effektiv gleiche Chancen und eine angemessene Repräsentation in einigen der mächtigsten EU-Institutionen gibt.

In vier Bereichen konnte ich allerdings wirklich etwas bewegen.

Erstens, verpflichtete sich der Finanzmarktkommissar Dombrovskis bei seiner Ernennungsanhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Währung auf meine Frage hin, eine Strategie für „Green Finance“ vorzulegen. Daraus entwickelte sich ein ganzes Paket von Maßnahmen, die zu mehr nachhaltigen Investitionen und Finanzprodukten beitragen.

Zweitens, konnte ich bei der Reform der Bankenregulierung zahlreiche Veränderungen durchsetzen. Möglich war das durch eine intensive Zusammenarbeit mit Peter Simon (SPD) und Othmar Karas (ÖVP), die beide auf ihre Weise für grüne Vorschläge offen waren. So müssen kleine Banken zukünftig weniger komplizierte Meldungen abgeben. Umgekehrt haben wir die Regeln für die Bekämpfung der Geldwäsche deutlich verschärft. Insbesondere jedoch müssen künftig alle Großbanken ihre Klima-Risiken bewerten und offenlegen. Ohne meinen Bankenmitarbeiter Sebastian Mack wäre das nicht möglich gewesen.

Drittens, konnte ich bei der Reform der Europäischen Finanzaufsicht erhebliche Verbesserungen durchsetzen. Die EU-Finanzaufsichtsbehörden werden sich künftig intensiver dem Verbraucherschutz widmen und sich auch ernstlich der Bekämpfung der Geldwäsche annehmen. Allerdings musste das Europaparlament fast alle Forderungen nach mehr europäischer Effizienz der Entscheidungsfindung der Aufsichtsbehörden aufgeben. Größere Schritte zu wirklich schlagfähigen EU-Behörden scheiterten auch am Widerstand Deutschlands im Rat der EU-Mitgliedsländer. Doch all die Erfolge bei dieser Reform erreichten wir Grüne auch durch die krasse Arbeit meiner Mitarbeiterin Magda Senn, die hier als junge Ökonomin ihr „Gesellinnenstück“ ablieferte.

Viertens, gelang es erstmals EU-Regeln für die Regulierung großer Vermögensverwalter wie Blackrock durchzusetzen. Sie müssen nun zusätzliche Informationen über die von ihnen gehaltenen Anteile und ihren Einfluss auf Abstimmungen in den Hauptversammlungen transparent machen. Die neuen Regeln sind ein Anfang für demokratische Regulierungen dieser immer mächtiger werdenden Fonds-Gesellschaften, die in immer mehr Firmen erhebliche wirtschaftliche Macht ausüben. Hier will ich dran bleiben, denn die Dominanz der großen Finanzinvestoren gefährdet zunehmend unsere soziale Marktwirtschaft mit ihrer betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer.

Wirtschafts- und Währungspolitik

Die bitterste Erfahrung im Europaparlament war die Bearbeitung der Eurokrise. Es war sehr schwer zu ertragen, wie die Kosten der Krise in Griechenland, Portugal, Spanien, usw. ganz überwiegend bei den kleinen Leuten abgeladen wurde, während die mächtigen Eliten in den Staaten weitgehend ungeschoren davon kamen. Die Entscheidungen zu den Austeritätsprogrammen fielen fast ausschließlich unter den Mitgliedsländern und vor allem in der Eurogruppe der Finanzminister der Euroländer. Diese Gruppe tagt nicht öffentlich und schreibt nicht einmal Protokolle. Das Europaparlament hat hier nur begrenzte Macht. Wir konnten aber immerhin einen Sonderausschuss einsetzen, der die Programme in den Krisenländern begleitet. Doch wegen der strukturellen Mehrheit von Christdemokraten, Liberalen und Europaskeptikern gab es nie eine Chance die Machtmittel des Europaparlaments zu nutzen, um die einseitige und ungerechte Austeritätspolitik wirklich ernsthaft zu attackieren. Zwischenzeitlich stieg die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa auf 40%. Dagegen nichts tun zu können, obwohl ich im zuständigen Ausschuss saß, war den bitterste Erfahrung in den letzten 10 Jahren im Europaparlament. Immerhin konnte ich mehrfach geheime Papiere, die mir zugespielt wurden, veröffentlichen, die das fatale Vorgehen unter Beweis stellten. Darunter leakte ich den Text mit dem der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble versucht Griechenland aus dem Euro zu drängen, ohne sich auch nur mit Frankreich abzustimmen.

Immerhin macht der neue französische Präsident Macron sehr gute Vorschläge, um die Zusammenarbeit in der Eurozone zu vertiefen. Ebenso legte die EU-Kommission gute Vorschläge für mehr Demokratie in der Eurogruppe vor. Eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung zur Finanzierung von großen gemeinsamen Investitionen mit einer gemeinsamen Rückversicherung der Arbeitslosenversicherung könnte zukünftige Krisen abfedern. So würden weniger Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut verfallen. Doch leider lehnt die große Koalition in Berlin diese Vorschläge der EU-Kommission, vieler Ökonomen und von Präsident Macron ab. Ich will nicht missverstanden werden: Deutschland sollte nicht zu allem Ja und Amen sagen, was Frankreich vorschlägt. So ist es zum Beispiel keine gute Idee ein Einheitssystem bei der Einlagensicherung der Banken zu schaffen, weil das die Zusammenarbeit der kleinen Banken in Deutschland kaputt machen würde. Auch hat mich Präsident Macron sehr enttäuscht, weil er trotz schöner Reden bei sozialer Gerechtigkeit, Klimaschutz, Artenschutz und Bürgerrechten in Frankreich nicht geliefert hat. Aber: Wir sollten immer eng mit Frankreich kooperieren. Es ist fatal, dass die Bundesregierung auch gute Vorschläge Frankreichs, wie zuletzt die Digitalsteuer auf große Konzerne ausgebremst hat. Vor allem jedoch hat die Bundesregierung die Pflicht auf ambitionierte europapolitische Vorschläge aus Frankreich mit mindestens ebenso großer europapolitischer Ambition zu reagieren. Stattdessen traut sich die Große Koalition in Brüssel kaum noch etwas. Die SPD hat das zwar erkannt und einen europapolitsch guten Koalitionsvertrag unter Martin Schulz verhandelt. Doch hat die Umsetzung dieser Ambition für die SPD keinerlei Priorität mehr. Und die große Mehrheit der CDU/CSU Bundestagsfraktion hat offensichtlich so große Angst vor der AfD, dass sie europäisch zum Bremsklotz geworden ist. All das muss sich dringend ändern. Deutschland muss wieder europapolitischen Mut und Ambition zeigen. Vor allem für mehr Solidarität, Gemeinschaftsinvestitionen und Demokratie in der EU!

Handelspolitik

Die riesigen Proteste gegen TTIP, CETA & Co. brachten die große Chance, die Verletzungen von Menschenrechten und die Plünderung der Natur in globalen Handelsketten zum Thema zu machen. Leider ist die EU-Handelspolitik einseitig auf die Durchsetzung offener Märkte gerichtet. Den Verträgen fehlen durchweg verbindliche soziale, ökologische und demokratische Standards, dafür enthalten sie aber Sonderklagerechte für Investoren. Sie stehen daher nicht in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft. Trotz der enormen Proteste halten die EU-Kommission und Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale in der EU an dieser fatalen Orientierung fest. Leider sind die Proteste abgeflaut. Wir konnten einige Veränderungen in der EU-Handelspolitik erreichen, doch an der grundsätzlichen Fehlorientierung hat sich nicht geändert. Ich werde das weiterhin nicht akzeptieren.

Von der Sozialpolitik zur Demokratiepolitik

Von 2008 bis 2014 hatte ich zusammen mit Binnenmarktkommissar Michel Barnier eine Menge für die Soziale und Solidarische Ökonomie durchgesetzt. Nachdem allerdings alle einfacher umzusetzenden Ziele erreicht waren und vor allem meine großartige NRW-Kollegin Terry Reintke in den Sozial- und Beschäftigungsausschuss wollte, entschied ich mich, meinen zweiten Ausschuss zu wechseln. So verließ ich den Sozialausschuss und ging in den Verfassungsausschuss, um mich dort mit dem Einfluss der Lobbyisten auseinander zu setzen. So entstand neben der Politik im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) ein richtiges zweites Standbein meiner Arbeit. Dank meines hartnäckigen Mitarbeiters Christian Beck konnte ich dort systematisch an den Regeln der europäischen Entscheidungsfindung arbeiten. Schon bald wurde ich Berichterstatter des Parlaments für Transparenz, Integrität und Rechenschaftspflicht. Es dauerte über zwei Jahre bis der Bericht zur Abstimmung kam. Parallel dazu arbeiteten wir an den Regeln der Geschäftsordnung des Parlaments. Wir konnten diverse Spielregeln im Haus verbessern. Das Verbot als Abgeordneter nebenbei als Lobbyist zu arbeiten konnten wir stärken. Abgeordnete dürfen kein Geld für solche Arbeit annehmen. Vor allem jedoch schafften wir eines: Alle relevanten Lobbytreffen im Rahmen der Gesetzgebung werden künftig öffentlich transparent gemacht. Damit wird das Europaparlament das lobby-transparenteste Parlament Europas. Ich erwarte nun, dass Bundestag und Landtage dieses Niveau nun übernehmen. Ebenso gelang es uns rund um die Wahl des EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker die EU-Kommission zu Lobbytransparenz zu verpflichten. Unregistrierte Lobbyisten bekommen bei den wichtigsten Leuten in der EU-Kommission keine Termine mehr und alle Treffen werden öffentlich gemacht. Auch von diesem Maß an Lobbytransparenz können wir in Berlin und den Landeshauptstädten nur träumen und dafür streiten.

Delegationsleitung der deutschen Grünen im Europaparlament

2014 wurde ich erstmals zum Spitzenkandidaten von Bündnis 90/Die Grünen gewählt – damals gemeinsam mit Rebecca Harms. Das war für viele überraschend, denn vorgesehen war ja Reinhard Bütikofer, der Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei. Er verzichtete darauf wieder anzutreten, nachdem ich meine Kandidatur erklärt hatte. Es war eine der schönsten Erfahrungen in den letzten Jahren, dass wir trotzdem gut und in gegenseitigem Respekt zusammenarbeiten konnten. Direkt nach der Wahl 2014 übernahm ich auch die Leitung der deutschen Delegation, während Ska Keller nach 2,5 Jahren den Fraktionsvorsitz von Rebecca Harms übernahm. Gleich zu Beginn gelang mir mit dem Bundesgeschäftsführer Michael Kellner eine Reihe von Reformen innerhalb der Grünen durchzusetzen, um die Partei europäischer zu machen. Die Satzung wurde so geändert, dass der sechsköpfige Bundesvorstand eine eigene Sprecherin für Europa und Internationales bekam. Die Runde der grün-mitregierten Länder „G-Kamin“ unter Leitung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann wurde für uns aus dem Europaparlament geöffnet. So konnten wir unsere europäische Sicht in zahlreiche Beschlüsse des Bundesrates einbringen. Innerhalb der Delegation initiierte ich mit meinen Stellvertreter*innen Terry Reintke und Martin Häusling insofern einen neuen Stil, dass wir viel mehr Aktionen und Veranstaltungen organisierten, die Bürgerinnen und Bürger direkt erreichten. In fast allen Bundesländern haben wir oft große Veranstaltungen vor Ort organisiert. Es gab einen Europakongress im Bundestag und auch einen Ideenwettbewerb für Jugendliche. Besonders bedanke ich mich bei unseren gemeinsamen, hart arbeitenden Mitarbeiter*innen Daniela Ortlauf und Aldo Caruso, die so einiges zu ertragen hatten. Innerhalb der Fraktion konnten wir auch eine wichtige Innovation mit auf den Weg bringen: In fünf Prioritäten arbeitet die Fraktion in länderübergreifenden Kampagnenteams darunter zu Klima und Energie, Steuergerechtigkeit, Demokratie & Transparenz sowie Landwirtschaft und Ernährung. Diese Kampgangen haben unserer grünen Arbeit Erfolg, Sichtbarkeit und Nachdruck gebracht!

Priorität: Kommunikation

Nachdem der Druck der Gesetzgebung durch die Finanzkrise abgeebbt war, entschied ich mich viel, mehr Arbeit in die Kommunikation mit und zu den Bürger*innen zu stecken. Seitdem starte ich regelmäßig Petitionen auf den Plattformen change.org und wemove.eu, die beide erlauben europaweit um Unterstützung zu werben. Über 1,7 Millionen Bürger*innen unterstützten meine Anliegen dort. Um eine Kommunikation auf Augenhöhe zu stärken, startete ich meine Webinar-Reihe „Europe Calling“, die inzwischen schon 30-mal Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht hat, direkt mit mir und anderen europäischen Entscheidungsträger*innen zu sprechen. Das Internet wird so zu einem offenen demokratischen Raum in Europa, ohne dass die Interessierten oder die Entscheidungsträger*innen lange reisen müssen. Schon über 10.000 Personen haben an diesen Veranstaltungen teilgenommen. Und auch vor Ort war ich natürlich viel unterwegs: In über 450 Veranstaltungen war ich persönlich ansprechbar.

Großer Beliebtheit erfreut sich auch mein E-Mail-Newsletter, der inzwischen über 100.000 Personen direkt erreicht und so die Informationen aus dem Europaparlament zu den Bürger*innen bringt, die in der Presse wenig zu finden sind. Fast alle E-Mails an meinen Verteiler landen auch auf meinem Blog www.sven-giegold.de, die so auch wieder über die sozialen Netzwerke verbreitet werden können. Großer Beliebtheit erfreute sich auch mein Fledermaus-Club, deren Mitglieder jeweils als Maskottchen eine Fledermaus mit EU-Halstuch bekommen, um an den Stopp der Rodungen im Hambacher Wald dank der EU-geschützten Bechstein-Fledermaus zu erinnern.

Priorität: Stärkung der europäischen Zivilgesellschaft

Nachdem ich in der letzten Legislaturperiode die Gründung der Gegenlobby FinanceWatch mit vorangetrieben hatte, gelangen in dieser Periode zwei Projekte: Meinen Freunden bei der NGO Campact habe ich so lange in den Ohren gelegen, bis sie sich tatsächlich aufmachten eine europäische Organisation nach ähnlichem Muster zu gründen: WeMove.EU Sie hatte inzwischen mit der europäischen Bürgerinitiative „Stopp Glyphosat“ einen sehr großen Erfolg, der zu einer großen Reform der Pestizidzulassungsverfahren in Europa führte. Alle Studien, die zur Zulassung von Pestiziden verwendet werden sollen, müssen nun tatsächlich öffentlich gemacht werden.

Außerdem arbeite ich ehrenamtlich als Vorsitzender des Vereins für eine „European Christian Convention“ (ECC) – einen europäischen, ökumenischen Kirchentag. Dort vertrete ich das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags – gemeinsam mit der Schweizer Theologin Christina aus der Au. Er soll einen offenen europäischen Raum von Christinnen und Christen in Europa schaffen. Wir hoffen, dass diese ECC Anfang der 2020er Jahre erstmals stattfinden wird.

Erneute Spitzenkandidatur

Wie schon 2014 hat mich die Bundesdelegiertenkonferenz im November 2018 wieder zum Spitzenkandidaten gewählt. Diesmal jedoch mit einem Traumergebnis, das einen enormen Vertrauensvorschuss bedeutet: 97,88%. Angeblich das beste Ergebnis in der Parteigeschichte, wenn man von Schatzmeister*innen absieht. Dieses Ergebnis hat mich enorm gefreut und gleichzeitig spüre ich auch dadurch seit Monaten eine enorme Verantwortung und eigenen Anspruch auf mir.

Bewerbung: https://sven-giegold.de/meine-bewerbung-fuer-die-gruene-europaliste/

Meine Bewerbungsrede: https://sven-giegold.de/bewerbungsrede-bdk-2018-leipzig/

Zurück zur Ökologie

Schon in der letzten Legislaturperiode habe ich angefangen, mich viel stärker für unsere Kampagnen im Bereich Klima, Landwirtschaft, Artenschutz und Tierschutz einzubringen. Für mich ist das auch politisch ein „zurück zu den Wurzeln, zurück zur Ökologie“. Das will ich weiter machen. So habe ich gerade in NRW intensiv kommuniziert zu Pestiziden, dem Leid von Tieren in der Landwirtschaft und zum Klimaschutz. Vor allem treibt mich ein Thema um, das viel zu wenig beachtet wird: Die schleichende Vergiftung unserer Umwelt mit schädlichen Chemikalien. Früher wollte ich Chemiker werden. Die Chemie hat mich immer fasziniert und sie kann Großartiges schaffen. Doch die Freisetzung von gefährlichen Substanzen ist inakzeptabel, selbst wenn Studien starke Hinweise auf ihre schädlichen Eigenschaften wie Krebserzeugung, Bienenschädigung oder Hormonwirksamkeit demonstrieren. Mich treibt das um weil gerade unsere Insektenpopulationen vor dem Verschwinden sind. Und es treibt mich um, weil unsere Kinder unter Kreidezähnen leiden, deren Ursache keiner erklären kann, während Ratten im Tierversuch ähnliche Störungen der Zahnschmelzbildung schon bei geringen Dosen Bisphenol A bekommen. Wir brauchen eine leistungsfähige Chemieindustrie für die ökologische Transformation, aber sie muss Umwelt und Menschen schützen. Dieses Thema will ich in der nächsten Legislaturperiode intensiv beackern und freue mich im Team den krass engagierten und hochkompetenten Dr. Maximilian Fries in meinem Düsseldorfer Büro zu beschäftigen, der als Krebsbiologe unsere Arbeit zur Umweltgesundheit und Vergiftung vorantreiben wird.

 

 


Hinweis: Dieser Blogbeitrag wurde innerhalb der letzten 6 Wochen vor der Europawahl 2019 veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurde die Homepage und die zugrunde liegende IT-Infrastruktur aus Wahlkampfmitteln und nicht aus dem Parlamentsbudget finanziert.