Gestern, 5. Juli, stimmten die Abgeordneten des Europaparlaments mit großer Mehrheit für den Initiativbericht “Empfehlungen an die Kommission zu einem Statut für Sozial- und Solidarunternehmen”. Lediglich die rechten Europagegner stimmten dagegen. Mit der Zustimmung im Plenum liegt ein starker “legislativer Initiativbericht” vor, der die Kommission in die Pflicht nimmt und auffordert tätig zu werden. Die Kommission hat nun ein Jahr Zeit die Vorschläge des Europaparlaments mit Gesetzesvorschlägen umzusetzen oder zu begründen, warum sie das ablehnt.
Dazu sagt Sven Giegold, wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der Grünen/EFA-Fraktion und Co-Präsident der “Social Economy Intergroup” im Europäischen Parlament:
“Wir haben die Nase voll von der Untätigkeit der EU-Kommission bei der Unterstützung der Sozialen und Solidarischen Ökonomie. Seit den großen Fortschritten, die Michel Barnier als Binnenmarkt-Kommissar durchgesetzt hat, kam aus der EU-Kommission nur noch Malefiz-Spielen. Selbst der notorisch lahme Rat der Mitgliedsländer war in den letzten Jahren dank der Luxemburger Ratspräsidentschaft aktiver als die EU-Kommission, wenn es um Solidarunternehmen ging. Daher hat das Europaparlament nun sein schärfstes Schwert gezogen und drängt die EU-Kommission nun mit einem legislativen Initiativbericht zum Handeln.
Ein europäisches Label für Produkte aus Sozial- und Solidarunternehmen wäre ein enormer Schub für neue Unternehmen mit Gemeinwohlorientierung. Dazu brauchen wir eine europäische Definition, was wir unter Sozial- und Solidarunternehmen verstehen. Damit gäbe es die Grundlage um gemeinwohlorientierte Unternehmen systematisch zu fördern, etwa bei der öffentlichen Beschaffung. Der Ball liegt nun bei der Kommission, einen EU-weiten rechtlichen Rahmen zur Stärkung der Sozialen und Solidarischen Ökonomie zu schaffen. Schon heute bilden sozial und solidarisch geführte Unternehmen einen starken Pfeiler unserer Wirtschaft in den Bereichen Digitalisierung, Migration, Umweltschutz, Gesundheit und Sozialfürsorge. Es ist höchste Zeit, dass die Gesetze der EU daraufhin durchpflügt werden, dass sie Sozial- und Solidarunternehmen unterstützen, statt sie zu behindern.”
———
Hintergrund
EMPFEHLUNGEN ZUM INHALT DES VERLANGTEN VORSCHLAGS
Empfehlung 1 (Schaffung des Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft und qualifizierte Unternehmen)
Das Europäische Parlament vertritt die Ansicht, dass der zu verabschiedende Gesetzgebungsakt auf die Schaffung eines „Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft“ ausgerichtet sein sollte, an dem sich auf Sozialwirtschaft und Solidarität beruhende Unternehmen (Sozial- und Solidarunternehmen) ungeachtet ihrer gemäß den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften gewählten Rechtsform auf freiwilliger Basis beteiligen können.
Das Europäische Parlament vertritt die Ansicht, dass das Gütesiegel für die europäische Sozialwirtschaft nur Unternehmen verliehen werden sollte, die sämtliche der folgenden Kriterien erfüllen:
(a) das Unternehmen sollte eine in einer beliebigen in den Mitgliedstaaten und unter EU-Recht zulässigen Rechtsform gegründete privatrechtliche juristische Person und unabhängig von Staat und öffentlicher Hand sein;
(b) sein Geschäftszweck muss in erster Linie auf das Gemeinwohl oder auf Gemeinnützigkeit ausgerichtet sein;
(c) es sollte im Wesentlichen einer gesellschaftlich sinnvollen und auf Solidarität beruhenden Tätigkeit nachgehen, d. h. seine Tätigkeiten sollten darauf ausgerichtet sein, gefährdete Gruppen zu unterstützen, soziale Ausgrenzung, Ungleichheit und Verletzungen der Grundrechte – auch auf internationaler Ebene – zu bekämpfen oder einen Beitrag zum Schutz der Umwelt, der biologischen Vielfalt, des Klimas und der natürlichen Ressourcen zu leisten;
(d) es sollte für die gesamte Dauer seines Bestehens, einschließlich seiner Auflösung, einer zumindest teilweisen Einschränkung in Bezug auf die Verteilung von Gewinnen sowie speziellen Vorschriften für die Verwendung von Gewinnen und Unternehmensvermögen unterliegen; in jedem Fall sollte der Großteil der vom Unternehmen erzielten Gewinne reinvestiert oder anderweitig zur Verwirklichung seiner sozialen Ziele verwendet werden;
(e) es sollte gemäß Modellen einer demokratischen Unternehmensführung geleitet werden, bei der die Beschäftigten und Kunden des Unternehmens sowie die von den Tätigkeiten des Unternehmens betroffenen Interessenträger mit einbezogen werden; das Mitspracherecht und die Gewichtung der Mitglieder bei der Entscheidungsfindung dürfen nicht von ihrem etwaigen Kapitalanteil abhängen.
Das Europäische Parlament vertritt die Ansicht, dass der Verleihung des Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft an konventionelle Unternehmen nichts entgegensteht, sofern sie die vorstehend genannten Anforderungen, insbesondere zu Zielen, Gewinnverteilung, Unternehmensführung und Entscheidungsprozess, erfüllen.
Empfehlung 2 (Mechanismus für die Zertifizierung, Aufsicht und Überwachung des Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft)
Der Gesetzgebungsakt sollte einen Mechanismus für die Zertifizierung sowie Aufsicht und Kontrolle des gesetzlichen Siegels unter Einbeziehung der Mitgliedstaaten und von Vertretern der Sozialwirtschaft schaffen; ein solcher Mechanismus ist unabdingbar, um das gesetzliche Siegel als auf Sozialwirtschaft und Solidarität beruhendes Unternehmen zu schützen und die damit einhergehenden Werte zu wahren. Das Europäische Parlament vertritt die Ansicht, dass diese Kontrolle unter Einbeziehung repräsentativer Organisationen der Sozialwirtschaft stattfinden sollte.
Strafmaßnahmen für Verstöße gegen die einschlägigen Vorschriften könnten von einfachen Ermahnungen bis zum Entzug des Siegels reichen.
Empfehlung 3 (Anerkennung des Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft)
Das Gütesiegel für die europäische Sozialwirtschaft sollte in allen Mitgliedstaaten gelten. Ein mit diesem Siegel ausgezeichnetes Unternehmen sollte in allen Mitgliedstaaten als Sozial- und Solidarunternehmen anerkannt werden. Jedem Unternehmen, dass das Siegel trägt, sollte es gestattet sein, seine Haupttätigkeit in anderen Mitgliedstaaten unter den gleichen Anforderungen wie dort ansässige Unternehmen, die dieses Siegel tragen, auszuüben. Es sollte in den Genuss der gleichen Vorteile und Rechte kommen und den gleichen Pflichten unterliegen wie die Sozial- und Solidarunternehmen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem es tätig ist, eingetragen sind.
Empfehlung 4 (Berichterstattungspflichten)
Mit dem Gesetzgebungsakt sollten Sozial- und Solidarunternehmen, die das Siegel beibehalten wollen, zur jährlichen Erstellung eines Sozialberichts über ihre Aktivitäten, Ergebnisse, Einbeziehung der Interessenträger, Gewinnverwendung, Gehälter, Zuschüsse und andere erhaltene Leistungen verpflichtet werden. Diesbezüglich sollte die Kommission zur Erstellung eines Modellberichts ermächtigt werden, um die Sozial- und Solidarunternehmen bei diesem Unterfangen zu unterstützen.
Empfehlung 5 (Leitlinien zu bewährten Verfahren)
Durch den Gesetzgebungsakt sollte die Kommission außerdem zur Aufstellung von Leitlinien zu bewährten Verfahren für Sozial- und Solidarunternehmen in Europa ermächtigt werden. Solche bewährten Verfahren sollten insbesondere Folgendes umfassen:
(a) Modelle wirkungsvoller demokratischer Unternehmensführung,
(b) Konsultationsprozesse für die Erstellung einer wirkungsvollen Unternehmensstrategie,
(c) Anpassung an soziale Bedürfnisse und an den Arbeitsmarkt, insbesondere auf lokaler Ebene,
(d) Lohnpolitik, Berufsbildung, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz und Beschäftigungsqualität,
(e) Beziehungen zu Nutzern und Kunden sowie Erfüllung sozialer Bedürfnisse, denen seitens des Marktes oder des Staates nicht Rechnung getragen wird,
(f) die Situation der Unternehmen hinsichtlich Vielfalt, Diskriminierungsfreiheit und Gleichstellung von Frauen und Männern unter ihren Mitgliedern, auch in Bezug auf Verantwortungspositionen und Führungsstrukturen;
Empfehlung 6 (Aufstellung von Rechtsformen)
Der Gesetzgebungsakt sollte eine Aufstellung der in den Mitgliedstaaten bestehenden Rechtsformen für Unternehmen und Gesellschaften beinhalten, die zum Erhalt des Gütesiegels für die europäische Sozialwirtschaft berechtigt sind. Eine solche Aufstellung sollte jährlich überprüft werden.
Zur Sicherstellung der Transparenz und einer effizienten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sollte diese Aufstellung auf der Website der Kommission veröffentlicht werden.
Empfehlung 7 (Prüfung bestehender Rechtsvorschriften)
Die Kommission wird aufgefordert, die bestehenden Rechtsakte zu prüfen und gegebenenfalls Gesetzgebungsvorschläge vorzulegen, die einen kohärenteren und vollständigen Rechtsrahmen zur Förderung von Sozialunternehmen schaffen.
Empfehlung 8 (Ökosystem für Sozialunternehmen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten)
Die Kommission muss sicherzustellen, dass in ihrer Politik der Verpflichtung zur Schaffung eines Ökosystems für Sozialunternehmen Rechnung getragen wird. Die Kommission wird aufgefordert, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Sozial- und Solidarunternehmen auf lokaler und regionaler Ebene einen starken Einfluss haben, was ihnen den Vorteil verschafft, spezielle Bedürfnisse besser erkennen und entsprechende Produkte und Dienstleistungen insbesondere auf kommunaler Ebene anbieten zu können und damit den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu stärken. Die Kommission wird aufgefordert, Maßnahmen zur Stärkung der Zusammenarbeit von Sozial- und Solidarunternehmen über nationale und sektorale Grenzen hinweg einzuleiten, um den Austausch von Wissen und Verfahren zu fördern, sodass die Entwicklung solcher Unternehmen unterstützt werden kann.
Den kompletten Bericht auf deutsch gibt es hier:
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+REPORT+A8-2018-0231+0+DOC+PDF+V0//DE
Legislative train schedule:
http://www.europarl.europa.eu/legislative-train/theme-deeper-and-fairer-internal-market-with-a-strengthened-industrial-base-services-including-transport/file-statute-for-social-and-solidarity-based-enterprises/03-2017
Hintergrund:
Die Interfraktionelle Arbeitsgruppe Sozialwirtschaft des Europäischen Parlaments wird von mehr als 80 Abgeordneten aus 6 Fraktionen unterstützt. Sie soll sicherstellen, dass das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union die Sozialwirtschaft und ihre Akteure bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Politik berücksichtigen. Darüber hinaus sollen der Meinungsaustausch über EU-Politiken und -Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit Fragen der Sozialwirtschaft gefördert und regelmäßige Gelegenheiten zum Dialog zwischen Abgeordneten, Vertretern der Sozialwirtschaft und Experten, Vertretern der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten sowie anderen relevanten Akteuren geschaffen werden.