Sven Giegold

Sven zur Verleihung des Karlspreises an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble

Interview in den Aachener Nachrichten vom 11.5.2012

„Der Einäugige unter den Blinden“

Sven Giegold hält Wolfgang Schäuble prinzipiell für einen würdigen Karlspreisträger. Gleichzeitig übt der Wirtschafts- und Finanzexperte der Grünen im Europaparlament aber heftige Kritik an dessen Krisenpolitik.

Von Joachim Zinsen, Aachen/Brüssel. Wolfgang Schäuble soll am 17. Mai in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet werden. Ist er ein würdiger Preisträger? Sven Giegold, wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament zeichnet ein differenziertes Bild vom Bundesfinanzminister. Er lobt ihn als überzeugten Europäer, übt gleichzeitig aber massive Kritik an der maßgeblich auch von dem CDU-Politiker mitentworfenen Krisenpolitik der EU.

Herr Giegold, hat Wolfgang Schäuble den Karlspreis verdient?

Giegold: Ich glaube schon. Schäuble ist in der Europapolitik der Einäugige unter den Blinden am Kabinettstisch von Angela Merkel.

Das Bild müssen Sie etwas genauer erklären.

Giegold: Schäuble hat eine überzeugte, europafreundliche Haltung. Er hält fest an der Vision einer immer tieferen Integration des Kontinents – trotz vieler europaskeptischer Stimmen, die in den schwarz-gelben Koalitionsparteien und in der christdemokratischen Wählerschaft immer lauter werden. Dass sich Schäuble dem klar und deutlich entgegenstellt, rechne ich ihm hoch an.

Die grundsätzliche Haltung ist die eine Sache, die konkrete Politik –vor allem jetzt in der Krise – ist eine andere.

Giegold: Richtig. Aber auch da sehe ich bei Schäuble mehr Licht als Schatten. Schäuble hat in der Vergangenheit immer wieder zu erkennen gegeben, dass er weiß, was eigentlich zur Bekämpfung der Krise notwendig wäre. Er hat sich offen gezeigt für europäische Staatsanleihen, offen für ein europäisches Finanzministerium, offen für eine viel stärkere Abstimmung der Finanz- und Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene. Leidersind das alles Dinge, von der die Bundeskanzlerin und ihr liberaler Koalitionspartner nichts wissen wollen.

Schäuble konnte sich also nichtdurchsetzen?

Giegold: Das ist wohl sein Problem. Schäuble hat sich beispielsweise glaubhaft und entschieden für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer eingesetzt. Doch dieses Instrument gibt es auch wegen der FDP bis heute nicht.

Was kritisieren sie denn an seiner Politik?

Giegold: Sie ist viel zu einseitig. Dass in der Krise gespart werden muss, ist grundsätzlich richtig. Aber es fehlen die notwendigen Ausgleichsmaßnahmen. Schäuble hat zwar dazu beigetragen, dass Deutschland den Fiskalpakt durchsetzen konnte. Aber er war nicht bereit, einen Steuerpakt mit auf den Weg zu bringen. Dabei brauchen wir endlich europäische Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerflucht. Gleichzeitig müssen europäische Mindeststeuersätze festgesetzt werden. Entscheidend ist doch die Frage: Wer zahlt die Krisenkosten?

Hat Schäuble darauf eine Antwort gegeben?

Giegold: Als Finanzminister wäre das seine Aufgabe. Aber davor drückt er sich. Letztlich sagt Schäuble nur: Wir müssen sparen. Das ist zu wenig, zumal er sich dabei auch noch in Widersprüche verstrickt. Einerseits macht Schäuble Steuersenkungen der Bundesregierung mit, die einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen heftige Probleme bereiten. Andererseits weigert er sich, auf europäischer Ebene dafür zu sorgen, dass Kapitaleinkünfte und große Vermögen stärker besteuert werden, obwohl gerade sie durch die Krisenpolitik stabilisiert wurden. Schäuble schaut offenbar nur auf die Ausgabenseite und nicht auch auf die Einnahmeseite.

Eine seit Jahren immer wieder erhobene Forderung lautet: Die Banken müssen stärker reguliert werden. Schreitet Schäuble bei diesem Punkt mutig voran?

Giegold: Er hat mit seinem nationalen Verbot ungedeckter Leerverkäufe gegen viel Kritik aus den eigenen Reihen das europaweite Verbot erst möglich gemacht. Leider macht er bei den Großbanken viel zu wenig. Die Bundesregierung und auch Herr Schäuble sitzen bei der Regulierung im Bremserhäuschen. Eine Schuldenbremse für Banken, über die wir gerade in Brüssel diskutieren, wird es auf Druck aus Deutschland nur in sehr abgeschwächter Form geben.

Schäuble lässt sich gerne mit dem Satz zitieren: „Die Antwort auf die Krise kann nur ein Mehr an Europa sein“. Erleben wir das gerade?

Giegold: Ja, wir erleben ein „Mehr“ beim Sparen und bei der Rettung von Banken. Wir erleben kein „Mehr an Europa“ bei der konsequenten Regulierung von Banken und der Besteuerung hoher Einkommen. Durch diese Einseitigkeit werden privilegierte Interessen bedient. Es ist klassische Klientelpolitik.

Verkommt die Europa-idee deshalb immer mehr zu einem Eliteprojekt? Angesichts des von Brüssel vorgegebenen Sparkurses empfinden viele Menschen ihren Lebensstandard bedroht und machen dafür Europa verantwortlich.

Giegold: Natürlich führt die Art der Sparpolitik bei vielen zu einemgefährlichen Europa-Frust. Zwar wissen die meisten Menschen, dass nach einem Verschuldungsexzess gespart werden muss. Aber sie sind wütend, dass dies so ungerecht geschieht. Die Renten werden gekürzt, bei der Bildung wird gespart, die Mehrwertsteuer wird erhöht, Sozialleistungen werden zusammengestrichen. Gleichzeitig kommen Steuerflüchtlinge in den Genuss von Sonderregelungen, gleichzeitig bleiben die korrupten Kader der beiden großen griechischen Parteien von Strafverfolgung verschont, gleichzeitig wurde bisher kein deutsches Unternehmen verurteilt, das sich in Griechenland mit Schmiergeldern Aufträge erkauft hat. Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Dieser Eindruck gefährdet langfristig nicht nur Europa, sondern auch die Demokratie. Herr Schäuble muss sich ankreiden lassen, dass er gegen diese Entwicklung viel zu wenig tut – auch wenn ich natürlich sehe, dass er unter Druck vor allem von Seiten der FDP steht.

Griechenland, das am härtesten unter der derzeitigen Krisenstrategie leidet, hat bei der jüngsten Wahl einen politischen Erdrutsch erlebt. Die politische Mitte ist völlig erodiert. Die Ränder wurden enorm gestärkt. ist das ein Szenario, das künftig auch für andere Länder zu erwarten ist.

Giegold: Zunächst: In Griechenland und in Frankreich ist Merkels Europapolitik abgewählt worden – in Frankreich zum Glück mit einem

klaren Bekenntnis zu Europa, obwohl es dort eine große Skepsis gegenüber dem deutschen Europakurs gibt. Mich besorgt, dass auch in Italien diese Skepsis immer mehr zunimmt. Aber das darf niemanden wundern. Dort sind 30 Prozent der jungen Menschen arbeitslos, in Griechenland sind es 50 Prozent, in Spanien sogar mehr als 50 Prozent. Aus Brüssel muss jetzt endlich ein deutliches Signal kommen, dass Europa dieses Problem anpackt und seine einseitige Krisenstrategie ändert. Geschieht das nicht, sehe ich auch für weitere Wahlen schwarz.

Vielen gilt der Sozialist François Hollande als Hoffnungsträger für eine Änderung der europäischen Krisenstrategie hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Andererseits werden immer wieder Stimmen laut, die vom neuen französischen Präsidenten Strukturänderungen im eigenen Land fordern.

Giegold: Weil wir in Deutschland bei der Agenda 2010 einiges falsch gemacht haben, sollten Strukturänderungen nicht grundsätzlich tabu sein. In Frankreich muss sicherlich etwas am Rentensystem korrigiert werden. Aber Frankreich hat sich in den vergangenen Jahren – anders als Deutschland – genau an europäische Vorgaben bei der Lohnentwicklung gehalten. Dort sind die Produktivitätsgewinne der Wirtschaft an die Arbeitnehmer weitergegeben worden. In Deutschland hingegen sind die Löhne viel zu gering gestiegen. Frankreich und auch andere Euro- Länder werden ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland ein Stück weit zurückgewinnen, wenn bei uns die Löhne endlich wieder deutlicher steigen und wir einen Mindestlohn einführen. Schäuble weiß das und sagt das. Aber leider findet er auch damit an Merkels Kabinettstisch nicht unbedingt Gehör.