Sven Giegold

Schwache Kritik an besorgniserregenden Studienergebnissen

Replik zum SZ-Artikel am 8.11. „Großer Alarm um Pestizide im Haar“

Sven Giegold MdEP, Maximilian Fries PhD (Krebsbiologie, Cambridge/UK)

In einer Analyse der Süddeutschen Zeitung (online am 8.11.) kommentiert Kathrin Zinkant die Ergebnisse und Kommunikation unseres Haartests. Im Folgenden gehen wir auf die Kritik ein, die wir auch gerne im Vorfeld der Veröffentlichung mit der Autorin diskutiert hätten. Leider wurden wir aber nicht für eine Stellungnahme kontaktiert. Der Artikel beruht auf Einschätzungen von Prof. Daniel Dietrich, der als industrienaher Wissenschaftler bekannt ist und dafür jüngst im Buch “Lobbytomie” von der französischen Investigativjournalistin Stéphane Horel ausführlich kritisiert wurde. Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden nicht zitiert.

Die SZ-Analyse kritisiert im wesentlichen zwei Aspekte unseres Haartests, ohne jedoch die Befunde des Testes selbst in Frage zu stellen. Zum einen die Repräsentativität der Ergebnisse und zum anderen die Bedeutung von geringen Konzentrationen von endokrinen Disruptoren. Auf beide Aspekte gehen wir im Folgenden ausführlich ein:

 

Bezüglich der Repräsentativität wird an keiner Stelle in der Studie oder unserer Kommunikation dazu – anders als im Artikel behauptet – die Ergebnisse seien repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Repräsentativ können sie aufgrund der geringen Stichprobe natürlich nicht sein. In der Studie wird in der Tat eine Projektion vorgenommen mit dem Ziel, die Ergebnisse der sechs getesteten Länder zu vergleichen, allerdings ohne eine Aussage über die Repräsentativität zu treffen. In unserer Pressemitteilung sprechen wir deswegen gleich im allerersten Satz von einem „Pilot-Projekt“ (https://sven-giegold.de/erster-europaeischer-haar-test-jede-zweite-person/). Auch im zitierten Tweet stellen wir diese angebliche Verbindung zu “80 Millionen Menschen” nicht her. Darüber hinaus vermerken wir explizit in unserem Presse-Briefing dazu in einem Stichpunkt: “Zahlen sind klein →  Sollte systematisch europaweit durch unabhängige Institute/Behörden durchgeführt werden.”

Nichtsdestotrotz haben wir bei der Planung der Studie bewusst darauf geachtet, eine möglichst repräsentative Stichprobe zu erhalten, was in der SZ-Analyse nicht erwähnt wird. Wir haben Testpersonen aus allen Altersgruppen (0-10, 10-20, 20-40, 40-60 und 60+ Jahre), solche, die nahe und fern von landwirtschaftlichen Flächen leben, die selbst Pestizide nutzen oder nicht und sich ganz unterschiedlich ernähren (Bio, Vegetarisch, Vegan). Damit sind die Ergebnisse zwar nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, aber die Stichprobe so repräsentativ wie möglich. Die Methode zum Pestizid-Nachweis in Haaren ist auch intensiv getestet und statistisch validiert (https://link.springer.com/article/10.1007/s00204-016-1910-9). Das heißt, wenn eine Probe positiv ist, dann ist dieser Nachweis auch statistisch signifikant. Die Validität der Nachweismethode stellt selbst Prof. Dietrich nicht in Frage. Damit ist der Nachweis von Pestizid-Rückständen in 60% aller getesteten Proben signifikant und uneingeschränkt aussagekräftig für die Stichprobe von 148 Proben. Das ist auch im Bericht der Pilotstudie öffentlich nachlesbar (https://sven-giegold.de/wp-content/uploads/2018/11/pesticide-hairtest-results_2018_final.pdf). Selbst wenn der Befund nicht zwingend repäsentativ für die Gesamtbevölkerung ist, so sind doch 60% positive Proben besorgniserregend.

Wir haben insgesamt zu wenig repräsentative Daten über die Belastung mit endokrinen Disruptoren und auch die EU-Kommission hat in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Kommunikation zu endokrinen Disruptoren auch hierzu mehr Forschung eingefordert: http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2018/EN/COM-2018-734-F1-EN-MAIN-PART-1.PDF.

 

Ein weiterer Kritikpunkt der SZ-Analyse sind die geringen Mengen der gefundenen Stoffe. Der Prof. Dietrich behauptet, „Eine Störung des Hormonhaushalts trete aber erst bei hohen Konzentrationen ein, das gelte auch für andere Substanzen.“ Für endokrine Disruptoren stimmt diese Behauptung nicht. Die wissenschaftliche Literatur zu den Auswirkungen von geringen Konzentrationen von endokrinen Disruptoren ist lang (ein Review zum Thema hier: https://academic.oup.com/edrv/article/33/3/378/2354852). Aufgrund ihrer Wirkung im Hormonhaushalt, der biologisch auf kleinste Hormonveränderungen reagiert,  können endokrine Disruptoren auch bei sehr geringen Mengen schädlich sein. Entscheidend ist vor allem der Zeitpunkt der Exposition. In kritischen Entwicklungsphasen kann auch eine sehr kleine Konzentration irreversible Schäden hervorrufen. Endokrinologen gehen sogar davon aus, dass es gar keine „sicheren Dosen“ (englisch:”no safe threshold”) gibt. Daran richtet sich auch die EU-Pflanzenschutzverordnung, die Stoffen mit endokriner Wirkweise grundsätzlich die Zulassung verwehrt (http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-18-6285_de.htm).

In der schon erwähnten Kommunikation vom Mittwoch macht die EU-Kommission diesen Punkt auch nochmal deutlich:

„However, knowledge gaps still exist: (…)

–        existing controversy  as to whether and how  certain toxicological principles, such as the “safe threshold” principle i.e. the dose below which no adverse effect is expected to occur are applicable to assess the safety of endocrine disruptors. A  share of scientists is of the view that a safe threshold cannot be established for endocrine disruptors;“

Die Autor*innen belegen den Diskussionsstand auch klar mit wissenschaftlichen Referenzen. Damit ist die Aussage von Herrn Prof. Dietrich, dass Effekte erst bei hohen Dosen auftreten, nicht korrekt. Der wissenschaftliche Kenntnisstand gibt diese Aussage nicht her.

Auch den so genannten „Cocktail-Effekt“, also die Kombination von verschiedenen Stoffen bei geringen Mengen, die dann zusammen eine schädliche Wirkung entfalten können, erwähnt Dietrich nicht (Zwei Beispiele hier: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/em.21676 und https://doi.org/10.1289/EHP2877).

Auch hier sieht die EU-Kommission im zitierten Dokument wieder Forschungsbedarf:

„- fully understanding combined exposure („mixture/cocktail effect“)”

Auch aktiv in der Wissenschaft diskutiert wird, wie man genau von Konzentrationen im Haar auf die Art der Exposition und die Mengen von endokrinen Disruptoren in anderen Körperbereichen schließen kann. Hier gibt es eine erste Studie in Ratten, die zeigt, dass beim Nachweis in Haaren, auch Konzentration im Urin und Blut festgestellt werden können (https://link.springer.com/article/10.1007/s00204-016-1910-9). Wie hoch diese letztendlich sind, hängt von vielen Faktoren ab, z.B. der chemischen Zusammensetzung und damit verbundenen den Abbau-Charakteristika des jeweiligen Stoffes und dem Ort des Nachweises (Blut und Urin sind sehr unterschiedlich diesbezüglich).

Alle diese Beispiele zeigen, der Forschungsbedarf ist hoch. Geringe Mengen einfach als ohne Konsequenz abzutun, wie die “SZ-Analyse” es tut, gibt der momentane Kenntnisstand aber in keinster Weise her.

 

Aufgrund dieser Unsicherheit gibt es politisch zwei Optionen:

1)     Man verwendet die Stoffe weiter, und riskiert, dass weitere Forschung zeigt, dass die Bedenken gerechtfertigt waren und auch bei geringen Konzentrationen ein Schaden entsteht (siehe auch das Beispiel Bisphenol-A, aber auch das in unserem Test häufig gefundene Chlorpyrifos). Das ist ein unkontrolliertes Experiment mit tausenden, wenn nicht Millionen, von EU-Bürger*innen.

2)     Man nimmt das Vorsorgeprinzip ernst, und lässt solche Stoffe nicht mehr zu und ersetzt die bestehenden Stoffe so schnell wie möglich durch sicherere Alternativen. Damit unterstützt man auch diejenigen Unternehmen und Projekte im Chemie-Sektor, die bereits aktiv an alternativen, sicheren und nachhaltigen Produkten arbeitet.

 

Die geltende Pflanzenschutzverordnung der EU geht mit den Ausschlusskriterien zumindest auf dem Papier klar den Weg des Vorsorgeprinzips. Diesem Vorsorgeprinzip fühlen wir uns als Grüne besonders verpflichtet und arbeiten für dessen Stärkung im Europaparlament u.a. durch dieses Pilot-Projekt. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass das Gesetz korrekt angewendet wird und alle vermeidbaren hormonschädigenden Substanzen aus unserem Alltag verschwinden.

Den Artikel in der Süddeutschen Zeitung finden Sie hier:

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/studie-der-gruenen-grosser-alarm-um-pestizide-im-haar-1.4202350

 

Rubrik: Klima & Umwelt

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