Reinhard Jellen 20.05.2014
Sven Giegold (Grüne) zur Europawahl:
In Deutschland treten am 25. Mai zweiunddreißig politische Gruppierungen zur Europawahl an. Telepolis hat bekannten Kandidaten der sieben wichtigsten davon einige Fragen gestellt. Sven Giegold ist zusammen mit Rebecca Harms Spitzenkandidatder Grünen für das Europaparlament. Letzte Woche hat der ehemalige Vorstand von Attac Deutschland dazu zehn Forderungen zur Demokratisierung der Europäischen Union präsentiert.
Herr Giegold, viele Bürger empfinden die EU keineswegs als demokratische Institution, sondern als ein Instrument, mit dem wirtschaftliche Sonderinteressen auf dem Rücken der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden. Inwiefern teilen Sie diese Einschätzung und was spricht dagegen?
Sven Giegold: Zunächst einmal ist die EU genauso ein Ort an dem zwischen verschiedenen Interessen gerungen wird wie Deutschland oder die Bundesländer auch. Natürlich gewinnen in Europa wie in Deutschland viel zu oft mächtige Wirtschaftsinteressen, aber regelmäßig ist es so, dass der einflussreichste Akteur die nationalen Regierungen sind. Ich habe es immer wieder erlebt, dass wir, wie etwa bei den Klimaschutzregeln für Autos, im Europaparlament mit der Kommission die Mehrheit für strengere CO2-Grenzwerte hatten, und es die Bundesregierung war, die dies hintertrieben hat. Gleichfalls gibt es in Brüssel eine Mehrheit für ein Trennbanksystem, welches von der Bundesregierung zusammen mit der sozialistischen Regierung in Frankreich boykottiert wird.
Trotzdem ist es im Europaparlament oft gelungen, weitergehende soziale, Verbraucherschutz- und ökologische Regeln durchzusetzen als nationalstaatlich, aber nach wie vor gibt es zwei riesige Leerstellen: Es existieren immer noch keine richtigen sozialen Rechte auf europäischer Ebene und wir haben vor allem keine Steuerkooperation. Das heißt, wir brauchen für den Binnenmarkt soziale und ökonomische Standards. Ohne Europa jedoch wären die Mitgliedsländer noch viel härterem Umwelt- und Sozialdumping ausgeliefert. Nur Europa ist groß genug, um mächtigen Konzernen in der Globalisierung die Stirn zu bieten.
Sehen Sie bei den in Brüssel vertretenen Parteien irgendwo einen politischen Willen, etwas gegen die dort massiv vorhandenen Lobbyaktivitäten zu unternehmen?
Sven Giegold: Ich finde auch, dass es Brüssel eine richtige Lobbyplage gibt. Diese Lobbyplage ist deshalb so schlimm, weil damit nicht alle Interessen gleichermaßen vertreten werden. Dass Interessen von Gewerkschaften über NGO´s bis zu Wirtschaftsverbänden vertreten werden ist völlig normal, aber in Brüssel dominieren eindeutig die Wirtschaftsverbände. Diese Dominanz ist eine Gefährdung der Demokratie. Das gilt allerdings auch für Berlin, wo wir ebenfalls eine starke Dominanz der Wirtschaftsverbände haben.
Transparenzregister
Was müsste man also machen?
Sven Giegold: Wir brauchen eine vollständige Transparenz nicht nur darüber, wer mit wie viel Geld unterwegs ist, sondern müssen auch wissen, welche Lobbypapiere an die Staaten und EU-Institutionen herangetragen werden. Weiter muss es in einer Demokratie Grenzen geben, was Lobbys für Geld tun dürfen. Zum Beispiel sind wir der Meinung, dass Parteispenden wie auch die Finanzierung von Wahlkämpfen in größeren Summen unterbinden muss. Beim Wechsel von einem öffentlichen Mandat in die freie Wirtschaft muss es lange Übergangsfristen geben. Wir brauchen also Regeln zur Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht, dies aber nicht nur in Brüssel, sondern auch in den einzelnen Mitgliedsländern.
Das entscheidende Instrument hierzu ist das Transparenzregister: Wir haben es nach Jahren geschafft, dass es nun im Europaparlament trotz des langen Widerstandes von Konservativen und Liberalen eine Mehrheit für ein verbindliches Lobbytransparenzregister gibt, welches aber derzeit an den Mitgliedsländern scheitert, die hier zustimmen müssen. Auch die deutsche Bundesregierung unterstützt dies nicht, weil dann sofort die Frage im Raum wäre, warum es in Berlin keine Lobbytransparenz gibt. Also: Wir brauchen diese Maßnahmen dringend, wir Grünen fordern sie auch mit Nachdruck und würden uns hier von den anderen Parteien die gleiche Verve wünschen.
„Es darf nicht mehr jedes Land einfach machen, was es will“
Teilen Sie die Kritik an den Verhandlungen zum TTIP-Abkommen mit den USA?
Sven Giegold: Wir Grünen fordern den Stop der Verhandlungen, weil das Verhandlungsmandat auf der gesamten Breite die sozialen, ökologischen wie auch die Verbraucherschutzstandards zur Disposition stellt – und was noch schlimmer ist: Es schränkt in Zukunft die Möglichkeit ein, schärfere Standards festzulegen. Außerdem können Unternehmen Staaten auf Schadensersatz verklagen, wenn sie ihre Gewinnmöglichkeiten durch mehr soziale, ökologische oder Verbraucherschutzstandards eingeschränkt sehen.
Was mir hier aber wichtig ist anzumerken: Das TTIP-Verhandlungsmandat wurde – wie ganz ähnliche Mandate für das Abkommen mit Japan, Kanada und Singapur – stets mit der Mehrheit von Sozialdemokraten, Konservativen und Liberalen (beziehungsweise den Handelsministern der Parteien) gemeinsam beschlossen. Wenn nun einzelne Abgeordnete wie Herr Schulz auf Distanz gehen, wird dies erst ab dem Moment glaubwürdig, wenn sie auch ein neues Verhandlungsmandat fordern. Auf der Basis des jetzigen Verhandlungsmandats müssen diese Verhandlungen so schnell wie möglich beendet werden.
Wie groß ist die Chance, dass Sie ihre Position in der Fraktion auch durchsetzen und die Gefahr, dass die Grünen TIPP nicht doch zustimmen – so wie aktuell bei der Durchsetzungsrichtlinie zur Entsendungsrichtlinie[6] und vorher bei anderen Richtlinien?
Sven Giegold: Das sind jetzt zwei grundverschiedene Sachen: Die Fraktionslinie zum TTIP-Abkommen ist ganz eindeutig, wir haben fast einvernehmlich das Verhandlungsmandat abgelehnt. Die Entsenderichtlinie zielt sozial aber in eine ganz andere Richtung, denn sie verschärft die Kontrollen gegen Lohndumping in ganz Europa. Die Entsenderichtlinie nicht zu beschließen, hätte im neuen Parlament bedeutet, mit schlechteren Mehrheitsaussichten am Ende schlechtere Rechte für die Arbeitnehmer zu bekommen.
Deshalb haben wir der Entsenderichtlinie zugestimmt und ich bin auch stolz darauf, weil dies dazu führen wird, dass die unsäglichen Arbeitsbedingungen wie zum Beispiel in deutschen Schlachthöfen, wo deutsche Unternehmen osteuropäische Arbeitnehmer ganz brutal ausbeuten, eingeschränkt werden. Die Entsenderichtlinie verpflichtet jetzt die einzelnen Länder dagegen vorzugehen. Das ist ein Fortschritt, während TTIP einen Rückschritt für die europäische Demokratie darstellt.
[Anmerkung: Bei der Gewerkschaft IG Bau sieht man das ganz anders]
Lässt die EU ihren Mitgliedsstaaten generell genug Spielräume, um eine den besonderen Begebenheiten adäquate Wirtschaftspolitik machen zu können? Falls nein: Was muss sich ändern?
Sven Giegold: Hier muss man zwei Sachen unterscheiden: Erst einmal gibt es im Rahmen der Binnenmarktregulierung viel zu oft den Versuch, Verschiedenheit durch EU-Regulierung gleich zu machen. Wir haben zum Beispiel in Deutschland die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die immer wieder durch Bankenregeln aus Brüssel bedroht werden, die wir dringend für die Großbanken brauchen, aber die kleinen kaputt machen. Es kann nicht Aufgabe des Binnenmarktes sein, die Unterschiede wegzubürsten.
Die andere Frage ist makroökomischer Natur: Vor allem innerhalb der gemeinsamen Währungsunion ist der Spielraum für eine eigenständige Wirtschaftspolitik eingeschränkt, denn die Nicht-Euro-Länder besitzen nach wie vor die Möglichkeit der Auf- und Abwertung ihrer Währung und haben auch noch andere wirtschaftspolitische Instrumente zu ihrer Disposition. Lediglich die Handelspolitik ist hier vergemeinschaftet.
Innerhalb der Euro-Zone ist hingegen die Geldpolitik eine gemeinsame. Das bedeutet aber umso mehr, dass wir bei der Fiskalpolitik (wie auch bei anderen Instrumenten der Wirtschaftspolitik) Koordinierung brauchen. Es darf nicht mehr jedes Land einfach machen, was es will. Das war der Fehler bei der Einführung des Euros: Man hat die Geldpolitik vergemeinschaftet und ansonsten die Mitgliedsländer im Wesentlichen ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen. Das hatte fatale Folgen. In Zukunft müssen zentrale Punkte europäisch kontrollieren. Es kann zum Beispiel nicht mehr sein, dass Deutschland zehn Jahre lang seine Reallöhne nicht steigert und auf Kosten der Euro-Partnerländer immer höhere Überschüsse erwirtschaftet.
Es kann auch nicht sein, dass Länder wie Irland und Spanien es zulassen, dass eine Kreditblase mit einem Immobileinboom entsteht und hinterher das Land geschwächt ist, weil es sich damit massiv verschuldet hat. Vor allem jedoch muss Europa das Steuerdumping beenden. Wir brauchen Mindeststeuersätze überall in Europa und einen gemeinsamen Kampf gegen Steuerhinterziehung. Dann können alle Staaten in Europa ihre öffentlichen Defizite ausgleichen, ohne weitere einseitige Sparorgien zu betreiben.
Der Euro braucht eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik, weil der Euro insgesamt betrachtet ein Fortschritt ist: Denn, was viele vergessen, die Auf- und Abwertungspolitik war ja seinerzeit nicht lustig. Ich erinnere daran, dass dies regelmäßig mit großen Arbeitsplatzverlusten und Fehlinvestitionen in den Ländern verbunden war, die unter Aufwertungsdruck standen und George Soros das britische Pfund aus dem europäischen Währungssystem spekuliert hat. In einer globalen Ökonomie mit kleinen Währungen national zu agieren, ist kein Garant für wirtschaftliche Stabilität. Die Euro-Staaten müssen jetzt unter Schmerzen lernen, dass Länder, die eine gemeinsame Währung haben, ihre Politik gemeinsam abstimmen müssen.
„Europa muss sich von Energieimporten aus Russland unabhängig machen“
Finden Sie die Position der EU in der Ukrainekrise richtig oder wird hier gefährlich nah am Weltfrieden gezündelt?
Sven Giegold: Die Grundrichtung dieser Politik finde ich richtig, aber damit sind viele weitere Fragen verbunden: Erstens wäre das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU schon längst unterzeichnet worden, wenn die EU eine gemeinsame Außenpolitik machen würde. Zweitens haben wir zurecht die Proteste gegen die Abwendung von der EU unterstützt, gleichzeitig arbeiten wir hier auch mit Kräften zusammen, die man scharf kritisieren muss: Die Nationalisten dort haben, um es einmal freundlich auszudrücken, mit europäischen Werten nichts zu tun.
Zum dritten aber – und hier unterscheiden wir Grünen stark von den Positionen der Linkspartei – stehen wir zum Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer. Wie auch Polen und die baltischen Länder hat auch die Ukraine das Recht sich zu entscheiden, ob sie sich zur EU hin entwickeln wollen oder nicht. Dieses Selbstbestimmungsrecht darf man ihnen nicht aus geostrategischen Erwägungen nehmen. Was aber auf keinen Fall geht ist, dass die Grenzen des Militärischen überschritten werden: Die Ukraine sollte nicht in die NATO aufgenommen werden und wir sollten auch in diesem Konflikt keine militärischen Mittel nutzen. Trotzdem müssen wir Putin entgegentreten, damit er das Land nicht weiter destabilisiert.
Schließlich können wir aus dem Konflikt vor allem lernen, dass wir eine entschiedene europäische Investitionsoffensive in erneuerbare Energien und Energieeffizienz brauchen. Europa kann und muss sich gemeinsam von Energieimporten aus Russland und von anderen unsympathischen Staaten unabhängig machen. Das würde auch den Krisenländern helfen, um von der hohen Arbeitslosigkeit herunterzukommen.
Nachdem die alte Regierung weggejagt wurde, kommen die Ukrainer jetzt unter das Diktat des IWF. Hat man dafür auf dem Maidan protestiert?
Sven Giegold: Die Menschen in der Ukraine wollten auf keinen Fall die IWF-artigen Programme und ich halte es auch für einen schweren Fehler, dass die IWF-Bedingungen für die Hilfskredite wieder nach dem gleichen Muster gestrickt sind wie schon so oft. Das heißt: Auf der einen Seite werden die Kosten der Krise auf die kleinen Leute abgeladen und die großen Vermögen werden geschont.
In europäischen Landesteilen wie Schottland und Katalonien gibt es politisch relevante Unabhängigkeitsbestrebungen. Halten Sie diese für sinnvoll?
Sven Giegold: Die Zersplitterung Europas in immer kleinere Staaten sehe ich kritisch: Es ist eine Sache, regionale Autonomie anzustreben und eine andere, die nationalen Grenzen in Europa verschieben zu wollen. Das Gefährliche an der Krim-Entwicklung ist, dass es in Europa viele Regionen gibt, in denen sich im Laufe der Geschichte Mehrheiten für andere nationale Zustände entwickelt haben, während wir aber wirklich andere Probleme haben, als überall nationalstaatliche Grenzen wieder in Frage zu stellen. Denken Sie an Ungarn und seine Außengrenzen. Wir spielen hier mit dem Feuer. Abspaltungen sind im Völkerrecht niemals einseitig möglich, sondern dürfen letztendlich nur immer Entscheidungen des jeweiligen bestehenden Staates sein.
Das Interview bei Heise.de finden Sie hier.