Sven Giegold

Mein Gastbeitrag im Handelsblatt: Plädoyer für eine höhere Mindeststeuer

Mein Gastbeitrag im Handelsblatt vom 7. September 2021

Plädoyer für eine höhere Mindeststeuer

Die geplante Unternehmensbelastung von 15 Prozent reicht für einen fairen internationalen Wettbewerb nicht aus, kritisiert Sven Giegold.

Seit gut 20 Jahren engagiere ich mich – erst in der Zivilgesellschaft und nun im Europaparlament – für europäische und globale Maßnahmen gegen Steuervermeidung, Steuerflucht und Geldwäsche. Zeit für eine Zwischenbilanz. Seit Staaten in den 1920er-Jahren erstmals über internationales Steuerdumping und Steuerflucht verhandelten, hat sich lange Zeit kaum etwas bewegt.

Denn an einem Grundprinzip wird bis heute auch in der Europäischen Union nicht gerüttelt: Steuerentscheidungen fallen einstimmig, und zu allem Überfluss darf das Europaparlament nicht einmal mitentscheiden. Erst als es der Obama-Administration in den USA ab 2009 zu bunt wurde, gelang im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein erster Durchbruch.

Danach konnte auch die EU große Fortschritte im Kampf gegen die Steuerflucht von Privatpersonen vorweisen: Finanzkonten bei Banken, Versicherungen und anderen Finanzunternehmen wurden grenzüberschreitend für die Steuerverwaltung transparent. Der automatische Informationsaustausch erschwerte den Volkssport, Steuern über Konten, Stiftungen oder Briefkastenfirmen zu hinterziehen. Mehr als 100.000 Bürgerinnen und Bürger machten alleine in Deutschland nach dem Ankauf von Steuer-CDs reinen Tisch und zahlten Steuern nach.

Doch drei zentrale Probleme blieben bis heute ungelöst: erstens das Dumping bei der Besteuerung von transnationalen Unternehmen. Zweitens nutzen sehr reiche Personen nach wie vor komplexe rechtliche Firmenkonstruktionen, um Steuern zu vermeiden oder kriminelle Einkünfte zu verschleiern. Drittens das Verstecken von Auslandsvermögen in Nicht-Finanzanlagen.

Der Steuerdeal der OECD und der G20-Staaten soll nun das Problem des Steuerdumpings angehen. Vor allem zwei Dinge sind neu: Zum einen soll zum ersten Mal ein Mindeststeuersatz dem Dumping eine Grenze nach unten setzen. Das gab es transnational noch nie. Bisher galt bei Einkommensteuern innerhalb wie außerhalb Europas ein ehernes Gesetz: Steuersätze beschließen allein die Nationalstaaten.

Nun soll es einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent geben. Wenn Staaten also weniger als 15 Prozent effektiv auf die Gewinne von Tochterfirmen eines transnationalen Unternehmens erheben, kann der Staat bei der Konzernmutter die Steuern nacherheben. So entsteht ein starker Anreiz für alle Staaten, zumindest diesen Mindeststeuersatz zu erheben.

Dem Unternehmen kann eher gleich sein, wo es seine Steuern bezahlt, ob am Sitz der Tochtergesellschaft oder der Konzernmutter. Genau betrachtet handelt es sich allerdings nicht um einen Mindeststeuersatz, weil kein Land verpflichtet wird, einen bestimmten Steuersatz zu erheben. Vielmehr hat die G20 eine „Mindesthinzurechnungsbesteuerung“ beschlossen. Streng genommen sind solche Nachversteuerungen heute schon möglich, aber nun geschieht das international koordiniert.

Damit wird die Verhandlungsposition von Entwicklungsländern erheblich gestärkt, selbst Steuern auf die Gewinne von Großunternehmen in ihrem Land zu erheben. Leider gibt es jedoch mehrere Haken: Erstens sind 15 Prozent effektiv wenig. Zweitens gilt der Mindeststeuersatz nur für einige Tausend Konzerne. Drittens wird die Unternehmensbesteuerung noch komplizierter.

Angesichts extrem niedriger effektiver Steuersätze auf bestimmte Unternehmensgewinne wie etwa Lizenz- und Patenteinkommen wirken 15 Prozent auf den ersten Blick wie ein großer Fortschritt. Tatsächlich liegen zwölf EU-Staaten klar unter dieser Schwelle. Doch gleichzeitig sind 15 Prozent deutlich weniger als beispielsweise die Gewinnsteuern für Unternehmen in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Das gilt auch für viele Entwicklungs- und Schwellenländer.

Damit entsteht die Gefahr, dass der Druck zum Steuerdumping nicht aufhört – denn nun könnten sich alle Länder genötigt sehen, ihre Besteuerung auf 15 Prozent zu senken. Aus einem Mindeststeuersatz würde faktisch ein Maximalsteuersatz. Deshalb kommt es nun darauf an, den Mindeststeuersatz möglichst hoch anzusetzen. Die USA haben angekündigt, 21 Prozent zum Maßstab zu machen. Daran sollten sich auch die EU-Länder orientieren. Leider hat bislang auch Finanzminister Olaf Scholz kein Signal gegen einen drohenden transatlantischen Steuerwettbewerb gesetzt.

21 Prozent effektive Besteuerung wären wohl auch hoch genug, um den Forderungen nach pauschalen Unternehmensteuersenkungen in Deutschland entgegenzuwirken, die sich die öffentlichen Kassen derzeit ohnehin nicht leisten können. Auch aus wirtschaftspolitischer Sicht sollten wir Investitionen von Unternehmen steuerlich besserstellen, statt alle Gewinne zu begünstigen.

Die zweite Großbaustelle der internationalen Steuerkooperation liegt in der Verschleierung der wirklichen Besitzverhältnisse durch komplexe Firmenkonstruktionen. Eigentümer und Eigentümerinnen hoher Geldsummen aus kriminellen Quellen nutzen sie ebenso wie aggressive Steuerflüchtlinge. Firmen werden so komplex strukturiert, dass der automatische Informationsaustausch für Finanzkonten ins Leere läuft.

Das gelingt schon, wenn eine Firma keinen Miteigentümer hat, der mehr als 25 Prozent der Anteile hält. Außerdem können Steuerflüchtlinge sich durch diverse Tricks dem automatischen Informationsaustausch entziehen, so durch den Erwerb einer zweiten Staatsbürgerschaft, von der das Heimatfinanzamt nichts weiß.

Vielen vermögenden Privatpersonen reichen allerdings schon die Steuervorteile, die ganz normale Unternehmen genießen. Solange sie Gewinne in den Unternehmen thesaurieren und über Investitionen Abschreibungen generieren, bleiben die effektiv gezahlten Steuern auf Gewinne regelmäßig niedriger als die Steuern, die ihre Angestellten zahlen.

Schließlich nutzen auch mittelgroße Unternehmen Steuerdumping-Angebote von Steueroasen. Deshalb brauchen wir in Europa meines Erachtens einen verbindlichen Mindeststeuersatz von 25 Prozent für alle Unternehmen. Nur wenn der Mindeststeuersatz hoch genug ist, wird die progressive Einkommensbesteuerung nicht weiter durch „steuerbegünstigtes Unternehmenssparen“ unter Druck gesetzt.

Drittens reicht der automatische Informationsaustausch bei Finanzkonten nicht aus, um der Steuerflucht wirksame Grenzen zu setzen. Schon seit Jahren nutzen Finanzkriminelle andere Vermögensklassen, um den internationalen Austausch von Steuerdaten zu umgehen: Daten zu Auslandsimmobilien, Kunstgegenstände gelagert in „Free Ports“, Crypto Assets oder auch Anteile an Unternehmen im Ausland werden nicht ausgetauscht. Deshalb muss der internationale Informationsaustausch auf alle Vermögensklassen ausgeweitet werden.

Die US-Regierung unter Joe Biden bietet die große Chance, an allen Baustellen Fortschritte zu erzielen. Denn in den USA wie in Europa beruht das Vertrauen in die Marktwirtschaft und einen funktionierenden Rechtsstaat auch darauf, dass alle gleichermaßen ihren gerechten Beitrag leisten. Gleiche Bedingungen für alle ist ein Kernversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. In der finanziellen Globalisierung ist davon ein gutes Stück abhandengekommen. Jetzt haben wir die Chance, wieder für fairen Wettbewerb zu sorgen.

 


Hinweis: Dieser Blogbeitrag wurde innerhalb der letzten 2 Monaten vor der Bundestagswahl 2021 veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurde die Homepage und die zugrunde liegende IT-Infrastruktur aus Wahlkampfmitteln und nicht aus dem Parlamentsbudget finanziert.

Rubrik: Europaparlament, Wirtschaft & Währung

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