Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger,
Liebe Interessierte,
danke für Ihre vielen E-Mails zur gestrigen Abstimmung über eine Reform der Europäischen Bürgerinitiative (EBI). Ich teile Ihre Kritik und habe gestern gegen die Reform gestimmt.
Die Mehrheit des Parlaments hat leider für die Reform gestimmt. Das Ergebnis der Trilogverhandlungen von Europaparlament, Kommission und Rat, bei dem der ungarische Christdemokrat György Schöpflin (Fidesz-Partei) das Parlament vertrat, wurde bestätigt mit 535 ja, 90 nein bei 41 Enthaltungen.
Ich habe die Reform abgelehnt, weil diese Reform den EBI-Koordinatoren die Arbeit erschwert statt erleichtert. Der Rat hat gegen Parlament und EU-Kommission durchgesetzt, dass individuelle Online-Sammelsysteme künftig verboten sind. Ebenso dürfen E-Mail-Adressen über das verpflichtende zentrale System bald nach dem Ende von EBIs nicht weiter verwendet werden. NGOs hatten solche individuellen Systeme geschaffen, um Unterstützung für EBIs und gleichzeitig Kontakte zur Schaffung einer wachsenden europäischen Öffentlichkeit zu gewinnen. NGOs wie WeMove.eu haben mit EBIs erfolgreich eine wachsende europäische Öffentlichkeit aufgebaut, z.B. durch die Stop Glyphosate EBI. In die technische Grundlage dafür, ein individuelles Sammelsystem, hatten mehrere NGOs rund 50 000 EUR investiert. Mitgliedstaaten hatten das System zertifiziert. Gemäß der Einigung müssen NGOs stattdessen ab 2023 ein von der Kommission bereitgestelltes zentrales Online-Sammelsystem nutzen. Individuelle Systeme werden verboten und der Zugang zu zentral gesammelten Mail-Adressen wird bald nach dem Ende der EBI gesperrt werden. Das Verbot weiterer Kontakte zwischen NGOs und EBI-Unterstützern, die gerne in Kontakt bleiben möchten, ist eine verpasste Gelegenheit für eine stärkere Europäische Öffentlichkeit. Der Schlag des Rates gegen individuelle Sammelsysteme der NGOs soll einigen nationalen Beamten die Arbeit ersparen, solche Systeme zu zertifizieren. Tatsächlich ist diese Blockade des Rates gegen Fortschritte für die EBI eine kurzsichtige Engstirnigkeit, während Demokraten europaweit gegen anti-europäische Angriffe der Populisten zusammenstehen müssten. Die Reform schreckt gerade große NGOs von der Durchführung neuer EBIs ab. Die Erfahrung zeigt: ohne große transnationale NGOs ist es kaum möglich, die erforderliche 1 Million Unterschriften zu sammeln. Nur vier EBIs ist das seit der Einführung überhaupt gelungen. Über 30 EBIs scheiterten dagegen. Durch diese Reform droht die Zahl erfolgreicher EBIs noch kleiner zu werden.
Wie auch die wichtigsten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für europäische Bürgerbeteiligung anerkennen, hat die Reform durchaus Mängel geheilt. Die Arbeit der EBI-Organisatoren wird insofern erleichtert, als Mitgliedstaaten aus nur noch 2 statt bisher 13 Sets an Datenanforderungen wählen müssen. Außerdem können die Mitgliedstaaten 16- und 17-Jährigen die Möglichkeit geben, EBIs zu unterstützen, auch wenn sie noch kein Stimmrecht bei Wahlen haben, wie dies in Österreich der Fall ist. Der neue Text sieht außerdem vor, dass das Europaparlament einschreitet, wenn die EU-Kommission ihre Zusagen gegenüber einer erfolgreichen EBI nicht einhält. Die EU-Institutionen müssen eine erfolgreiche Bürgerinitiative weiterverfolgen, damit die EBI ein wirksames Instrument der partizipativen Demokratie wird. Die EBI muss den Bürgerinnen und Bürgern wirklich ermöglichen, EU-Politik zu beeinflussen. Ohne eine gesetzliche Verpflichtung für das weitere Verfolgen einer erfolgreichen Initiative ist es für die Kommission zu einfach, erfolgreiche Initiativen zu ignorieren. Dann verwandelt sich die EBI in eine Farce. Das war leider zu oft der Fall bei Forderungen der vier erfolgreichen EBIs. Die Verpflichtung des Europaparlaments, die Kommission bei nicht eingehaltenen Versprechen zum Handeln zu drängen, steht allerdings nicht nur in dieser Reform, sondern bereits in der zuvor schon beschlossenen Geschäftsordnung des Europaparlaments. Die Kommission widersetzte sich hartnäckig und erfolgreich allen direkten Verpflichtungen, die ihre eigene Freiheit begrenzen würden. Die nahmen dabei in Kauf, dass die Bürger an der EU-Gesetzgebung weniger beteiligt werden. Erfolgreiche EBIs haben so keine wirkungsvollen neuen Rechte auf eine schnellere oder umfassendere Reaktion der Kommission erhalten. Weniger Bürokratie für zukünftige EBIs dank harmonisierter Datenanforderungen und die Begrenzung rechtlicher Risiken für die Organisatoren sind willkommene Unterstützung, können aber die schlechte Gesamtbilanz der Einigung nicht ins Positive wenden.
Die Trilog-Einigung wurde nur erzielt, weil der christdemokratische Berichterstatter fast alle Forderungen, die das Europaparlament gemeinsam beschlossen hatte, in den Verhandlungen aufgab. Auch die Abgeordneten anderer Fraktionen können deshalb mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Wir werden unseren Einsatz für eine Stärkung der Europäischen Bürgerinitiative nach der Europawahl neu aufnehmen. Wir würden uns freuen, wenn wir das mit Ihrer Stimme und neuer Stärke tun können.
Gerne würde ich Sie über weitere Entwicklungen zu diesem und verwandten Themen auf dem Laufenden halten. Dazu haben wir Ihre E-Mail-Adresse gemäß unserer Datenschutzbestimmungen (https://sven-giegold.de/datenschutz/) gespeichert. Falls Sie dies nicht wünschen, können Sie dem jederzeit per Mail an sven.giegold@europarl.europa.eu widersprechen.
Mit europäischen Grünen Grüßen
Sven Giegold
HINTERGRUND
Bewertung des Trilog-Ergebnis durch eine Koalition von NGOs (14.12.2018): http://www.citizens-initiative.eu/eu-deal-creates-a-highly-uncertain-future-for-eci/
Unsere Bewertung des Trilog-Ergebnis vom 21.12.2018: https://sven-giegold.de/europaeische-buergerinitiative-einigung-gefaehrlich/
Pressemitteilung des Europaparlaments, üblicherweise in Zusammenarbeit mit dem Berichterstatter geschrieben (von gestern, 12.03.2019): http://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20190307IPR30743/parliament-makes-it-easier-to-organise-a-european-citizens-initiative
Zum Datenschutz: Die Erhebung von Adressen von Unterstützern über eine EBI steht nicht im Widerspruch zum Datenschutz, wenn die Unterschrift einer EBI möglich ist, ohne in die Datenbank der jeweiligen NGO aufgenommen zu werden, und wenn es eine ausdrückliche Vereinbarung gibt, den Newsletter der NGO zu abonnieren. Das ist genau das, was die Software OpenECI erlaubt, die nun verboten wird.