Liebe Freundinnen und Freunde,
Liebe Interessierte,
in dem ganzen Trubel um den Kotau der EU vor Trumps Erpressungspolitik ist eine erfreuliche Nachricht aus Brüssel fast komplett untergegangen: Die EU macht ernst mit den Maßnahmen gegen die Schwemme von Paketen aus China mit Produkten, die keine europäischen Umwelt-, Verbraucher- und Sicherheitsstandards einhalten. Firmen wie TEMU, SHEIN und nun auch TikTok Shop haben zu einer Paketflut in die EU geführt. Alleine 2024 kamen 4,17 Milliarden (ja, Milliarden!) Einzelpakete von Herstellern vor allem ausChina direkt an Verbraucher*innen im EU-Binnenmarkt. Noch als Staatssekretär im BMWK hatte ich mich sehr dafür eingesetzt, dass die EU eigene Warenkäufe durchführt (“mystery shopping”), um so die Datengrundlage für ein rechtssicheres Verfahren gegen TEMU und andere große Online-Plattformen zu legen. Genau dieses Mystery Shopping hat jetzt zum Erfolg geführt: Die EU-Kommission hat gegen TEMU nun offiziell festgestellt, dass TEMU gegen grundsätzliche Normen des EU-Digitalrechts verstößt. Insbesondere tut TEMU zu wenig, um den Vertrieb illegaler Produkte im EU-Binnenmarkt zu unterbinden. Dazu ist TEMU als sehr große Plattform nach dem Digital Services Act (DSA) aber verpflichtet.
Genau hier liegt des Pudels Kern des Geschäftsmodells von TEMU & Co.: Anders als andere große Online-Händler wie Amazon oder Zalando betreiben TEMU & Co. nicht einmal Lager in Europa. Die Verträge schließen Verbraucher*innen direkt mit den Herstellern in China statt mit der Online-Plattform. Vielfach entsprechen die Produkte nicht den Regeln des europäischen Binnenmarkts. Die chinesischen Hersteller, etwa aus der Konsumgüterindustrie, bekommen damit einen unfairen Wettbewerbsvorteil gegenüber EU-Herstellern, die viel Geld und Aufwand aufwenden, um sich an europäische Regeln zu halten. Dieser unfaire Wettbewerb schadet nicht nur dem örtlichen Einzelhandel, sondern auch der europäischen Konsumgüterindustrie.
Das Verfahren der EU-Kommission betritt rechtliches Neuland. Denn vielfach halten Waren auf dem EU-Binnenmarkt europäisches Recht nicht ein. Die Verletzung von EU-Standards im Umwelt- und Verbraucherschutzbereich sind weit verbreitet. Doch für die Überwachung sind die Mitgliedsstaaten mit ihren Marktüberwachungsbehörden zuständig. In Deutschland sind das oft die Bundesländer. Die Marktüberwachung funktioniert jedoch oft nicht, schon weil die Behörden zu wenig Personal und/oder Durchsetzungswillen haben. Dem schlägt die EU nun ein Schnippchen. Für die großen Online-Plattformen ergänzt sie die Daten der nationalen Marktüberwachungsdaten mit eigenen Daten. Die großen Online-Plattformen sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die auf ihnen vertriebenen Produkte nicht systematisch gegen EU-Standards verstoßen. Genau daran scheitern TEMU & Co. und das kann man ihnen jetzt nachweisen. Hier zeigt sich auch ein Vorbild für die effektive Marktüberwachung in vielen anderen Bereichen. Wenn die EU eigene Marktüberwachungsdaten erhebt, können Standards auch in ganz Europa nicht nur auf dem Papier stehen, sondern tatsäch Umwelt und Verbraucher*innen schützen.
TEMU kann nun auf die vorläufigen Feststellungen der EU reagieren. Danach drohen Sanktionen von bis zu 6% des weltweiten Umsatzes. Das täte wirklich weh. Hinzu kommt, dass die EU für direkt zu den Verbraucher*innen aus Drittländern versandte Pakete eine Paketabgabe erheben will, die faktisch die Zollfreiheit für TEMU, SHEIN, Tik Tok Shop & Co. aufheben würde.
Allerdings leidet das Vorgehen der EU unter einer Schieflage. Denn die EU will nur gegen solche Online-Plattformen vorgehen, die in der EU keine Lager betreiben. Doch auch auf z.B. Amazon gibt es viele Produkte, die EU-Regeln missachten und damit unfairen Wettbewerb schaffen. Zudem geht die EU im Falle von TEMU viel schärfer vor als im Falle von SHEIN. Auch SHEIN verletzt systematisch EU-Standards. Es hat mindestens ein Geschmäckle, dass SHEIN den ehemaligen EU-Kommissar Günther Oettinger als Berater angeheuert hat und nun gegen die beiden chinesisch dominierten Plattformen unterschiedlich vorgegangen wird.
Wie dem auch sei. Das Vorgehen gegen TEMU ist ein Lichtblick in dunklen Tagen für ein Europa, das eine sozial-ökologische Marktwirtschaft voranbringt. Denn Europas Standards sind nur dann wegweisend, wenn sie wirklich durchgesetzt werden. Europas Industrie und Handel sind oftmals bereit, ökologische und soziale Standards anzuheben. Aber sie dürfen dafür nicht mit unfairem Wettbewerb bestraft werden. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn Europa im Binnenmarkt hohe Standards tatsächlich durchsetzt, kann daraus ein Wettbewerbsvorteil für nachhaltige Produkte made in Europe werden. Daran sieht man: EU-Binnenmarktpolitik ist nicht langweilig oder technisch, sondern es geht hier um multimilliardenschwere Interessen und unser aller Zukunft – ökologisch, sozial, wirtschaftlich.
Mit europäischen grünen Grüßen
Sven Giegold
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Hier die Erklärung der EU-Kommission zur vorläufigen Entscheidung:
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_25_1913
Und noch mehr zur Entstehung der Maßnahmen: