Sven Giegold

«Die EU ist keine attraktive Braut» Die Grünen wollen ihre Europapolitik neu aufstellen – und holen mit Sven Giegold Hilfe aus Deutschland.

Tagesanzeiger Schweiz: Von Raphaela Birrer, 18.08.2016. 

Die Grünen hadern: Sie sind in den letzten Jahren in der Wählergunst deutlich gesunken. Mit rund 7 Prozent Wähleranteil liegen sie mittlerweile nur noch knapp über den beiden Kleinparteien BDP und GLP – eine Schmach für die einst erfolgreichen Umweltschützer, die 2007 noch an der 10-Prozent-Marke kratzten. Ihr Problem: Die Themenkonjunktur verläuft nicht zu ihren Gunsten. Terror, Flüchtlinge, Europa – das bewegt die Schweizer zurzeit mehr als der grüne Umbau der Wirtschaft in unsicheren Zeiten. Und in diesen Bereichen kann die Themenpartei bislang nicht punkten: Sie stellt sich gegen mehr Überwachung, sie will Zehntausende Flüchtlinge aufnehmen, und sie ist noch immer jene Kraft im Land, die einem EU-Beitritt am zugetansten ist. Aktuell sind gemäss einer GFS-Umfrage 12 Prozent der Grünen-Sympathisanten «bestimmt dafür», 17 Prozent «eher».

Doch mit dem Endspurt bei der Umsetzung der Zuwanderungsinitiative gewinnt das Thema an Relevanz – und schärfere europapolitische Konturen tun Not. An ihrer Delegiertenversammlung am Samstag diskutiert die Partei deshalb über ihre künftige Ausrichtung in dieser Frage. Dabei geht es zum einen um die Strategie in den aktuellen Verhandlungen: Die Grünen plädieren dafür, dass zuerst ein Konsens mit der EU gesucht wird, ehe die Schweiz einseitig Massnahmen zur Zuwanderungsbegrenzung beschliesst. Sollte das nicht gelingen, wollen die Grünen per Referendum klären, ob das Volk sich noch für die bilateralen Verträge ausspricht.

Zum anderen setzt die Partei bei dieser Diskussion auf die Aussensicht. Zur DV hat sie den grünen deutschen Europaparlamentarier Sven Giegold eingeladen. Er wird sein Reformprogramm für Europa präsentieren. Und die Umsetzung der Zuwanderungsinitiative aus seiner EU-Perspektive beurteilen. Im Gespräch mit Tagesanzeiger.ch/Newsnet sagt Giegold, was er den Grünen raten wird.

Herr Giegold, Sie wollen die EU demokratie- und wirtschaftspolitisch reformieren. Was muss geschehen, damit die Union aus ihrer tiefen Krise kommt?
Die EU krankt auf zwei Ebenen: Sie schafft es nicht, grosse Herausforderungen effektiv zu lösen. Und sie hat ein Demokratiedefizit. Die Union braucht dringend Gemeinschaftsprojekte, um Identität zu stiften und den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ich denke dabei an eine länderübergreifende Energiewende zu den Erneuerbaren, an Erasmus-Austauschprogramme für alle jungen Leute, an ein europäisches Schienennetz, an eine flächendeckende digitale Infrastruktur. In jenen Regionen, in denen das fehlt, wenden sich die Bürger dem Populismus zu.

Damit spulen Sie doch einfach das grüne Programm herunter. Das ist nicht mehrheitsfähig.
Die Energiewende war in Deutschland zuerst auch nicht mehrheitsfähig. Und schauen Sie jetzt, was wir erreicht haben! Warum sollte das in Europa nicht möglich sein? Schliesslich sind alle Länder betroffen; in Spanien gibt es Dürren, in der Schweiz die Gletscherschmelze.

Und wie soll das Demokratiedefizit konkret behoben werden? Davon sprechen EU-Befürworter seit Jahren – und doch ändert sich nichts.
Die EU wird nur handlungsfähiger, wenn sie demokratischer wird. Dafür braucht es Transparenz. Zum einen muss Licht in das Lobbying der 25’000 Interessenvertreter in Brüssel gebracht werden. Zum anderen sollten die Protokolle der Ratssitzungen genauso öffentlich zugänglich sein wie jene des Europaparlaments. Dann könnten sich die Regierungen nicht mehr hinter den Entscheiden des Gremiums verstecken, sondern müssten Verantwortung für ihr Handeln in Brüssel übernehmen.

Für politisch durchschnittlich interessierte EU-Bürger dürften diese Massnahmen abstrakt bleiben.
Nein, denn durch Transparenz würde eine europäische Öffentlichkeit geschaffen. Statt auf nationaler Ebene würde EU-weit kontrovers gestritten. Und das wiederum würde ein Gefühl der Involviert- und Informiertheit bei den Bürgern schaffen. Denn Technokratie ist genauso gefährlich für die Demokratie wie Populismus.

Bis dahin ist es ein weiter Weg. In der Zwischenzeit erlebt Europa eine Renationalisierung.
«Take back control» lautete der wirkungsmächtigste Slogan beim Brexit. Der Kontinent leidet an der Verführung durch den Souveränitätsmythos. Dabei lässt sich die Zukunft nicht im Kleinen meistern. Wie sollen Deutschland oder die Schweiz der Marktmacht von Facebook und Google Grenzen setzen oder gar den Klimawandel aufhalten? Nur Europa ist stark genug, europäischen Werten Nachdruck zu verleihen. Die konstruktive Antwort auf das Unwohlsein in der bestehenden EU ist nicht Renationalisierung, sondern die Demokratisierung der Union. Auf Dauer wird sich in Europa der Nationalstaat nicht behaupten können.

Inwiefern dient die Schweiz als Vorbild auf dem Weg zu mehr Demokratie?
Europa kann von der Schweiz lernen, wie der Ausgleich zwischen den Kantonen funktioniert – bei gleichzeitig starker Freiheit der Regionen. Zudem ist das Instrument der Volksinitiative sinnvoll: Was die ganze Schweiz betrifft, wird national entschieden. Nicht wie in Europa, wo ein Volksentscheid in einem einzelnen Staat die ganze Union blockieren kann. Verbindliche Volksinitiativen würden Brüssel dazu verpflichten, sich mit Anliegen der Bürger zu befassen.

Sie werden am Samstag Parallelen zwischen dem Brexit und der Umsetzung der Zuwanderungsinitiative ziehen. Sind die Schweizer Hoffnungen auf ein Entgegenkommen der EU realistisch?
Wenn Grossbritannien weiterhin Teil des Binnenmarkts sein will, muss es nicht nur dessen Regeln einhalten, sondern auch die Personenfreizügigkeit akzeptieren und zum EU-Budget beitragen. Da wird es keinen Rabatt geben. Deshalb gibt es auch für die Schweiz keinen Sonderweg. Der Brexit hat den Verhandlungsspielraum für die Schweiz nicht erweitert, sondern beschnitten.

Welche Lösung gibt es also für die Schweiz?
Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Fakt ist aber: Das Schweizer Stimmvolk verlangt die Quadratur des Kreises. Für den Bundesrat ist das Verdikt ein unmöglicher Verhandlungsauftrag. Vielleicht müsste das Volk darum erneut entscheiden.

Die Grünen in der Schweiz wollen sich am Samstag für diese europapolitische Debatte rüsten. Ein EU-Beitritt hat in der Partei aktuell nur noch 12 Prozent Zustimmung. Werden Sie ihr raten, ihre Position zu überdenken?
Ich verstehe das, die EU ist im Moment keine attraktive Braut. Man kann niemandem raten, derzeit eine Beitrittsdiskussion zu führen. Wichtiger ist etwas anderes: Es muss auch in der Schweiz Aufgabe der Grünen sein, gegen falsche Souveränitätsmythen vorzugehen. Auch ausserhalb der EU kann die Schweiz international und in Europa Verantwortung übernehmen, statt sich einzuigeln. Denn weder soziale Sicherheit noch wirtschaftlicher Erfolg lassen sich in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung national allein garantieren.

Die Grünen stecken aber in einem europapolitischen Dilemma: Der aussenpolitischen Öffnung stehen Sorgen um Umweltschutzstandards in einer globalisierten Wirtschaft gegenüber.
Die Natur macht nicht an nationalen Grenzen halt. Auf europäischer Ebene braucht es ein Mindest-, nicht ein Maximalmass an Umwelt- und Artenschutz. Das würde die Schweiz nicht daran hindern, stärkere Schutzmassnahmen beizubehalten. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

Von:

Raphaela Birrer
Bundeshausredaktorin
@raphaelabirrer

«Die EU ist keine attraktive Braut»
Der Bund Online, Donnerstag, 18 August 2016, 1069 Wörter, Copyright 2016. Espace Media AG (Erstellt: 18.08.2016, 17:26 Uhr)

 

Rubrik: Demokratie & Lobby, Unkategorisiert

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