Sven Giegold

Grüner Beschluss: Rechtsstaat und Demokratie verteidigen

An diesem Montag traf sich der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam mit uns Spitzenkandidat*innen Ska Keller und mir zur Jahresauftaktklausur in Frankfurt/Oder. Dabei beschlossen wir einen Text, wie wir Rechtsstaat und Demokratie europaweit verteidigen und voranbringen wollen.

Darin entwickeln wir im Anschluss an das deutsche und europäische Wahlprogramm der Grünen acht konkrete Forderungen:

  • Unabhängige Prüfung von Demokratie und Menschenrechten in allen EU-Mitgliedstaaten
  • Unterstützung von Zivilgesellschaften und unabhängigem Journalismus in der EU
  • Fördermittel an die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundwerte binden
  • Europäische Grundrechtecharta verbindlicher machen
  • Europäische Staatsanwaltschaft ausbauen
  • Whistleblower*innen schützen
  • Lobby-Einfluss kontrollieren
  • Illegitime Einflussnahme verhindern

 

Angesichts des Drucks auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in vielen Mitgliedsländern ist der Text eine spannende Lektüre.

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Für ein Europa des Rechts

Wir verteidigen die Werte und Errungenschaften des vereinigten Europas. Dafür braucht es eine starke Gemeinschaft. Auf seiner Neujahrsklausur in Frankfurt an der Oder hat der grüne Bundesvorstand in einem Beschluss erklärt, wie er für ein Europa kämpft, das Rechtsstaat, Freiheit und Fortschritt bedeutet.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beginnen das politische Jahr 2019 mit einer Klausurtagung in Frankfurt an der Oder. Diese Stadt, die durch die Oderbrücke mit dem polnischen Slubice verbunden ist, steht symbolisch für die Brüche und Umbrüche der vergangenen 30 Jahre. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der friedlichen Revolution 1989 folgte 2004 mit der EU-Erweiterung ein neuer Meilenstein für das Friedensprojekt Europa. Städte und Länder wuchsen zusammen, wie hier in Frankfurt und Slubice, und damit auch ein Kontinent.

Hier, an der polnisch-deutschen Grenze, wird die Aufgabe des politischen Jahres 2019 deutlich. Wir müssen Europa als starke Gemeinschaft erhalten und seine Einigung fortführen. Und wir werden dafür kämpfen, dass es ein rechtsstaatliches, freiheitliches und fortschrittliches Europa ist.

Gerade für Deutschland ist das zentral. Frieden, Sicherheit und Wohlstand gibt es nicht im Nationalen. Ein Europa, in dem nationale Grenzen wieder hochgezogen werden, würde gemeinsame Lebensräume trennen, Pendler*innen im Stau stehen lassen und den Verkehr von Waren unterbinden. Das wäre nicht nur für die Menschen in den Grenzregionen, sondern für ganz Europa fatal.

Schicksalsjahr für Demokratie in Europa und in Deutschland

Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 werden genauso wie  – 30 Jahre nach dem Mauerfall – die drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern maßgeblich darüber entscheiden, wie sich die politische Laufrichtung in Deutschland und in Europa weiter entwickelt.

Für Arroganz und Selbstgewissheit ist da kein Raum. Mit Großbritannien verliert die Europäische Union zum ersten Mal in der Geschichte ein Mitgliedsland und wird wieder kleiner. Soziale und ökonomische Ungleichgewichte lassen die Lebensverhältnisse innerhalb der Europäischen Union weit auseinanderdriften. Neben prosperierenden und wachsenden Regionen verfestigen sich andernorts Armut und Frust, Menschen sind von sozialer Teilhabe abgehängt. Verlust- und Abstiegsängste, Enttäuschungen, der Mangel an Anerkennung sowie Zweifel daran, dass der Staat im Interesse aller und nicht nur im Interesse mächtiger Lobbys handelt, bieten dem Populismus und Nationalismus einen Nährboden. Zu viele Menschen verlieren den Glauben an den Rechtsstaat, weil er sie scheinbar alleine lässt: Frauen, die Gewalt erfahren, Angestellte, denen der Mindestlohn gedrückt wird, oder Gewerkschafter, die bei Amazon oder anderen gewerkschaftsfeindlichen Betrieben einen Betriebsrat gründen wollen.

Die Demokratie muss ihre Stärke beweisen

Ausgerechnet in dieser Zeit hat mit Rumänien am 1. Januar ein Land die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen, das symptomatisch für die Herausforderungen und Verschiebungen in Europa steht. Die rumänische Demokratie, getragen von einer starken und wachen Zivilgesellschaft, wird von korrupten Politiker*innen innerhalb und außerhalb der Regierung geschliffen. Sie rütteln an den Grundfesten der Rechtstaatlichkeit, legalisieren Korruption und gehen gegen diejenigen, die für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und ein humanes Europa friedlich protestieren, mit Tränengas vor.

In einer ganzen Reihe europäischer Staaten steht der Rechtsstaat heute unter Druck: In Polen und Ungarn, aber auch in Italien und Österreich werden Demokratie und Meinungsfreiheit immer stärker von den eigenen Regierungen angegriffen. Da sind auch die europäischen Parteifamilien in der Verantwortung: Wenn nun alle über Europas Werte reden, sollten diese in den Mitgliedsländern auch von den Mitgliedern der eigenen Parteifamilie eingehalten werden.

Vor diesem Hintergrund gilt es, besonders sensibel zu sein, wenn bei uns in Deutschland aus den Reihen der CDU der Ruf danach laut wird, Klagerechte von Umweltverbänden einzuschränken. Wir verteidigen  den Rechtsstaat in Europa mit all unserer Anstrengung und lassen ihn nicht einreißen. Der Rechtsstaat, um den in den vergangenen Jahrzehnten gerade in den osteuropäischen Staaten so hart gerungen wurde, darf nicht wieder aufgegeben werden. Ohne einen liberalen Rechtsstaat keine Demokratie.

Wir Grüne stehen an der Seite der Menschen, die sich gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit durch ihre eigenen Regierungen, gegen Korruption, für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten einsetzen – sei es in Rumänien, Polen, Italien, Ungarn, Österreich, der Slowakei oder anderswo in Europa. Sie demonstrieren auch mit Europas Fahnen in der Hand und erwarten zu Recht, dass die EU ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigt. Dafür müssen wir Europa stärken. Auch das ist Teil unseres grünen Erbes von der Bürgerbewegung in der DDR und vom Bündnis 90.

Unsere Demokratie und der europäische Rechtsstaat müssen – und können – nun ihre Stärke beweisen. In diesem Sinne wollen wir Europas Versprechen erneuern. Wir stehen hier in der Verantwortung gegenüber unseren Eltern und Großeltern, die unser Haus Europa in schwierigsten Zeiten gebaut und immer weiter entwickelt haben, genauso gegenüber den Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern, die tagtäglich das gemeinsame Miteinander leben und nun oftmals wieder verteidigen müssen. Dazu gilt es, das Vertrauen in die europäischen und nationalen Institutionen zu stärken, indem wir ihre Handlungsfähigkeit beweisen und erweitern. Auch, damit die Europäische Union geeint auftreten kann, um angesichts der globalen Turbulenzen eine starke, rechtsstaatliche und freiheitliche Rolle zu spielen.

Den Rechtsstaat schützen

Damit dies gelingen kann, muss die EU im eigenen Raum entschlossen vorgehen. Wer den Rechtsstaat abbauen will, bekommt eine klare Antwort. Die EU hat bereits Instrumente dafür – so hat der Europäische Gerichtshof dafür gesorgt, dass die polnische Regierung ihren Angriff auf die Justiz wieder zurücknehmen musste. Doch angesichts der aktuellen Herausforderungen sind weitere Instrumente nötig. Wir verteidigen die Werte und Errungenschaften des vereinigten Europas, dafür braucht es eine starke Gemeinschaft mit folgenden weiteren Schritten und Instrumenten:

Unabhängige Prüfung von Demokratie und Menschenrechten in den EU-Mitgliedstaaten

Angesichts zunehmender Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte der EU, fordern wir ein unabhängiges Gremium aus Verfassungsexpert*innen, das alle Mitgliedsländer regelmäßig auf die Einhaltung demokratischer Grundsätze hin überprüft – eine „Kopenhagen-Kommission“. Sie soll Kriterien für die Überprüfung von Prinzipien wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte entwickeln, alle Mitgliedsländer jährlich anhand der Kriterien überprüfen und wenn nötig Sanktionen vorschlagen.

Unterstützung von Zivilgesellschaften und unabhängigem Journalismus in der EU

Demokratie kann ohne eine aktive politische Zivilgesellschaft und freie Medien nicht funktionieren. Mit einem Fonds für Demokratie- und Menschenrechtsverteidiger*innen innerhalb der EU wollen wir den Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume („shrinking spaces“) entgegentreten sowie unabhängigen, investigativen Journalismus fördern. Dafür haben wir Grüne im Rahmen der Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU die Federführung im Europäischen Parlament.

Zudem streben wir die Einführung der Rechtsform eines „Europäischen eingetragenen Vereins“ mit einer europäischen Gemeinnützigkeit an, um Nichtregierungsorganisationen europaweit der Willkür der Nationalregierungen zu entziehen und ihren Status europäisch zu schützen. So können jene, die sich hier für Demokratie einsetzen, unterstützt werden. Europäische gemeinnützige Vereine wären Rückenwind für die europäische Öffentlichkeit.

Fördermittel an die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundwerte binden

Europäische Ausgaben müssen auch europäischen Werten folgen. Deshalb schlagen wir vor, dass jenen nationalen Regierungen, die Rechtsstaatsprinzipien fundamental verletzen, die Verfügung über EU-Gelder entzogen wird. In solchen Fällen soll die EU-Kommission die Gelder künftig direkt an Kommunen und andere Fördermittelempfänger*innen ausbezahlen. So wird den nationalen Regierungen die Vergabemacht entzogen, das Geld kommt aber weiterhin dort an, wo es gebraucht und sinnvoll verwendet wird.

Europäische Grundrechtecharta verbindlicher machen

Die Grundrechtecharta ist das gemeinsame Wertefundament der EU. Wir wollen ihren Anwendungsbereich ausweiten, so dass Bürgerinnen und Bürger der EU die in der Charta enthaltenen Grundrechte auch gegenüber ihren jeweiligen Nationalstaaten einklagen können. Das würde die Möglichkeiten verbessern, demokratische Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit auch individuell zu verteidigen, gerade in Ländern, in denen diese Prinzipien angegriffen werden.

Europäische Staatsanwaltschaft ausbauen

Die im Aufbau befindliche Europäische Staatsanwaltschaft kann perspektivisch als zentrale Ermittlungs- und Anklagebehörde eine entscheidende Rolle auch bei der Strafverfolgung von grenzüberschreitendem Terrorismus und organisierter Kriminalität einnehmen. Sie sollte nicht auf die Verfolgung von Betrug zu Lasten der EU beschränkt bleiben. Noch nehmen nicht alle Mitgliedsstaaten an der Europäischen Staatsanwaltschaft teil. Unser Ziel ist es, dass alle mitwirken. Damit würden wir Korruption, Terrorismus und organisierte Kriminalität effektiver bekämpfen.

Whistleblower*innen schützen

Menschen, die sich trauen, Korruption und Rechtsverstöße offenzulegen, müssen europaweit besser geschützt werden. Dazu braucht es ein Gesetz, um Whistleblower*innen zu schützen. Auf Drängen von uns Grünen hat die Europäische Kommission dafür jetzt einen Vorschlag vorgelegt. Die deutsche Bundesregierung sitzt auch hier wieder – wie schon seit Jahren bei diesem Thema – im Bremserhäuschen, statt den Vorschlag zu unterstützen. So fordert sie unter anderem von Whistleblowern, zuerst interne Beschwerdewege in Unternehmen und Behörden zu nutzen, bevor sie geschützt werden, obwohl genau das oft unzumutbar, weil mit persönlichen Sanktionen verbunden ist.

Lobby-Einfluss kontrollieren

Aufgabe des Rechtsstaats ist es auch, die intransparente Einflussnahme mächtiger Interessengruppen auf politische Entscheidungen zu verhindern. Dies gilt gerade mit Blick auf die zahlreichen Interessenvertreter*innen, die in Brüssel aktiv sind. Zwar besitzen das Europäische Parlament und die EU-Kommission im Gegensatz zum Bundestag ein Lobbyregister, aber dieses ist noch nicht ausreichend verbindlich. Um höchste Transparenz zu schaffen, wollen wir verbindliche Lobbyregister für alle EU-Institutionen, striktere Karenzzeiten und einen „legislativen Fußabdruck“, durch den die Einflussnahme Dritter auf EU-Gesetzgebung überprüfbarer wird – kontrolliert durch eine Institution auf EU-Ebene. Wir wollen die bestehende Verordnung über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU zu einer umfassenden EU-Transparenzverordnung weiterentwickeln.

Illegitime Einflussnahme verhindern

Die Versuche der russischen oder chinesischen Regierung, genauso wie von rechtsextremen Kreisen aus den USA und anderswo, auf die demokratischen Willensbildungsprozesse in einzelnen EU-Staaten Einfluss zu nehmen, sind eine ernstzunehmende Bedrohung. Die Schaffung von Echokammern über Algorithmen ohne demokratische Kontrolle gefährdet den demokratischen Zusammenhalt. Mit einer europäischen Digitalaufsicht wollen wir die Marktmacht der großen Digitalkonzerne gemeinsam kontrollieren und begrenzen. Wir setzen uns dafür ein, dass politische Werbung im Internet und Microtargeting streng reguliert werden. Das umfasst unter anderem klare Vorgaben bezüglich eingesetzter Höchstbeträge und die Offenlegung und transparente Kennzeichnung von Werbung und parteipolitischer Information. Für die Empfänger*in muss jederzeit ersichtlich sein, auf welcher Grundlage sie/er welche Werbung erhält. Demokratische Diskurse, politische Willensbildungsprozesse und Wahlen müssen effektiv geschützt werden. Es braucht Wege, die illegale Finanzierung solcher Aktivitäten über Vereine, wie es die AfD betreibt, auch mit Blick auf die Europawahlen zu unterbinden. Denn mit diesen Geldern werden verfassungsfeindliche Bestrebungen in anderen Ländern finanziert. Missbräuchlich eingesetzte „social bots“ können Desinformationen gezielt und massenhaft verbreiten und so Relevanz von Fake News vortäuschen. Bei der notwendigen Bekämpfung wollen wir auch die Betreiber digitaler Plattformen in die Pflicht nehmen: Der Einsatz von Bots muss klar erkennbar sein. Auch hier bedarf es einer europaweit geltenden, verbindlichen Regelung.

Der Beschluss auf gruene.de:

https://www.gruene.de/ueber-uns/2019/fuer-ein-europa-des-rechts.html

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