Hier zuerst veröffentlicht am 16. Juli 2020: https://www.euractiv.de/section/finanzen-und-wirtschaft/opinion/die-finanztransaktionssteuer-muss-kommen/
Auf dem morgigen EU-Gipfel werden die Staats- und Regierungschefs weiter über die Finanzierung des europäischen Wiederaufbaus verhandeln. Deutschland und Frankreich wünschen sich dafür unter anderem eine Finanztransaktionssteuer – doch ihr Vorschlag weist große Lücken auf, warnen 70 Europaabgeordnete in einem offenen Brief.
Im April sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem wöchentlichen Video-Podcast, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ganz klar von der Frage der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen geprägt sein werde. Als eine Maßnahme zur Finanzierung des Wiederaufbaus nannte sie die Finanztransaktionssteuer, die sich auch im Programm für die deutsche Ratspräsidentschaft vom 1. Juli wiederfindet.
Auf den ersten Blick erscheint es zum jetzigen Zeitpunkt begrüßenswert, den Finanzsektor stärker an den Kosten der Krise zu beteiligen. Das Problem ist die eigentliche Summe, um die es dabei geht. Jüngste Anfragen an die Finanzminister Deutschlands und Frankreichs, die die langjährigen Verhandlungen über eine europäische Finanztransaktionssteuer anführen, zeigen, dass die Gespräche weiterlaufen, als wäre nichts geschehen – trotz der erheblichen Mehrausgaben, die durch die Corona-Pandemie auf uns zukommen.
Entgegen der Worte von Bundeskanzlerin Merkel wird weiterhin nur über den äußerst unbefriedigenden Vorschlag vom letzten Herbst diskutiert, der nicht einmal vier Milliarden Euro pro Jahr in zehn EU-Ländern in die Kassen spülen würde. Ist es nicht erstaunlich, dass die Politik weitermacht wie bisher, obwohl wir angesichts der massiven Herausforderungen der Corona-Krise endlich entschlossen vorgehen müssten? Im Vergleich zu den gigantischen Kosten, die durch die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen entstehen, erscheinen zusätzliche Steuereinnahmen von ein paar Milliarden Euro geradezu lächerlich.
Um eins klarzustellen: Das Problem ist nicht die Steuer selbst. Die Besteuerung von Finanztransaktionen, die von den reichsten Unternehmen und Privatpersonen getätigt werden, gilt schon lange als wünschenswert, populär und zeitlich angebracht, um einen Teil des Geldes für dringend notwendige öffentliche Ausgaben im In- und Ausland umzuverteilen. In der Tat ist dieser Schritt längst überfällig. So stimmte die überwältigende Mehrheit der Europaabgeordneten 2012 auch für die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer. Damals lautete der Vorschlag, alle Märkte, Akteure und Finanzprodukte zu besteuern.
In den vergangenen Jahren hätte die Finanzlobby diesem Projekt jedoch beinahe den Todesstoß versetzt. Vor allem ist es ihr gelungen, eine bereits getroffene Vereinbarung zu verwässern, indem sie dafür sorgte, dass der Handel mit Derivaten von der Besteuerung ausgenommen werden soll. Allein diese Anlageklasse von der Steuer zu befreien, würde bedeuten, auf einen Großteil der möglichen Einnahmen zu verzichten und zudem die regulatorische Wirkung einer solchen Finanztransaktionssteuer zu zerstören, die den Hochfrequenzhandel eindämmt und stattdessen Anreize für längerfristige Investitionen schafft.
Vor ein paar Wochen geschah jedoch etwas, das all das ändern könnte und Grund zu vorsichtiger Hoffnung gibt. Dazu muss man wissen, dass Italien bereits 2013 eine wenn auch sehr bescheidene Finanztransaktionssteuer eingeführt hat. Mit einer Klage gegen die italienische Steuerbehörde versuchte die italienische Tochtergesellschaft der französischen Geschäftsbank Société Générale, der Besteuerung von Finanztransaktionen auf derivative Finanzinstrumente zu entgehen. Der Fall landete schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) – und der wies das Argument der Société Générale zurück, demzufolge die italienische Finanztransaktionssteuer nicht mit den Grundsätzen des freien Verkehrs von Kapital und Dienstleistungen vereinbar wäre. Dieses großartige Urteil ist richtungsweisend und schafft Klarheit in Bezug auf Fragen der Extraterritorialität bei der Besteuerung von Derivaten.
Zugleich ebnet es den Weg für die Einigung auf eine deutlich ambitioniertere Finanztransaktionssteuer, mit der jedes Jahr Einnahmen im zweistelligen Milliardenbereich erzielt werden könnten. Für eine solche Finanztransaktionssteuer würde es sich zu kämpfen lohnen, denn sie könnte in Kombination mit anderen progressiven Maßnahmen – etwa einem entschiedeneren Vorgehen gegen Steuervermeidung durch Unternehmen – die erforderlichen Mittel einbringen, um die Zukunft im Rahmen des Wiederaufbaus nach Corona besser, nachhaltiger und grüner zu gestalten.
Jetzt liegt es an uns, Deutschland und Frankreich für ihren fehlenden Mut anzuprangern. Wir müssen deutlich machen, dass die Finanztransaktionssteuer, die derzeit diskutiert wird, nicht reicht. Der aktuelle Kompromiss war schon immer unbefriedigend – doch angesichts der Herausforderungen in Zeiten von Corona wäre eine solche zaghafte Maßnahme mehr als unangemessen und würde von einem Mangel an politischer Entschlossenheit und Führung zeugen.
Das EuGH-Urteil hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Wir können nun die Chance nutzen, um an Deutschland und Frankreich zu appellieren, den aktuellen Vorschlag zur Finanztransaktionssteuer angesichts dieses jüngsten Gerichtsurteils zu überdenken. Und wir müssen die an den Verhandlungen beteiligten Mitgliedstaaten wie Italien, Spanien und Portugal drängen, die Besteuerung von Derivaten wieder auf die Tagesordnung zu bringen, damit Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft die Chance hat, eine substanzielle Finanztransaktionssteuer auf den Weg zu bringen, von der Europa und die Welt profitieren.
Die unterzeichnenden Europaabgeordneten:
Grüne/EFA
Sven Giegold – DE; Michael Bloss – DE; Jutta Paulus – DE; Terry Reintke – DE; Niklas Nienass – DE; Rasmus Andresen – DE; Katrin Langensiepen – DE; Reinhard Bütikofer – DE; Daniel Freund – DE; Damian Boeselager – DE; Anna Cavazzini – DE; Alexandra Geese – DE; Erik Marquardt – DE; Henrike Hahn – DE; Damien Carême – FR; Mounir Satouri – FR; Karima Delli – FR; Marie Toussaint – FR; Benoît Biteau – FR; David Cormand – FR; Ville Niinisto – FI; Heidi Hautala – FI; Alviina Alametsä – FI; Philippe Lamberts – BE; Ernest Urtasun – ES; Kira Marie Peter-Hansen – DK; Stasys Jakeliūnas – LT; Monika Vana – AT; Pär Holmgren – SE; Alice Kuhnke – SE; Jakop Dalunde – SE; Bas Eickhout – NL; Francisco Guerreiro – PT; Grace O’Sullivan – IE; Ciaran Cuffe – IE
S&D
Dietmar Köster – DE; Aurore Lalucq – FR; Pierre Larrouturou – FR; Raphael Glucksmann – FR; Eric Andrieu – FR; Brando Benifei – IT; Franco Roberti – IT; Massimiliano Smeriglio – IT; Pierfrancesco Majorino – IT; Elisabetta Gualmini – IT; Patrizia Toia – IT; Giuseppina Picierno – IT; Pietro Bartolo – IT; Giuseppe Ferrandino – IT; Iban García del Blanco – ES; Tanja Fajon – SI; Milan Brglez – SI; Marie Arena – BE; Marc Tarabella – BE
EVP
Markus Pieper – DE
GUE/NGL
Manon Aubry – FR; Helmut Scholz – DE; Martin Schirdewan – DE; Martina Michels – DE; Özlem Demirel – DE; José Gusmão – PT
Renew
Pascal Durand – FR; Sandro Gozi – FR; Klemen Groselj – SI
Fraktionslose
Fabio Massimo Castaldo – IT (M5S + VP European Parliament); Tiziana Beghin – IT (M5S); Eleonora Evi – IT (M5S); Piernicola Pedicini – IT (M5S); Mario Furore – IT (M5S); Dino Giarrusso – IT (M5S)