Sven Giegold

Behindertenpolitik in Deutschland kann nur im Zusammenspiel mit der EU gelingen

10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland

Papier ist geduldig. Vor zehn Jahren, am 26. März 2009, trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft. Damit verpflichtete sich Deutschland als eines der ersten von mittlerweile 177 Ländern. Doch damit genug des Jubels. Deutschland scheitert bisher an seiner völkerrechtlichen Selbstverpflichtung der Umsetzung des Leitgedankens „das gesellschaftliche Leben Aller muss von vornherein für alle Menschen (inklusive der Menschen mit Behinderungen) ermöglicht werden“. Die UN-BRK ist ein völkerrechtlich bindender Vertrag im Range eines einfachen Bundesgesetzes, weshalb sie kaum rechtliche Wirksamkeit hat. Erst die konkrete Umsetzung der einzelnen UN-BRK Verpflichtungen in konkrete deutsche Gesetze verleiht ihr Wirksamkeit. Bedauerlicherweise wurden seit der Unterzeichnung der UN-BRK nur die Gleichstellungsgesetze der Länder und des Bundes für Menschen mit Behinderungen novelliert. Konkret bedeutet das, dass nur die Regeln bearbeitet wurden, die den Schutz vor Diskriminierung im Verhältnis Bürger-Staat regeln. Ausgeschlossen von diesen Regeln ist also der privatrechtliche Diskriminierungsschutz. Im Alltag müssen sich private Einrichtungen, Organisationen und Firmen nicht bemühen, Barrierefreiheit anzustreben oder gar anzubieten. Die Bundesregierung zog es stattdessen vor, Forderungen von Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen, die Verpflichtung zur Barrierefreiheit auch für Private aufzunehmen, geflissentlich zu ignorieren. Aus diesem, im übrigen UN-BRK-widrigen, Umsetzungsdefizit bei der Schaffung angemessener Vorkehrungen für einen diskriminierungsfreien Zugang von Menschen mit Behinderungen zu allen Bereichen der (sozialen) Daseinsvorsorge werden wir mit dieser Bundesregierung nur mit Hilfe europäischer Rechtssetzung herauskommen.

Die 5. EU Anti-Diskriminierungsrichtlinie

Das im August 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist derzeit das deutsche Regelungswerk und die Antwort zur Umsetzung der vier europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien. Die 4. Anti-Diskriminierungsrichtlinie der EU hat Barrierefreiheit beim Staat mehr vorangebracht als die meisten Mitgliedstaaten es aus eigenem Antrieb je getan hätten. Ein schöner europäischer Erfolg, der für uns noch weitergehen soll! Wir möchten gerade auch Unternehmen in die Verantwortung für Inklusion holen. Bereits 2008 legte die Europäische Kommission ihren Vorschlag für die 5. Anti-Diskriminierungsrichtlinie vor. Seit 10 Jahren jedoch blockiert die  CDU/CSU geführte Regierung vehement die Richtlinie im Europäischen Rat mit dem Argument, dass sie sich bereits gegen alle Formen von Diskriminierung einsetzen würden. Mit der neuen Richtlinie sehen sie große Rechtsunsicherheit und hohe Kosten verbunden. Das Gegenteil ist der Fall, denn diese Richtlinie würde den europäischen Rahmen definieren, an dem auch Deutschland sich orientieren muss. Deshalb bedarf es des Drucks von engagierten Staaten innerhalb der Europäischen Union, Deutschland endlich vom Kurs des falschen Geizes abzubringen. 2010 erklärten Spanien, Belgien und Ungarn in ihrem gemeinsamen Achtzehnmonatsprogramm für die Ratspräsidentschaft, die Bekämpfung von „Diskriminierung und die Förderung der Integration von gemeinsamen Grundwerten in der gesamten Europäischen Union“ als kollektive Aufgabe. Dieser 10 Jahre währenden Blockade Deutschlands der 5. Anti-Diskriminierungsrichtlinie wollen wir noch stärkeren Druck entgegensetzen.

Europawahlrecht auch für 85.000 Bürgerinnen und Bürger

Doch unser Einsatz für verstärkte Inklusion von Menschen mit Behinderung hat bereits vor den kommenden Wahlen im Mai begonnen. Da Behindertenpolitik in Deutschland nur im Zusammenspiel mit der EU gelingen kann, ist es nur folgerichtig, dass auch die 85.000 Bürgerinnen und Bürger, die derzeit von politischer Teilhabe ausgeschlossen werden, ihr Wahlrecht erhalten. Deshalb haben die Fraktionen von Grünen, FDP und Linken im Bundestag vor dem Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung beantragt. Damit soll sichergestellt werden, dass der Ausschluss von Menschen mit Behinderung vom Wahlrecht schon rechtzeitig für die Europawahl ein Ende hat. Bisher ist vom Wahlrecht ausgeschlossen, für wen dauerhaft ein Berufsbetreuer bestellt wurde, der oder die sich um alle rechtlichen Angelegenheiten kümmert. Dabei geht es um das Wahlrecht von rund 85.000 Bürgerinnen und Bürgern! Das Bundesverfassungsgericht hatte dies im Februar bezüglich der Bundestagswahlen für verfassungswidrig erklärt. Der Antrag von Grünen und anderen Fraktionen richtet sich gegen die Wort für Wort gleiche Regelung im Europawahlgesetz. Stichtag für die Anpassung der Wählerverzeichnisse ist 42 Tage vor der Europawahl, also der 14. April 2019. Eine Anpassung rechtzeitig zur Europawahl wäre also möglich. Die Große Koalition will den Wahlrechtsausschluss für alle Wahlen streichen, allerdings soll die Änderung erst zum 1. Juli 2019 in Kraft treten, kurz nach der Europawahl am 26. Mai 2019. Union und SPD hatten die Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses schon im Koalitionsvertrag versprochen, dann aber über Monate im parlamentarischen Verfahren blockiert. Diese Untätigkeit der Großen Koalition nehmen wir nicht hin.

EU Behindertenpolitik – wir packen sie in den nächsten 5 Jahren an

Der größte Gegner von Inklusion in allen Bereichen, der Ermöglichung der Teilhabe am öffentlichen Leben, die Barrierefreiheit im Alltag, ist die Barriere im Kopf der Menschen. Besonders in Deutschland scheinen diese Barrieren sehr hoch, wenngleich im Sinne der Kriterien der UN-BKR etwa ein Viertel der Bevölkerung als behindert gilt. Behindertenpolitik ist kein Nischenthema und betrifft gerade in alternden Gesellschaften eine zunehmende Anzahl von Menschen. Doch Deutschland hat es in den letzten zehn Jahren versäumt, auf Länder- und Bundesebene verantwortungsvoll zu handeln. Das nehmen wir nicht länger hin. Inklusion ist ein wichtiger Baustein für ein soziales Europa. Die entsprechenden rechtlichen Verbindlichkeiten zu definieren, auszugestalten und umzusetzen sind wichtig und bilden den Rahmen. Unsere Forderung nach rechtlicher Verbindlichkeit dient nicht dazu einer vermeintlich grassierenden Regelungswut zu entsprechen, sondern um – ganz einfach und nachdrücklich – klar zu machen: Es sind grundlegende Menschenrechte, die hier unverhandelbar ihren Ausdruck finden. Die Umsetzung der UN-BRK in allen Bereichen auf nationaler aber auch EU-Ebene halten wir für unabdingbar. Weiterhin gilt es, die auslaufende European Disability Strategy (2010 – 2020) für die nachfolgende Dekade auszuformulieren, im EU-Haushalt entsprechende Programme zu hinterlegen und dadurch eine systematische Implementierung der UN-BRK auf EU-Ebene und den Mitgliedstaaten zu garantieren.

Auch im Bereich der EU-Verbraucherpolitik werden wir weiter kämpfen. Der barrierefreie Zugang und die Nutzung von Diensten, Produkten und Waren sind wesentliche Faktoren für ein selbstbestimmtes und inklusives Leben von behinderten Menschen. Alle Mitgliedstaaten sind bereits zum barrierefreien Zugang ihrer Internetseiten und der dortigen Dokumente verpflichtet. Interessanterweise gilt das nicht für die europäischen Institutionen. Hier werden wir zuerst ansetzen, auch im Europäischen Parlament. Auch der „European Accessibility Act“ ist sicherlich ein Schritt zu mehr Barrierefreiheit, aber eben nur für digitale Produkte. Dies war von Beginn an kritisiert worden, weshalb wir uns für einen erweiterten Vorschlag der Kommission einsetzen müssen. Ein verpflichtender barrierefreier Zugang zu allen Gebäuden, Verkehrsmitteln und Gegenständen des Alltags muss eine Selbstverständlichkeit werden.

Leben, Arbeit, Anerkennung: Leben ist nicht nur Arbeit. Arbeit bedeutet aber vielfach Anerkennung. Jedoch ist gute Arbeit für Menschen mit Behinderung oftmals Mangelware. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen und Parallelstrukturen in den europäischen Schulen und europäischen Arbeitsmärkten schrittweise aufzulösen. Die Anzahl der einstellungswilligen Unternehmen in der Europäischen Union muss durch neu konzipierte Anreiz-, aber auch Sanktionsmechanismen weiter erhöht werden, um der UN-BRK tatsächlich nachzukommen. Anerkennung spiegelt sich auch in der Bezahlung wider und somit muss die Entlohnung in den Behindertenwerkstätten und anderen „spezialisierten“ Einrichtungen entsprechend des landesspezifischen oder besser nach einem zukünftigen europäischen Mindestlohn erfolgen. Dieser muss gesellschaftliche Teilhabe jenseits des Existenzminimums tatsächlich ermöglichen.

Europa ist und bleibt ein Versprechen. Ein Versprechen für die Zukunft aller Bürgerinnen und Bürger der EU – mit und ohne Behinderung. Ein soziales Europa macht es zu einem einzigartigen Zukunftsversprechen. Und nur ein soziales Europa wird die Fliehkräfte an den geographischen Rändern, aber auch im Inneren des Kontinents bändigen können. Ein soziales Europa kann internationaler Referenzpunkt werden und globale Impulse setzen. Ein inklusives Europa ist ein Baustein dieses neuen, sozialen Europas. Wir Grünen setzen uns für dieses inklusive, soziale Versprechen „Europa“ ein.

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