Stuttgarter Zeitung, 12.05.2014h
Was macht das EU-Parlament?
Von wegen „Schwatzbude“
Christopher Ziedler, 12.05.2014 14:33 Uhr
Straßburg – In seiner letzten Sitzung vor der Wahl am 25. Mai hat das Europaparlament noch einmal einen Beschluss gefällt, der die Bundesverfassungsrichter in ihrem Urteil bestärken dürfte. Da wurden doch tatsächlich neue Regeln für Druckbehälter, also zum Beispiel Feuerlöscher, verabschiedet. Stimmt das Argument also doch, dass sich das EU-Parlament am liebsten um technische Themen kümmert, meist folgenlose Resolutionen verabschiedet und keine Regierung von ihm abhängig ist – weshalb Karlsruhe ihm eine stabilitätsfördernde Dreiprozentklausel bei der Wahl verweigerte?
Die Realität sieht dann doch ein wenig anders aus. Die Charakterisierung als „Schwatzbude“ war schon vor dem 1. Dezember 2009 billig, seither ist sie schlicht falsch: Der damals in Kraft getretene Vertrag von Lissabon hat den Abgeordneten eine Fülle neuer Rechte gegeben. Noch gibt es Beispiele, dass Dinge am Europaparlament vorbei geschehen. So basiert etwa der Euro-Rettungsschirm ESM auf einem Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Und selbst eine Parlamentsmehrheit konnte nicht verhindern, dass eine bestimmte Genmaissorte die Marktzulassung erhalten soll. Aber das sind Ausnahmen: Der neue EU-Vertrag macht die Kammer in fast allen Politikfeldern zur Entscheidungsinstanz – gleichberechtigt mit den Regierungen.
Das Plenum muss dem EU-Haushalt neuerdings zustimmen
Ganz neu war, dass sie ihre Zustimmung zum europäischen Siebenjahreshaushalt bis 2020 geben musste. Erstmals mussten auch eine Agrarreform und eine Reform der Fischereipolitik das Plenum passieren – mit spürbarer Wirkung. Am sichtbarsten wurde das neue Recht, dass Abkommen der EU mit anderen Staaten oder Staatengruppen der parlamentarischen Zustimmung bedürfen. So wurde nicht nur die erste Fassung des Bankdatenabkommens Swift mit den USA abgelehnt, sondern auch das strittige Urheberrechtsabkommen Acta beerdigt.
Im normalen Gesetzgebungsverfahren, in dem sich die Abgeordneten mit den Regierungen der Mitgliedstaaten über eine Vorlage der EU-Kommission einigen müssen, wurden in der siebten Legislaturperiode satte 970 Rechtsakte erlassen. Über gut 45 000 Änderungsanträge wurde abgestimmt. Von Bedeutung waren vor allem die Bankenunion und die Finanzmarktregulierung als Teil der Krisenbewältigung. Lobbyschlachten gab es bei den Themen Lebensmittelverpackung und Tabakprodukte. Im Umweltbereich wurden unter anderem neue CO2-Obergrenzen für Autos beschlossen.
Kein neues Gesetz dagegen gibt es bis jetzt für mehr Datenschutz, obwohl der NSA-Skandal – den das Europaparlament als erstes Gremium in einem Untersuchungsausschuss behandelte – die Dringlichkeit neuer Regeln mehr denn je demonstrierte. Das liegt jedoch nicht am Parlament, in dem es im März fraktionsübergreifend eine große Mehrheit für die neue Datenschutzverordnung gab, sondern vielmehr an den Mitgliedstaaten – ohne die auch nichts geht. Sie haben sich untereinander noch nicht einigen können. Das Gesetz soll deshalb eines der ersten sein, das in der achten Wahlperiode beschlossen wird.
Es ist nicht nur für Ulrike Rodust, die 2009 ins Europaparlament gewählt wurde, eine Premiere gewesen: Der neue Lissabon-Vertrag brachte es mit sich, dass die Abgeordneten zum ersten Mal überhaupt über eine Reform
der EU-Fischereipolitik entscheiden durften. Doppelt spannend war das, weil diese Reform vielleicht nötiger war als jemals zuvor: Die Meere sind hoffnungslos überfischt.
Der sozialdemokratische Parlamentsneuling aus Schleswig-Holstein wurde mit der Aufgabe betraut, die sich schnell als heikles Unterfangen herausstellte. Denn viele Mitgliedstaaten und auch Teile der konservativen Parlamentsfraktion wollten den Fischern keine Auflagen wie ein Rückwurfverbot oder Sanktionen bei Überkapazitäten aufbürden. Im entsprechenden Ausschuss bekamen Ulrike Rodusts Vorstellungen eine klitzekleine Mehrheit von gerade einmal einer Stimme. „Aber Mehrheit ist Mehrheit – und ich konnte weitermachen.“ Weitermachen hieß in diesem Fall, vor der Abstimmung im gesamten Parlament „wie ein Rattenfänger loszuziehen und in allen Fraktionen Stimmen einzusammeln“.
Am Ende hat es auch in den anschließenden Gesprächen mit den Regierungen der EU-Staaten geklappt, die wichtigsten Forderungen im Gesetz zu verankern. Besonders stolz ist Ulrike Rodust auf das Wörtchen „above“. Das bedeutet nämlich, dass nicht nur so viele Fische gefangen werden dürfen, wie Wissenschaftler das empfehlen, sondern die Fischmenge im Meer „darüber“ liegen soll – damit sich die Bestände auch wirklich erholen.
Spaß mache ihm die Parteipolitik in Europa nicht, sagt Sven Giegold, der vor seinem Einzug ins Europaparlament vor allem Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen wie das globalisierungskritische Netzwerk Attac kannte. Dafür sei sie, „etwas pathetisch gesagt, einfach zu lieblos“. Als
Nummer zwei auf der deutschen Grünen-Liste macht er trotzdem weiter, weil er gemerkt hat, dass er in Brüssel gestalten kann: „Ich hätte nie gedacht, dass ich hier so schnell so viel Einfluss bekomme.“
Tatsächlich hat Giegold als Mitglied des Wirtschafts- und Währungsausschusses im Parlament ein ganzes Bündel von gesetzlichen Maßnahmen zur besseren Regulierung der Finanzmärkte betreut, die das Finanzsystem aus seiner Sicht aber noch nicht endgültig sicher gemacht haben. „Das spannendste Projekt war sicher die Bankenunion“, sagt der 44-Jährige zum größten Integrationsschritt seit der Euroeinführung, die den Steuerzahler vor weiteren Bankenrettungen schützen soll. Als es zuletzt um das Abwicklungssystem für Pleitebanken ging, war er Verhandlungsführer seiner Fraktion. Zuvor schon war er, als die Bankenaufsicht in der Eurozone reformiert und in die Hände der Zentralbank in Frankfurt gelegt wurde, sogenannter Berichterstatter des gesamten Parlaments.
Giegold ist zufrieden, „dass die Besonderheiten der Genossenschaftsbanken und Sparkassen geschützt und gleichzeitig Großbanken unter strenge Aufsicht gestellt wurden“. Und er stellt sein Licht auch nicht unter den Scheffel: „Ohne mich hätte es die starken Aufsichtsrechte über die Europäische Zentralbank nicht gegeben.“
Mit ihren 35 Jahren kann Nadja Hirsch schon auf eine zwölfjährige Tätigkeit als Volksvertreterin zurückblicken. Erst waren es sieben Jahre im Münchner Stadtrat, nun ist eine fünfjährige Wahlperiode im
Europaparlament hinzugekommen. Sie kandidiert noch einmal – auch weil es bei dem ihr wichtigsten Thema, der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, „noch viel Luft nach oben“ gibt.
Hirsch ist für die 2013 verabschiedete Reform des Asylsystems nicht die sogenannte Schattenberichterstatterin gewesen. Somit war sie zwar nicht der Hauptansprechpartner im Parlament, aber für ihre liberale Fraktion an den Verhandlungen beteiligt. Das war „eine Herausforderung“, gesteht sie. Schließlich wollen Rechtslage und Praxis in allen Mitgliedstaaten studiert werden, „bevor man überhaupt mit der Arbeit anfangen kann, sie anzugleichen“. Zum Teil ist das gelungen. Die Bedingungen für Flüchtlinge in Europa seien „vergleichbarer“ geworden und „kein komplettes Glücksspiel mehr“, sagt Nadja Hirsch. Besonders freut sie, dass Asylbewerber nun früher als bisher arbeiten dürfen. Das war während der Verhandlungen im Parlament und später mit den Mitgliedstaaten ihr „Baby“. Eine andere Verteilung von Flüchtlingen in Europa hat sie nicht erreicht.
Auf Platz 4 der Bundesliste hat Hirsch beste Chancen auf eine Wiederwahl. Dann will sie sich dafür einsetzen, dass im Mittelmeer keine Flüchtlinge sterben – indem eine legale Einreise oder eine sichere Asylantragstellung in ihren Herkunftsländern ermöglicht wird.
Der Arzt Thomas Ulmer hat sich in seiner ersten Runde im Europaparlament um Medizinprodukte gekümmert. In der zweiten Legislaturperiode bekam es der 58-Jährige mit einem besonders strittigen Thema zu tun: den CO2-Grenzwerten für Autos. Klimaschutz und Industriepolitik standen einander gegenüber.
Rückblickend sagt Ulmer, die Gespräche seien „zäh“ gewesen. Vor allem geriet er als Verhandlungsführer des Parlaments in eine schwierige Position, als seine eigene Parteivorsitzende, Angela Merkel, im vergangenen Sommer einen zuvor von Ulmer und der EU-Ratspräsidentschaft erzielten Kompromiss platzen ließ und neu verhandelt werden musste. Das sei „etwas ungewöhnlich“ gewesen, so der CDU-Politiker diplomatisch.
Er ist trotzdem zufrieden mit dem Ergebnis, nachdem „wir der Bundesregierung ein paar Prozentpunkte entgegengekommen sind“. Vor allem die deutschen Edelmarken Daimler und BMW hatten mehr Flexibilität verlangt. Am Ende einigte man sich, dass das Ziel eines maximalen CO2-Ausstoßes von 95 Gramm pro Kilometer ab dem Jahr 2020 erst mal nur von vier Fünfteln der Fahrzeugflotte erfüllt sein muss. Zudem können sich die Autobauer Elektromodelle höher anrechnen lassen, wenn ihr durchschnittlicher Schadstoffausstoß berechnet wird. „Das Ziel“ , beteuert Ulmer, „bleibt weltweit das ehrgeizigste.“
Anders als viele in seiner Partei hält Jürgen Klute das Europaparlament für „viel demokratischer als den Bundestag“. Zur Begründung seiner These
verweist der 60-Jährige auf die Statistik. In Berlin reichten die Oppositionsfraktionen in der vergangenen Legislaturperiode 172 Gesetzesinitiativen ein; angenommen wurde nicht eine. Dagegen führte rund die Hälfte der Initiativen des Europäischen Parlaments, dessen formal fehlendes Initiativrecht häufig beklagt wird, zu konkreten Gesetzen.
So geht auch das im März verabschiedete Recht auf ein Konto auf das Parlament zurück, da die EU-Kommission zuvor keinen Gesetzentwurf hatte vorlegen wollen. Als er dann kam, meldete der Sozialpfarrer Klute aus Nordrhein-Westfalen, der auch in der Schuldnerberatung tätig war, Interesse an, das Thema stellvertretend für das Parlament zu betreuen – und bekam den Zuschlag, weil alle Parteien Berichterstatter stellen dürfen.
In Zukunft darf niemandem in Europa mehr die Eröffnung eines Kontos verweigert werden – ob sie nun überschuldet, nur geduldete Flüchtlinge oder Auslandsstudenten sind. Neun Millionen Betroffene dürften Jürgen Klute dankbar sein, dass es ihnen künftig einfacher fallen dürfte, am öffentlichen Leben teilzunehmen, Wohnung oder Arbeit zu bekommen. In der Linken selbst hat er dafür aber kaum Anerkennung erfahren, weil der Rechtsanspruch auf ein Konto, wie Klute sagt, „nicht hundertprozentig antikapitalistisch“ sei – zumal sich die Forderung nach einem kostenlosen Konto für alle nicht durchsetzen ließ. Beim Wahlparteitag fiel er bei den aussichtsreichen Positionen durch und tritt nun aus Protest nicht mehr an.