Die so genannte Mutter-Tochter Richtlinien von 1990 und in ihrer geänderten Version von 2003 muss an die neuen Vorschriften des Lissabon Vertrags angepasst werden. Im Kern sieht die Richtlinie eine Harmonisierung der Steuersysteme, die für Mutter und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gelten, vor. Konkretes Ziel ist die Vermeidung der Doppel- oder Mehrfachbesteuerung von ausgeschütteten Gewinnen von einer Tochtergesellschaft an ihrer Muttergesellschaft. Diese Harmonisierung hat jedoch zum Teil auch den Effekt, das es multinationalen Konzernen möglich ist, verschiedene Steuersysteme innerhalb Europas gegeneinander auszuspielen. Somit können sie im Sinne einer Doppel-Nicht-Besteuerung ihre effektiven Steuersätze durch Steuerplanung drastisch senken.
Eigentlich geht es bei der Revision nur um eine Neuformulierung von wenigen unproblematischen Passagen. Die Kommission und die juristischen Dienste der Institutionen haben entschieden, dass mein Ausschuss für Wirtschaft und Finanzen (ECON) sich zwar mit dem Thema befassen muss, sind aber davon ausgegangen, dass wir den neuen Text einfach nur durchwinken würden. Da haben sie sich leider verrechnet, wir werden das Fass jetzt neu aufmachen, um auf einige konkrete Probleme hinzuweisen.
In meinem Berichtsentwurf (s.u.) habe ich die beschriebene Problematik bereits teilweise aufgezeigt, und gestern habe ich dazu einen inhaltlichen Aufschlag gemacht, wie Ihr im Video sehen könnt. Wenn Ihr gute Ideen und Hinweise zu problematischen Stellen der Richtlinie habt, teilt uns das doch bitte gerne mit.
Begründung
Die enorme Belastung der öffentlichen Haushalte erfordert Kreativität von den Parlamenten bei ihren Bemühungen, die Haushalte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Allerdings ist dies nicht erst seit Ausbruch der Finanzkrise der Fall. Zusätzlich zu den unhaltbar hohen Staatverschuldungen und Haushaltsdefiziten verlangen zunehmende soziale Ungleichheiten in allen europäischen Ländern nach weitreichenden Initiativen.
Der Binnenmarkt ist zwar fester Bestandteil des europäischen Aufbauwerks, er beschränkt aber gleichzeitig auch die Hoheitlichkeit der Mitgliedstaaten insbesondere im Bereich der Besteuerung. Die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes zum Wohle der Unternehmen und der Verbraucher war das wichtigste Argument zugunsten nahezu aller europäischen Richtlinien im Bereich der Unternehmensbesteuerung. Bedauerlicherweise traten in Verbindung mit der anhaltenden Ideologie der absoluten Unabhängigkeit der nationalen Gesetzgeber im Bereich der Besteuerung überaus nachteilige Auswirkungen immer deutlicher zu Tage.
Je leichter der freie Kapitalverkehr in der Europäischen Union vonstatten ging, desto kleiner und kleiner wurde die Handlungsfreiheit für autonome Entscheidungen.
Der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union ist nunmehr zu einem toten Punkt für die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Hand geworden. Aus diesem Grunde sank die Durchschnittsrate der Unternehmensbesteuerung von 44 % im Jahre 1980 auf 35 % im Jahre 1995 und schließlich auf 23,2 % im Jahre 2010.1 Gleichzeitig gestaltet sich das Bemühen um eine nachhaltigere und sozial integrierte Gesellschaft sehr schwierig, wenn die Verschiebung von Kapital und Gewinnen problemlos möglich und für einige sehr lukrativ ist, für andere dagegen unerreichbar.
Für die in der Europäischen Union tätigen Menschen und Unternehmen gelten unterschiedliche nationale Steuerregelungen. Nationale Schutzmaßnahmen zugunsten der Steuerbemessungsgrundlage sind fast immer rechtswidrig und der Doppelbesteuerung von Unternehmen wird durch bilaterale Abkommen und gemeinschaftliche Rechtsvorschriften begegnet. Um dem Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuersätze Einhalt zu gebieten, bedarf es eines gemeinsamen europäischen Ansatzes.
Deshalb ist nunmehr eine sorgfältige Überarbeitung der Richtlinie des Rates über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten erforderlich. Mit dieser Richtlinie sollen multinationale Unternehmenszusammenschlüsse erleichtert werden. Mit ihr soll deshalb die doppelte Besteuerung von Einkommen aus Dividenden fallengelassen werden:
Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen, so besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese entweder nicht oder lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, auf die Steuer anrechnen kann.
Aufgrund dieser Bestimmung wurde das innereuropäische “Vertragsshopping“ überaus wichtig für die Zwecke der Steuerplanung. Zwischen den Mitgliedstaaten und den Investoren entwickelte sich ein Streit über den Sitz von Unternehmenszentralen. Eine einfache Kodifizierung der sogenannten Richtlinie über Mutter- und Tochtergesellschaften bewirkt keine Lösung der immer drängender werdenden Probleme einer langfristigen Nichtbesteuerung oder gar einer doppelten Nichtbesteuerung.
Außerdem erscheint es fragwürdig, dass die von einem (europäischen) multinationalen Unternehmen in einer Tochtergesellschaft außerhalb der EU erzielten Gewinne in den gemeinsamen Markt fließen und dabei in den Genuss einzelner nationaler Steuersysteme gelangen, die derartige Kapitalflüsse dadurch anziehen, dass in diesen Systemen Zuflüsse aus Drittstaaten kaum oder überhaupt nicht einer Besteuerung unterliegen. Solche Gewinne stammen meistens aus Steuerparadiesen und beruhen auf einem Verrechnungspreis bei Lizenzsystemen (beispielsweise Lizenzgebühren für Anträge auf geistiges Eigentum). Nach einem solchen Niedrigsteuereintritt kann der Gewinn frei in der EU zirkulieren und der in einem beliebigen anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Muttergesellschaft zufließen, ohne jemals in der EU besteuert worden zu sein.
Einen Sonderfall stellt die Schweiz dar, die durch ein bilaterales Abkommen mit der Europäischen Union Teil des Geltungsbereichs der Richtlinie1 wurde. Hier gilt das Gleiche wie oben dargelegt. Die von in der EU niedergelassenen Muttergesellschaften entgegengenommenen Gewinnüberschüsse Schweizer Tochtergesellschaften unterliegen in der Europäischen Union keiner Besteuerung oder können unionsweit abgesetzt werden. Der Staat erscheint als Verlierer gegen multinationale Konzerne, die ihren gerechten Anteil an der Finanzierung sozialer Bedürfnisse nicht mehr bezahlen. Deshalb muss eine Forderung durchgesetzt werden, derzufolge in Fällen, in denen bei abgehenden Kapitalflüssen keine Besteuerung zulässig ist, im eingehenden Mitgliedstaat ein Steuersatz von mindestens 25 % zur Anwendung kommen muss.
Diese Fälle zeigen, dass strengere Bestimmungen zur Bekämpfung von Missbrauch in die Richtlinie einbezogen werden müssen. Die Einbeziehung des Zuflusses der Dividenden von Tochtergesellschaften in Drittstaaten in den Geltungsbereich der Richtlinie muss gewissen Mindestanforderungen unterliegen, um die Erosion der Steuerbemessungsgrundlage durch EU-Körperschaften zu begrenzen.
Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen erforderlich, um das Problem der doppelten Nichtbesteuerung anzugehen. Kürzlich veröffentlichte die Kommission einen Vorschlag für eine gemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer (GKKB).2 Diese Maßnahme kann aber nur dann in dem doppelten Sinne greifen, dass die Möglichkeiten für eine Körperschaftssteuer-Flucht in der EU begrenzt und die Einhaltungsverpflichtungen der Unternehmen gelockert werden, wenn erstens die Bestimmungen verbindlich für alle in der EU niedergelassenen Unternehmen mit grenzüberschreitender Tätigkeit gelten und zweitens auf einer gleichwertigen Steuerbemessungsgrundlage ein Mindeststeuersatz gemeinschaftlich erhoben wird.