Sven Giegold

Aachener Nachrichten: „Festung Europa wird zementiert“: Kritik am EU-Türkei-Plan

Interview mit den Aachener Nachrichten zu den Ergebnissen des EU-Gipfels. Hier finden Sie zum gleichen Thema ein Interview mit dem WDR 5-Morgenecho:

 

Die EU-Staaten haben für Flüchtlinge die Tür nach Europa geschlossen und deren Schlüssel in die Hände der türkischen Regierung gelegt. So kommentiert die renommierte französische Zeitung „Le Monde“ die Ergebnisse des EU-Sondergipfels vom Montag. Sind die dort geschmiedeten Pläne Ausdruck von politischem Pragmatismus oder von Zynismus? Ein Gespräch mit dem grünen Europaabgeordneten Sven Giegold.

Herr Giegold, Kanzlerin Angela Merkel und die Bundesregierung sehen in den Ergebnissen des EU-Gipfels einen wichtigen Schritt hin zu einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems. Sie auch?Giegold: Der Gipfel war ein Schritt hin zu einer europäischen Lösung. Wir brauchen auch eine europäische Lösung. Aber nicht jede europäische Lösung ist automatisch eine gute Lösung. Die jetzt beschlossene Lösung ist eine schlechte Lösung. Sie lautet Abschottung. Die Festung Europa wird zementiert.

Was kritisieren Sie konkret?

Giegold: Der Plan sieht vor, alle Flüchtlinge in die Türkei abzuschieben. Unabhängig davon, ob sie Anspruch auf Asyl oder Schutz haben. Dies widerspricht internationalem Recht. Darauf hat das Flüchtlingshilfswerk der UN deutlich hingewiesen. Die EU-Staaten haben in Brüssel die Konsequenz aus ihrer Unfähigkeit gezogen, eine solidarische europäische Flüchtlingspolitik zu organisieren. Sie versuchen, das Problem jetzt in die Türkei zu verlagern.

Dafür wollen die EU-Staaten den Forderungen aus Ankara weit entgegenkommen. Ist das ein Kniefall vor der Türkei?

Giegold: So kann man es sehen. Wenn die türkische Regierung wenige Tage vor dem Gipfel als Machtdemonstration die wichtigste Oppositionszeitung des Landes stürmt und auf Regierungslinie bringt, dann aber auf dem Gipfel hofiert wird, ist das natürlich sehr bitter. Andererseits muss der Bundeskanzlerin zugute gehalten werden, dass sie sich in der Vergangenheit bemüht hat, eine solidarischeren Lösung in Europa zu erreichen.

Unser Problem ist: Viele EU-Staaten sind menschrechtlich völlig von Sinnen. Sie weigern sich trotz der dramatischen Lage Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei wäre Europa mit seinen mehr als 500 Millionen Einwohnern wirklich nicht überfordert, zwei Millionen Flüchtlingen im letzten Jahr Schutz zu gewähren. Wir brauchen ein menschenrechtliches Korrektiv in der Flüchtlingspolitik.

Kann denn der Türkei-Plan funktionieren?

Giegold: Nein, der Türkei-Plan ist eine Verzweiflungstat. Trotz der Abschottung Europas gegenüber der Türkei werden die Menschen weiter fliehen. Sie werden sich wieder andere Fluchtrouten suchen. Beispielsweise über Italien oder Malta oder Bulgarien. Das wird zu noch mehr Toten führen.

Der Türkei-Plan sieht vor, dass Ankara für jeden in die Türkei zurückgeführten Flüchtling einen anderen nach Europa hinein lässt. Ist das kein fairer Deal?

Giegold: Das ist Augenwischerei. Sobald Griechenland – wie verlangt – wirklich die Menschen in die Türkei abschiebt, werden sich viel weniger Schutzsuchende auf den Weg nach Griechenland machen. Deshalb wird es auch nicht zu einem größeren Austausch von Flüchtlingen kommen. Ich kann in dem Vorhaben keine humane Haltung erkennen. Es ist zwar richtig, dass wir der Türkei oder Jordanien Kontingente von „legalen“ Flüchtlingen abnehmen und damit Schleppern ihr Geschäft erschweren. Aber es ist falsch, diesen Ansatz mit der Rückführung aller „illegalen“ Flüchtlinge zu verbinden. Wir nehmen Schutzbedürftigen ihr Schutzrecht.

Ist denn wenigstens klar, wer diese „legalen“ Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen soll?

Giegold: Nein. Die meisten EU-Staaten sind weiterhin äußerst zurückhaltend bei der Aufnahme solcher Kontingente.

Andererseits Griechenland: Droht das Land jetzt zu einem gigantischen Flüchtlingslager und damit völlig überfordert zu werden?

Giegold: In dieser Situation ist das Land doch längst. Deshalb ist es richtig, dass Griechenland europäische Unterstützung für die Bewältigung des Flüchtlingsproblems erhält. Doch es hat schon etwas zynisches, wenn sich die EU gleichzeitig weigert, durch effektive Hilfen das Land wirtschaftlich wieder auf die Füße zu stellen. Wenn das nicht geschieht, drohen in Griechenland politisch sehr instabile Zeiten. Das kann sich niemand wünschen.

Die Kanzlerin hat im Vorfeld des Sondergipfels den Türkei-Plan quasi im Alleingang mit Ankara abgestimmt. Wie ist das in anderen EU-Staaten angekommen?

Giegold: Sie haben sich zum Teil überrumpelt gefühlt. Das hat sicherlich auch mit zum Scheitern des Sondergipfels geführt.

Sind solche Alleingänge ein Grund dafür, dass Merkel so wenig Unterstützung für eine solidarische Lösung des Flüchtlingsproblems erhalten hat?

Giegold: Der Hauptgrund ist: Die Flüchtlingskrise wird in vielen EU-Staaten nicht als ein europäisches, sondern als ein deutsches Problem empfunden. Das ist natürlich falsch. Gleichzeitig haben sich viele EU-Staaten gemerkt, dass es seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise in der Euro-Zone bis heute kein wirkliches deutsches Angebot für eine gemeinsame Lösung des Problems gibt. Das rächt sich.

Was also tun?

Giegold: Ich behaupte nicht, dass es einfache Wege für die Kanzlerin gibt. Aber bisher hat sie noch nicht alles versucht. Ich schlage deshalb vor, dass die Kanzlerin und Finanzminister Wolfgang Schäuble Frankreich, Italien und den anderen Euro-Partnern einen Vorschlag vorlegen sollten, der sowohl Solidarität beim Euro, als auch Solidarität bei den Flüchtlingen einfordert. Manchmal sind zwei große Krisen leichter zu lösen als nur eine.

Die Kanzlerin bestreitet, dass sich Europa abschottet. Sie verweist darauf, dass die Formulierung, die Balkanroute sei geschlossen, aus der Abschlusserklärung des Gipfels gestrichen wurde. Keine 24 Stunden nach dieser Erklärung schließen Slowenien, Kroatien und Serbien ihre Grenzen für Flüchtlinge. Ist das ein Affront gegen Merkel?

Giegold: In der Abschlusserklärung ist lediglich ein symbolischer Satz gegen einen anderen symbolischen Satz ausgetauscht worden. Beide sagen inhaltlich das gleiche aus: Die Balkanroute ist zu. Diese Tatsache sollte auch die Kanzlerin nicht versuchen schönzureden.

Auch die Grünen fordern, die EU müsse ihre Außengrenzen besser schützen. Wie kann dies human und rechtskonform geschehen?

Giegold: Es ist weder im Interesse der Flüchtlinge noch im Interesse der Stabilität Europas, wenn Hunderttausende Menschen unregistriert über den Kontinent ziehen. Die Schengen-Zone braucht deshalb eine gemeinsame Sicherung der Außengrenzen, eine gemeinsame Grenzpolizei. Natürlich sind Kontrollen der Flüchtlinge vernünftig. Nicht vernünftig und nicht legal ist es aber, allen an der Außengrenze pauschal das Recht auf Schutz zu verweigern.

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