Es gibt gute Gründe, warum Europäer sich auf die EU-Debatte britischer Nationalkonservativer gar nicht erst einlassen. Den Euroskeptikern fällt es allzu leicht, ein diffuses Gefühl der Ohnmacht gegenüber Brüssel zu bedienen, anstatt sich konstruktiv einzumischen. Als hätte nicht auch Großbritannien die Gemeinschaft seit Jahrzehnten aufgebaut. Als hätten Briten keine Stimme in Europas Institutionen. Als wäre das Land des Parlamentarismus und der Menschenrechte nicht ein Startpunkt für das europäische Projekt.
Auch unter Grünen lautet der Reflex auf das notorische britische EU-Bashing immer öfter: ‚Dann geht doch‘. Das klingt ähnlich trotzig wie die Dauerdrohung ‚Wir gehen’. Ärgerlich daran: das gemeinsame Nachdenken über die Schwächen und Mängel der heutigen Union fällt aus. Stattdessen scheint Premier David Cameron in der Europafrage immer nur verlieren zu können: entweder als britischer Konservativer zuhause oder als Europäer in Brüssel. Je nachdem lautet die Anklage auf Kapitulation oder Erpressung. Diese unglückliche Position hat er nun mit einem neuerlichen Ultimatum an die EU verlängert.
Doch der eigentliche Konflikt taugt nicht für dieses wiederkehrende Spektakel, mit samt den erwartbaren Reaktionen im Publikum. Denn Cameron adressiert zu Recht ein Unwohlsein gegenüber der EU, das nicht nur Briten kennen. Es ist zuallererst die immer wieder neu zu stellende Frage, was eigentlich auf europäischer Ebene zu regeln ist und was nicht. Wenn Cameron es mit einer europäischen Subsidiaritätsdebatte ernst meint, können wir Grüne viel dazu beitragen.
Das kommunale, dezentrale, auch basisdemokratische Denken ist urgrün. Grüne mögen die Energiewende dort am Liebsten, wo sie dezentral organisiert wird, wo Bürger sie selbst in die Hand nehmen können. Die EU muss Kommunen auch nicht indirekt drängen, die Wasserversorgung zu privatisieren. Sie muss Sparkassen und Genossenschaftsbanken auch nicht unnötig das Leben schwer machen, nur weil deren deutsches Modell des nachhaltigen Bankgeschäfts nicht in den üblichen Ansatz der Profitmaximierung passt. Wir Grüne sind immer dafür zu haben, lokale und regionale Potenziale einer ökologisch-sozialen Politik freizusetzen, und die maximale Partizipation vor Ort zu ermöglichen.
Denn auch wir Grüne wissen, die EU kann für Entscheidungen ‚über die Köpfe hinweg’ missbraucht werden. Wer vor lokalen, regionalen und nationalen Widerständen zurückschreckt, versucht ein Thema schon einmal ‚über Brüssel’ zu spielen, also über Bande. Auch Ideologien entziehen sich im EU-Apparat latent dem berechtigten Widerstand der Bürger. Man denke an das neoliberale, marktradikale Paradigma, das auch die Brüsseler Finanzmarktpolitik jahrelang fest im Griff hatte – mit den bekannten Ergebnissen.
Auch wir Grüne müssen uns stets selbstkritisch fragen, welche Debatten wir zu Recht nach Brüssel auslagern. Muss die EU tatsächlich die Dauer des Mutterschutzes festlegen? Müssten unsere EU-Initiativen zum Verbraucherschutz und zur Antidiskriminierung nicht mehr Freiräume für lokale, regionale und nationale Gestaltung lassen? Eine echte Subsidiaritätsdebatte muss ergebnisoffen sein.
Doch was folgt aus Camerons berechtigten Fragen nach den europäischen Entscheidungsebenen und Demokratiedefiziten? Zunächst, das wir die Antwort nicht ewig gestrigen Nationalkonservativen überlassen sollten. Das Heimholen von Kompetenzen aus Brüssel führt nicht unbedingt zu besten Politik, wenn das Ganze ein rein symbolischer Akt ist. Eine Neuordnung muss in der Sache begründet sein, und hier enttäuschen die einfallslosen Grundsatzpapiere der britischen Tories.
Es gäbe bessere Leitbilder der Subsidiarität und Partizipation als das nationale Ressentiment, als die stumpfe Aufrechnerei nach dem Motto ‚Was kostet uns die EU?‘. Großbritannien war immer ein Labor progressiver Ideen: vom radikal selbstverwalteten Betrieb bis zur alternativen Handelskooperative. Nicht der Thatcher-Liberalismus eroberte am Ende die Welt, sondern der Fair Trade-Gedanke, der auf lokale Verantwortung setzt. Als ich Mitte der Neunziger Jahre in England lebte, prägten alternative Modelle des nachhaltigen Wirtschaftens meinen Möglichkeitssinn. Die EU sollte sich hier die emanzipativen Traditionen in Großbritannien genau ansehen.
Wenn Cameron es mit einer Subsidiaritätsdebatte ernst meint, muss er sie auch mit uns allen führen. Er wird Europas Bürger nicht mitreißen können, wenn er nur im nationalen Interesse um Sonderkonditionen in Brüssel schachert. Cameron muss zuallererst den – auch in Deutschland anzutreffenden – Eindruck vermeiden, Brüssel und Straßburg lägen auf einem fremden Planeten, so als käme Europa immer wieder wie ein großes Unglück über uns, so als fiele es vom Himmel. Denn er ist schlichtweg falsch.
Im Europaparlament schließe ich auch immer wieder Bündnisse mit meinen britischen Kollegen. Wenn es darum geht, Verbraucher vor provisionsgetriebenen Fehlberatungen bei Finanzanlagen zu schützen, sind sie mir in ihren Positionen näher als Spanier und Franzosen. Wenn wir als Grüne Banken zu weniger riskanten Geschäften verpflichten wollen, laufen Briten verschiedener Fraktionen vorneweg. Im Idealzustand führt das Zusammenspiel nationaler Denkschulen und Erfahrungen zum in der Sache besten Ergebnis. Der britische Input ist elementar für Europas Checks und Balances, gerade wenn es um berechtigte Kritik an Zentralismus und Dirigismus geht.
So wichtig eine neue Subsidiaritätsdebatte ist, Cameron macht einen entscheidenden Fehler, wenn er auf der anderen Seite den Integrationsprozess prinzipiell in Frage stellt. Europa ist noch lange nicht fertig. Mit seiner notorischen Ablehnung neuer EU-Kompetenzen schließt Cameron sich von vielen wichtigen Debatten aus. Mehr europäische Zusammenarbeit braucht es zum Beispiel, um die Abwärtsspirale bei Löhnen, Steuersätzen und Sozialleistungen zu stoppen, in die der heutige Binnenmarkt latent zu geraten droht. Nicht durch Einheitssteuern oder ein Einheitssozialsystem, sondern – in bester britischer Tradition – durch verbindliche Rechte, die allen EU-Bürgern zustehen. Auch Europas Umstieg auf ein ressourcenschonendes, nachhaltiges Wirtschaftssystem wird nur gelingen, wenn die Staaten ihn gemeinsam angehen – mit all der britischen Expertise für eine Green Economy.
Das Beste, was Cameron nun tun kann, ist die britische Kultur der harten aber konstruktiven Debatte nach Europa zu exportieren. Ein Konvent über die Zukunft der EU bietet den richtigen Rahmen, die Subsidiarität und die demokratische Legitimierung der EU offen zu diskutieren. Hierfür gilt es zu mobilisieren, die Zweifler und Skeptiker zu gewinnen. Nicht für ein unglückliches Weiterschlingern am bloß gefühlten Rande der EU.