Sven Giegold

Finanzskandal übers Wochenende: Aufsichtsbehörde zockt mit Lebensversicherung vieler Europäer

Die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersvorsorge (EIOPA) veröffentlichte heute erstmalig Diskontierungszinsen für das neue Aufsichtssystem Solvency II. Die Diskontierungszinsen werden ab 2016 von den europäischen Versicherern verwendet werden, um die Höhe der gesetzlich vorgeschriebenen Rückstellungen für ihre Versicherungsverpflichtungen zu berechnen. Davon hängt ab, ob die Versicherer in der Lage sein werden, ihren Versicherten eine angemessene Leistung auszuzahlen. EIOPA ist nach der europäischen Versicherungsrichtlinie Solvency II verpflichtet, risikolose Zinsen als Diskontierungszinsen vorzugeben. Für Versicherungsverpflichtungen in Euro liegt der Diskontierungszins für die 30-jährige Laufzeit bei 1,86% und damit deutlich höher als der risikoarme Zins der EZB von 1,48% (Euro area yield curve für AAA-geratete Staatsanleihen zum 31.12.2014, Laufzeit 30 Jahre). Die Vorgabe überhöhter Diskontierungszinsen hat Folgen: Die Versicherer müssen weniger Geld für zukünftige Versicherungsleistungen zurücklegen, als sie voraussichtlich benötigen werden

Sven Giegold, Grüner Schattenberichterstatter zu Solvency II und finanzpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament erklärt dazu:

Übers Wochenende wird mit der Lebensversicherung vieler Europäer gezockt. Der Europäische Versicherungsaufseher gefährdet die Sicherheit von Lebensversicherungen und verschleiert Finanzprobleme von Versicherungsunternehmen. Damit tritt die Aufsichtsbehörde ihre Verantwortung für den Schutz von Versicherten mit Füßen. Wir haben es hier mit einem handfesten Finanzskandal innerhalb der Europäischen Versicherungsaufsicht zu tun.

Die Aufsichtsbehörde verletzt die Vorgaben der EU-Versicherungsrichtlinie Solvency II, risikolose Zinsen zur Grundlage der Versicherungsaufsicht zu machen. Ein langfristig risikoloser Zins von 4,2% ist realitätsfern. Ursache für die hohen Diskontierungszinsen ist die Annahme, dass die Diskontierungszinsen sich für lange Laufzeiten einer sogenannten Ultimate Forward Rate von 4,2% annähern. Diese Annahme der Aufsichtsbehörde entbehrt angesichts der niedrigen Marktzinsen jeglicher Grundlage. Die niedrigen Zinsen sind eine Folge hoher Privatvermögen und geringer Wachstumsdynamik in allen westlichen Industrieländern. Wenig spricht dafür, dass sich daran etwas ändern würde. Der Aufseher maßt sich ohne faktische Grundlage an, die Entwicklung der Märkte besser zu kennen als die Anleger. Die Aufsichtsbehörde macht sich damit zu einem Superspekulanten, dessen Zeche die Versicherten zahlen, wenn es schief geht.

Der Veröffentlichungstermin an einem Samstagnachmittag ohne Vorankündigung ist abenteuerlich. Damit soll offensichtlich eine Reaktion an den Börsen sowie eine breite Medienberichterstattung verhindert werden.

Es ist ein Skandal, dass die deutsche Bundesregierung diese Manipulation der Zinsen nach oben wohlwollend begleitet hat. Wieder einmal fährt die Finazmarktaufsicht BaFin mit der Versicherungslobby einen Kuschelkurs zum Schaden der Versicherten. Die deutsche Lebensversicherung leidet unter den niedrigen Marktzinsen, da sie in der Vergangenheit hohe langfristige Garantieversprechen gegeben hat und gleichzeitig hohe Kosten für Gewinne, Gehälter und Vertriebsstruktur aufweist. Das Vertrauen in die Versicherungswirtschaft wird dadurch zusätzlich beschädigt.

Die von der EIOPA veröffentlichten Zahlen zeigen auch die bedenklichen Auswirkungen der kontroversen Long term guarantee measures, die 2013 vom Europäischem Rat und Parlament gegen den Widerstand der Grünen in der Versicherungsrichtlinie Solvency II eingeführt worden sind. So können Versicherer auf die Diskontierungszinsen für den Euro zusätzlich ein sogenanntes Volatility adjustment von 0,17% aufschlagen und sich damit noch weiter von der ökonomischen Realität entfernen.

Angesichts dieses Finanzskandals muss die EU-Kommission eingreifen und das Europaparlament unverzüglich seiner Kontrollfunktion nachkommen. Es ist nicht akzeptabel, dass die nationalen Versicherungsaufseher über die Entscheidungsgremien von EIOPA die Schieflage Europäischer Versicherer verschleiern. Auch ist aufzuklären, warum sich viele Mitarbeiter von EIOPA in den Entscheidungsstrukturen des Aufsehers ebensowenig durchsetzen konnten, wie die vielen skeptischen nationalen Aufseher. Es ist zu prüfen, ob sich die Netzwerkstruktur der Europäischen Aufsichtsbehörde als genauso ineffizent erweist, wie bei der Bankenaufsicht der Fall war. Eine Europäische Versicherungsunion ist genauso notwendig wie es die Bankenunion war.

Zum Hintergrund:
EIOPA veröffentlichte heute Nachmittag erstmalig Diskontierungszinsen für Solvency II (risk-free interest rate term structures). Genauer: EIOPA hat die Zinsen für alle relevanten Währungen zum 31.12.2014 und die Methodik ihrer Berechnung veröffentlicht. Ab März wird EIOPA monatlich die Diskontierungszinsen aktualisieren.

Die Methodik zur Bestimmung der Zinsen ist weitgehend durch die Richtlinie Solvency II und die dazugehörigen delegierten Rechtsakte vorgegeben. EIOPA konnte aber noch in einigen Bereichen eigene Entscheidungen treffen, die prominenteste davon ist die sogenannte ultimate forward rate (UFR), die für den Euro auf 4,2% festgelegt worden ist. Die UFR ist ein Zielzins, dem sich die Diskontierungszinsen mit zunehmender Laufzeit annähern. Die UFR beinflusst beim Euro die Zinsen für Laufzeiten ab 20 Jahre. Die Zinsen für den Euro lauten: 0,7% (10 Jahre), 1,3% (20 Jahre), 1,9% (30), 2,3% (40), 2,7% (50) usw bis 3,7% (150). Der Anstieg der Zinsen nach 20 Jahren ist weitgehend auf die UFR zurückzuführen. Die Marktzinsen (z.B. Swap rates) sind ab 30 Jahren flach bei etwa 1,5%. Die EZB-Zinskurve für AAA-geratete Staatsanleihen weist einen 30-jährigen Zins von 1,48% auf.

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