Die europäische Versicherungsaufsicht Eiopa nimmt für die Berechnung der Rückstellungen für besonders lang laufende Versicherungsverträge unter den neuen Eigenkapitalregeln Solvency II einen unrealistisch hohen Zinssatz von 4,2 Prozent an. Die internationalen Versicherungsaufseher vom IAIS und der europäische Systemrisikorat ESRB halten diesen Zinssatz für zu hoch. Trotzdem will Eiopa vor Ende 2016 nicht an der Annahme rütteln. Die Aufseher setzen auf das Prinzip Hoffnung.
Gastbeitrag für den Versicherungsmonitor
Ein Kernstück des neuen europäischen Aufsichtsregimes Solvency II ist die „Ultimate Forward Rate“ (UFR). Dieser Diskontierungszinssatz bestimmt, welcher risikofreie Zinssatz am langen Ende der Zinsstrukturkurve angenommen wird, also bei besonders lang laufenden Versicherungsverträgen. Je höher dieser Zinssatz, umso weniger gesetzlich vorgeschriebene Rückstellungen muss ein Versicherer heute vorhalten, um die langfristigen Verbindlichkeiten einer Kapitallebensversicherung darstellen zu können. Da es für diese Verbindlichkeiten nur wenige Kapitalanlagen am Markt mit einer entsprechend langen Laufzeit gibt, wird dieser Zinssatz nicht durch Marktdaten ermittelt, sondern durch Annahmen der Aufseher.
Die europäische Versicherungsaufsicht Eiopa ist laut Solvency II verpflichtet, risikolose Zinsen als Diskontierungszinsen vorzugeben, also einen Zinssatz, der sich mit risikoarmen Geldanlagen erwirtschaften lässt. Trotzdem nimmt Eiopa hier einen „Mondzinssatz“ von 4,2 Prozent bei Laufzeiten über 20 Jahren im Euroraum an. Es darf bezweifelt werden, dass diese Entscheidung von regulativer Vorsicht und volkswirtschaftlicher Plausibilität getrieben wurde. Eine Senkung des Zinssatzes auf ein marktnäheres Niveau würde eine enorme, aber gebotene Erhöhung des vorzuhaltenden Kapitals der Lebensversicherer mit langfristigen Garantien bedeuten.
Der Zusammenschluss der internationalen Versicherungsaufseher IAIS hat jüngst für seine Untersuchung international systemrelevanter Versicherer für den Euroraum eine Ultimate Forward Rate von 3,5 Prozent angenommen. Das führt zu der absurden, unglaubwürdigen und erklärungsbedürftigen Situation, dass etwa die deutsche Allianz in Europa und Deutschland auf der Basis einer Ultimate Forward Rate von 4,2 Prozent beaufsichtigt wird, international aber 3,5 Prozent für sie gelten.
Der Europäische Systemrisikorat ESRB hat vor zwei Monaten in einem Arbeitspapier der Mitarbeiter ebenso große Zweifel an der zu hohen Ultimate Forward Rate geäußert Die ESRB-Mitarbeiter sind nach gründlichen Analysen zu der Auffassung gekommen, dass die 4,2 Prozent-UFR um 0,5 Prozent bis 1 Prozent zu optimistisch angesetzt ist.
Die Aufseher wollen vor 2016 nicht an der UFR rütteln
Doch die nationalen Versicherungsaufseher ficht das nicht an. Der Rat der Aufseher, der bei der Eiopa die wichtigen Entscheidung trifft, hat auf seiner Sitzung am 29. und 30. September beschlossen, dass bis Ende 2016 an der Ultimate Forward Rate nicht gerüttelt wird. Damit handelt Eiopa gegen europäisches Recht im Rahmen von Solvency II. Trotz all der guten Argumente aus dem IAIS und dem ESRB bleibt alles beim Alten. Offensichtlich war die Angst vor Erschütterungen in den Versicherungsmärkten mit hohen langfristigen Garantien wie Deutschland und Schweden oder auch den Niederlande und Österreich zu groß. Da wird lieber das Prinzip Hoffnung bemüht. An der Entscheidung waren alle Aufseher gleichermaßen beteiligt. Niemand verlangte einen anderen Zeitplan.
Immerhin wird es 2016 eine Konsultation zu dem Thema geben. Eine Entscheidung über eine Reform der Berechnung der Ultimate Forward Rate soll bis September 2016 fallen, freilich ohne vor Ende 2016 an dem Zinssatz zu rütteln. Bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Eiopa wie auch bei vielen nationalen Aufsehern und Versicherungsgesellschaften löst das alles schon lange Kopfschütteln aus. Denn letztlich wird damit am höchsten Gut des Versicherungssektors gerüttelt: Dem Vertrauen in die langfristige Stabilität der Versprechen an die Versicherten.
Auch die deutsche Versicherungsaufsicht BaFin rechnet die Lage der Branche schön. Ihre kürzlich geäußerte Einschätzung „die Branche sei gut gerüstet“ ist unverantwortlich. Sie ist auch deshalb unrealistisch, weil sich die schwarz-rote Bundesregierung konsequent einer Investitionsoffensive widersetzt, die geeignet wäre, die langfristigen Zinssätze wieder steigen zu lassen.
Sven Giegold ist Finanzexperte der Grünen im EU-Parlament.