Auf dem letzten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg habe ich eine – laienhafte – Bibelarbeit zum Gleichnis von der bittenden Witwe gehalten. Die Vorbereitung hat mir viel viel Freude gemacht. Lest selbst, was dabei herausgekommen ist:
Gleichnis von der bittenden Witwe
Eine Witwe fordert Gerechtigkeit
Bibelarbeit zu Lukas 18, 1-8
Guten Morgen, liebe Schwestern, liebe Brüder,
Zunächst der Text, der sich nur bei Lukas im 18. Kapitel findet:
„1 Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis davon, dass sie immer wieder zu Gott schreien sollen anstatt aufzugeben:
2 „Da war ein Richter in einer Stadt, der hatte keine Ehrfurcht vor Gott und keinen Respekt vor den Menschen.
3 Eine Witwe lebte in dieser Stadt, die kam immer wieder zu ihm und verlangte: „Gib mir mein Recht gegen den, der mit mein Recht nimmt.
4 Lange wollte er nicht. Dann aber sagte er sich: Wenn ich auch keine Ehrfurcht vor Gott habe und keinen Respekt vor den Menschen,
5 will ich doch der Witwe ihr Recht geben, weil sie mir lästig wird. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.“
6 Der Kyrios, der Befreier, sagte: Hört was der ungerechte Richter sagt!
7 Gott aber, wird sie nicht denen, die ihr am Herzen liegen, die Tag und Nacht nach ihr schreien, Recht verschaffen und sich ihnen liebevoll zuwenden?
8 Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht verschaffen ohne zu zögern. Aber wird der Mensch, der gekommen ist, Gottvertrauen auf der Erde finden?“
Ist das nicht ein großartiger Text? Worum geht es?
Der Text gliedert sich in drei Teile: Das eigentliche Gleichnis (Vers 2-5) und die Einrahmung vorweg (Vers 1) und am Ende (Vers 6-8).
Das Thema der Gleichnisgeschichte ist das Schreien zu Gott und das Lästigsein der scheinbar Ohnmächtigen.
Zunächst geht es um einen der Unrecht tut – den Richter.
Der Richter ist so unfähig, so negativ – wie es nur geht: Weder zu Gottesfurcht noch zu Nächstenliebe ist er fähig.
Luthers Übersetzung „scheute sich vor keinem Menschen“ ist heute missverständlich: Gemeint ist nicht, dass er mutig und unabhängig sein Amt ausübt, sondern dass er den Menschen gegenüber ohne Rücksicht auftritt.
Kurz vorher im Gleichnis des Barmherzigen Samariters in Lk 10 25-28 werden genau diese beiden Eigenschaften zum Weg der Gottgefälligkeit.
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«
28 Er aber sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“
Die ihm schon im zweiten Vers zugeschriebenen Eigenschaften werden ihm – wie typisch bei Lukas – noch einmal als „innere Stimme“ in Vers 5 in die eigenen Gedanken gelegt. Er ist sich also seiner fehlenden Gottgefälligkeit völlig bewusst.
In der jüdischen Tradition gehörte Gottesfurcht zum Amtsverständnis des Richters, so dass der Richter auch noch als unfähig wirken musste. Er steht damit für verratene oder verloschene Ideale, für die ungerechte Ausübung und den Missbrauch von Macht. Der Richter wird auf mehreren Ebenen und unzweideutig negativ dargestellt: obwohl er von Berufs wegen für Gerechtigkeit einzutreten hat, ignoriert er Gott und die Menschen. Ihm geht es nur um Nützlichkeitserwägungen und er erinnert mich damit an die Mehrheitsmeinung in der Volkswirtschaftslehre. Kurzum: Der Text lässt an dem Richter kein gutes Haar.
Ihm tritt eine Witwe gegenüber. Sie fordert vom Richter, dass er seine Arbeit mache, dass er gegenüber ihrem Prozessgegner ihr Recht durchsetze. Das ist, was Luther in der damaligen deutschen Sprache neutral mit „Widersacher“ meint. Über diesen Gegner erfährt man nichts. Der griechische Begriff für Richter verweist jedoch auf einen Zivilrichter, ebenso die Tatsache dass es sich um einen Einzelrichter und nicht eine Gruppe von Richtern handelt. Mit „Prozessgegner“ ist also eine Person gemeint, die der Witwe Unrecht getan hat.
Der Begriff „Witwe“ stand in der damaligen Welt für eine Frau ohne Mann im weiteren Sinne. Auch eine asketisch lebende Jungfrau kann mit dem Begriff „chera“ gemeint sein, wenn auch die Hauptbedeutung der Witwe im Deutschen entspricht. Frauen hatten zwar Rechte, konnten sie aber in der patriarchalen Gesellschaft normalerweise nicht selbst vertreten. Erst die Abwesenheit von engen männlichen Verwandten, wie Vater oder erwachsenen Söhnen, machen den hier erzählten Ablauf plausibel: Die Witwe muss ihr Recht selbst einfordern.
Sie ist damit zunächst wehrlos und besonders schutzbedürftig. Viele Bibelstellen drehen sich um die sprichwörtlichen Witwen und Waisen, Armen und Fremden – als die regelmäßig Entrechteten und Solidaritätsbedürftigen dieser Zeit. So etwa Vers 6 in Psalm 68,6: „Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung, ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt.“. Immer wieder findet sich das Verbot, sie zu unterdrücken. So zu verstehen, ist auch das Gebot, die Eltern zu ehren, wenn etwa die Mutter zu einem erwachsenen Sohn zurückkehrt.
Die Witwe steht somit symbolhaft für eine schutzbedürftige, durch Unrecht gefährdete Person dieser Zeit, die dem vermeintlich mächtigen Richter gegenüber tritt. Gleichzeitig gibt ihr diese schutzbedürftige Situation unter günstigen Umständen auch einen besonderen Grad an weiblicher Eigenständigkeit und Eigenverantwortung in einer Männergesellschaft.
Über das konkrete Anliegen der Witwe erfährt man nichts. Annette Merz, Theologieprofessorin an der Universität Utrecht, stellt sich eine Standardsituation aus dieser Zeit so vor:
Witwen hatten oft Kinder, für die nun die Familie des verstorbenen Vaters sorgen musste. Diese Familien verweigerten dies jedoch regelmäßig. Besonders den Kindern drohte in dieser Lage Not und Hunger. Diese Not wurde regelmäßig in Kauf genommen. Ein Sorgerechtskonflikt also, ohne einen Sozialstaat samt Jugendamt mit Unterhaltsvorschusszahlungen. Die Witwe könnte also versucht haben, materielle, zivilrechtliche Ansprüche gegen die Familie des verstorbenen Vaters durchzusetzen.
Untypisch war diese Situation damals nicht, wohl aber das Verhalten der Witwe. Sie erniedrigt sich nicht. Sie fordert nicht Mitleid, sondern Recht. Sie bettelt nicht, sondern drängt.
Der Richter will ihrem Drängen zunächst nicht nachgeben. Was ihn jedoch letztlich bewegt, in diesem Fall der Witwe Recht zu verschaffen, ist schlicht, dass sie ihm lästig wird und schlimmer noch, dass sie ihn am Ende noch öffentlich demütigt.
Die Witwe kommt nicht nur einmal, sondern mehrfach. Sie lässt nicht locker. Sie nervt, ist lästig. Sie muss immer wieder kommen, ist also der Willkür des Richters ausgesetzt, der sich offensichtlich aussuchen kann, ob er Recht schafft oder nicht. Die Witwe erinnert mich an Lobbyisten für Menschenrechte, Armutsbekämpfung oder Klimaschutz heute, die oft erfolgreich sind. Von vielen Kolleginnen und Kollegen im Parlament weiß ich, dass sie ihnen gewaltig auf die Nerven gehen.
Einen Weg der Berufung scheint es für die Witwe nicht zu geben. Sie hält sich aber nicht an das Verfahren. Sie weiß, dass es in Unrechtssystemen kein Recht durch Verfahren gibt, wie es dem Rechtsstaat eigen ist.
Der Richter sieht sich im Gleichnis keiner gewaltfreien Aktivistin gegenüber. Denn das „ins Gesicht schlage“ ist eindeutig gewalttätig. Luther übersetzt in alten Versionen mit „dass sie mich betäube“.
Es handelt sich um eine starke Geschichte des antiken Frauenwiderstands. Eine starke Frau steht im Mittelpunkt dieser, in heutiger Sprache feministischen, Geschichte in der Bibel. Die scheinbar schwache Witwe wird auch für den im Vergleich mächtigen Richter zum Problem. Er sieht sich bedroht, öffentlich lächerlich gemacht zu werden. Denn gegen den Einsatz von Gewalt durch eine Frau hätte er sich nicht wehren dürfen. Der Ton der inneren Stimme des Richters („Wenn ich auch keine Ehrfurcht vor Gott habe und keinen Respekt vor den Menschen, will ich doch der Witwe ihr Recht geben, weil sie mir lästig wird. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.“ Vers 4b.5, Kirchentagsübersetzung) bleibt allerdings kühl, verächtlich, berechnend. Der Richter handelt nicht aus Einsicht, wendet sich nicht zum Guten. Er hat nur Angst vor Entehrung, Rufverlust, Bloßstellung und Ansehensverlust.
Die Lehre aus der Geschichte des eigentlichen Gleichnisses ist klar:
Auch die scheinbar Schwächsten können durch Hartnäckigkeit gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen Mächtige ihr Recht bekommen und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen. Selbst bei einem ungerechten Richter ist das möglich. Man könnte sagen: Man muss nicht auf gerechte Strukturen und Verhältnisse warten, um etwas zu erreichen. Hartnäckigkeit kann Erfolg haben! Auch in ungerechten Verhältnissen kann man auf Erfolg hoffen. Es lohnt sich wider aller Wahrscheinlichkeit weiter zu handeln.
Diese Erfahrung habe ich auch selbst gemacht. Über zehn Jahre wurden Forderungen wie eine Besteuerung von Finanztransaktionen oder die Schließung von Steueroasen immer wieder abgewiesen und verlacht. 15 Jahre nach der Gründung von Attac stehen beide Forderungen vor dem Durchbruch. Viele von euch haben sich dafür eingesetzt. Letztlich hat die Hartnäckigkeit sich im Moment des Kairos der Finanzkrise ausgezahlt! Politik – ob in Bewegungen oder in Parlamenten und Regierungen – ist das Webersche Bohren dicker Bretter. Andere soziale Bewegungen haben die gleiche Erfahrung gemacht: die Frauenbewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Freiheitsbewegungen in Osteuropa, die Anti-Apartheidsbewegung und viele mehr.
Bloßstellen ist auch heute noch eine Waffe der Schwachen und Entrechteten. Die Angst vor Ansehensverlust und öffentlicher Beschämung bringt heute manchen Konzern zum Einlenken und manchen Steuerflüchtling zur Selbstanzeige.
Selbst wenn sich die Witwe nicht auf den Glauben beruft: Das Gleichnis gibt auch einen Fingerzeig, wie Kirche als Gemeinschaft der Christinnen und Christen sein sollte: freundlich zu denen, die guten Willens sind, lästig, hartnäckig, Recht einfordernd gegenüber denen, die sich verweigern.
Die Moral ist klar: Engagement, Handeln, hartnäckig sein für Gerechtigkeit, lohnt sich. Glaubende sollten eine widerständige Haltung gegen Unrecht zeigen.
Soweit zum eigentlichen Gleichnis. Doch spannend wird die Bibel hier durch die Einrahmung der Geschichte.
Die Moral stellt Lukas dem eigentlichen Gleichnis in gänzlich unmoderner Weise gleich voran. „Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis davon, dass sie immer wieder zu Gott schreien sollen anstatt aufzugeben.“ Die Kirchentagsübersetzerin Claudia Janssen betont hier, anders als Luther, die Intensität des sich an Gott Wendens, der neutraler übersetzt, „dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten“. Janssen unterstreicht damit die damals emotionalere, lautere Gebetskultur. Viele der Gebete im Alten Testament sind ungleich emotionaler, krasser, schreiender als unsere heutzutage doch oft stillere, ruhigere Gebetskultur. Sprichwörtlich ist bis heute das Unrecht, das zum Himmel schreit. Treffend und schön ist auch die englische Übersetzung für das „nicht aufgeben“: „not to lose heart“. Darin steckt das emotional tief dranbleiben, sich verbeißen ohne die negative Konnotation, die Hoffnung nicht aufgeben.
In Vers 7 und 8 lautet die Kirchentagsübersetzung: „Gott aber, wird sie nicht denen, die ihr am Herzen liegen, die Tag und Nacht nach ihr schreien, Recht verschaffen und sich ihnen liebevoll zuwenden? Ich sage euch: Gott wird ihnen Recht verschaffen ohne zu zögern.“
Jesus will sagen: Selbst der ungerechte Richter schafft Recht, was wird nicht erst der (gute) Gott mit den Betenden tun? Freilich darf man nun nicht den Richter mit seiner Macht mit Gott gleichsetzen. Das gibt die Substanz der Geschichte nicht her. Der Richter schafft nur widerwillig Recht, handelt im Gegensatz zu Gott in schlechter Absicht. Damit macht Jesus klar: Der Richter steht nicht für Gott.
Janssen übersetzt hier auf Gott bezogene Präpositionen, wie in der Bibel in gerechter Sprache, mit dem Weiblichen „sie“ und „ihr“. Das entspricht zwar nicht dem griechischen Originaltext, der Gott für genauso männlich hält wie die Zeit der Bibel patriarchal war. Die Übersetzung lässt uns sprachlich stolpern und öffnet so unser Denken für eine Gottesvorstellung, die jenseits von männlich und weiblich liegt.
Die Zusage, Gott schaffe Recht „ohne zu zögern“ oder „in Kürze“ (Luther), erscheint den Leserinnen und Lesern angesichts des verbreiteten Unrechts und langanhaltenden Leidens bei Betenden wie Nicht-Betenden unglaubwürdig und das muss auch den historischen Leserinnen und Lesern schon so gegangen sein. Direkt angesprochen wird damit auch das Thema der Parusieverzögerung – der Verzögerung der baldigen Erwartung des Reiches Gottes. Manche darauf vorgebrachte Erklärungen erscheinen nach 2000 Jahren ebenso wenig überzeugend. So etwa, dass es sich um eine Prüfung handle und die Zeit des Betens noch nicht lang genug war (2Petr 3,8-9).
Wie kann man also Gottvertrauen auf dieser Erde finden? Wie kann man trotz der Anfechtung durch das verbreitete Unrecht glauben? Letztlich folgen daraus Fragen, die wohl nicht vollständig auflösbar sind. Die Antwort, die mir persönlich damit vorläufig Frieden gegeben hat, ist:
Der christliche Schöpfergott ist deshalb so großartig, weil er uns wirkliche Freiheit gegeben hat. Er ist kein paternalistischer Gott, kein Gott traditionell deutschen Obrigkeitsdenkens, kein Führergott, der alles regelt, wenn man ihn nur bittet.
Ein Gott, der alle Probleme löst und kein Unrecht zulässt, stünde im Widerspruch zur Schöpfung der Freiheit. Wer sich aus der Begründung von Gott abwendet, es gäbe so viel Unrecht auf der Welt, als dass er oder sie an den guten Schöpfergott glauben könne, offenbart letztlich den Wunsch nach einer Welt ohne wirkliche Freiheit, zugespitzt eine Sehnsucht nach einer autoritär guten, aber unfreien Welt. Die Schöpfung der Freiheit bedeutet, dass wir das Böse in Freiheit selbst überwinden müssen.
Mehr noch: Die Vorstellung eines Gottes, der alles zur Zufriedenheit der Bittenden löst, eines immer verfügbaren und liefernden Gottes, stellt schließlich die Freiheit Gottes selbst in Frage. Schöpfung in Freiheit ist jedoch nur sinnvoll, wenn man auch Gott seine Freiheit zugesteht.
Das „befreie uns von dem Bösen“ im Gebet Jesu ist zu verstehen als eigenes Tun, als Befreiung mit ihrer Hilfe. Gott gibt dabei Kraft, ist damit als Kraft immer da, direkt. So ergibt die Zusage des „in Kürze“, „des ohne zu zögern“ aus der Gleichnisauslegung Sinn. Das Gebet, das Schreien zu Gott, ist der Weg, mit dieser Zusage in Kontakt zu kommen. Beten kann die eigenen Kräfte mobilisieren, fokussieren, gerade auch zum Handeln. Gott hilft, nicht ohnmächtig zu werden. Beten kann den Kontakt zu der von Gott bedingungslos bereitgestellten universellen Kraft des Guten stärken. Beten kann helfen, hartnäckig zu bleiben und die Hoffnung nicht aufzugeben. Hier treffen sich die Moral der eigentlichen Gleichnisgeschichte und ihres Rahmens.
Im weiteren Sinne rührt das Gleichnis an Gefühle von Verzweiflung, Trauer und wenn ich ehrlich bin, auch zuweilen Wut, darüber dass so viele die Verhältnisse nehmen, wie sie sind. Ich kann nachvollziehen, dass sich angesichts des überwältigenden Unrechts und des Ausmaßes an Zerstörung der Schöpfung Ohnmachtsgefühle Raum verschaffen können. Nicht nachvollziehen kann ich jedoch, den Schöpfergott der Freiheit für Unrecht und Zerstörung verantwortlich zu machen oder deshalb seine Existenz zu verleugnen.
Freilich gibt es heute keine einfache Gleichsetzung zwischen der Witwe und dem Einsatz für Gerechtigkeit: Oft ist unklar, wer oder was gut oder böse ist. Diejenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, sind anders als die Witwe selbst in das Schaffen von Unrecht verstrickt. Im Gleichnis sind Gut und Böse eindeutig. Unüberschaubarkeit und Komplexität gibt es nicht.
Schließlich nimmt das Gleichnis in Vers 8 eine letzte Wendung: „Aber wird der Mensch, der gekommen ist, Gottvertrauen auf der Erde finden?“. Fast prophetisch fragt Jesus, wenn schon an der Zusage der direkten und bedingungslosen Präsenz Gottes kein Zweifel besteht, so doch, ob der Glaube auf der Erde Bestand haben wird. Die Frage bleibt unbeantwortet. Es wird kein weiterer direkter Bezug darauf genommen, so dass besonders viele verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offen stehen.
Die Frage am Schluss ist in Europa aktuell. Während die Zahl der Christinnen und Christen weltweit steigt, ist die Situation in Europa bestenfalls durchwachsen. Zwar gibt es keine allgemeine Säkularisierung, aber eine religiöse Individualisierung, bei der in vielen Teilen Europas immer mehr Menschen ihre eigene Religion basteln.
Schließlich erinnert uns das Gleichnis daran, wie das Motto des Kirchentags nicht zu verstehen ist. Das Manna ist keine Schlaraffenlandutopie, bei der gebratene Tauben in den Mund der Israeliten fliegen. Erst nach schwerer Reise und durch Sammeln und Bücken kommen sie zur Speise. Es geht mit dem „soviel du brauchst“ auch nicht um falsche Mäßigung. In der Geschichte steckt beides: Die Mahnung der Sinnlosigkeitn nicht mehr zu nehmen, als du brauchst. Sowie die Zusage, dass genug da ist. Für Alle.
Allerdings müssen wir uns um die Einhaltung dieser Zusage auch heute kümmern, indem wir hartnäckig sind – und wenn nötig – lästig fallen.
Sven Giegold