Sven Giegold

Brief meines Kollegen Charles Goerens an Seehofer

Heute schrieb mein Kollege der luxembourgischen Liberalen, Charles Goerens MdEP, folgenden Brief an CSU-Chef Horst Seehofer. Darin kritisiert er die populistische Forderung Seehofers nach einem Referendum über die zukünftige finanzielle Unterstützung Griechenlands.

„Sehr geehrter Herr Seehofer,

Mit diesem Schreiben an Sie als Vorsitzenden der CSU möchte ich meine große Besorgnis über den Zusammenhalt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zum Ausdruck bringen.

Genau dieser Zusammenhalt steht auf dem Spiel, wenn politisch hochrangige Stimmen laut werden, die ein Referendum über die noch zugunsten einiger Südstaaten der EU zu leistenden Stützungsmaßnahmen fordern.
Dass man bei jeder an die unter zu hoher Zinslast leidenden Eurostaaten zu erbringenden Leistung die Frage der Strapazierfähigkeit der Leistungsbringer aufwirft, ist sicherlich angebracht. Es wäre daher abwegig, die oft mit sehr viel Nachdruck insbesondere von deutscher Seite artikulierten Bedenken einfach zu übergehen.
Als größter – in absoluten Zahlen – Garant für den Rettungsschirm (sei es in Form der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF – oder des in Kürze in Kraft tretenden Europäischen Stabilitätsmechanismus – ESM) gebührt Ihrem Land Anerkennung und Respekt.
Auch ist der Vorbehalt der Bundesregierung, was eine gemeinsame Haftung für einen Teil öffentlicher Schulden betrifft, verständlich, obwohl ich persönlich die Argumentation des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung völlig teile. Letzterer spricht sich für einen „Redemption Fund“ aus. Dieser sieht eine solidarische Haftung für jene Schulden vor, welche die vertraglich festgesetzte Obergrenze von 60 % des BIP übersteigen. Das wäre in der Tat ein großer und wichtiger Schritt auf dem Weg aus der exzessiven Verschuldung einiger Euro-Staaten. Durch diese illegitimen Schulden würde ansonsten das Stabilitätsgebot in der Eurozone noch über Jahre hinweg unerfüllt bleiben. Daher liegt der Schluss nahe, die das europäische Gemeinwohl gefährdende Überschuldung mittels solidarischer Haftung zu tilgen.
Es wäre sehr bedauernswert, wenn politische Verantwortungsträger diese Möglichkeit endgültig ablehnen würden.
Der Auslöser für das vorliegende Schreiben ist jedoch vor allem Ihre Forderung, künftige  Zusagen der Bundesrepublik zugunsten hilfsbedürftiger Eurostaaten vom Ausgang einer Volksbefragung abhängig zu machen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es der alleinigen Kompetenz der Bundesrepublik obliegt, Form und Inhalt der politischen Entscheidungsprozesse zu beschließen. Dennoch bin ich der Ansicht, dass sich eine Volksbefragung zu ebendiesem Thema im gegebenen Kontext als gravierender politischer Irrtum erweisen könnte.
Die Kernfrage reduziert sich nach wie vor auf die Zuverlässigkeit der Bundesrepublik bei der Bewältigung der aktuellen Krise.  Fehlentscheidungen in diesem Zusammenhang könnten den Anfang vom Ende der europäischen Integration bedeuten. Deren Gründerstaaten wollten unbeirrt ihre Schicksale miteinander verbinden. Und niemandem kam dabei in den Sinn, das Projekt – auch nicht durch die Form der Ratifizierung – zu gefährden. Hätten die Partner Ihrer damals noch jungen und zerbrechlichen Demokratie Anfang der 50er Jahre die deutsche Beteiligung  am europäischen Aufbauwerk von einer Volksbefragung abhängig gemacht, hätte die Mehrheit meiner Landsleute sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dagegen ausgesprochen.
Sowohl für Luxemburg als auch für den Rest Europas wäre dies einem politischen Supergau gleichgekommen. Damals wie heute war dezidiertes Handeln angesagt. Ging es einst darum, durch die Einbindung der BRD der europäischen Einigung überhaupt eine Chance zu gewähren, so steht in der jetzigen Lage das in den vergangenen sechzig Jahren mühsam Aufgebaute auf dem Spiel. 
Die Einbeziehung Deutschlands in die europäische Einigung war der Bevölkerung in den Partnerländern anfänglich nur schwer zu vermitteln. Es wurde daher auch von niemandem ernsthaft erwogen, diesen bedeutenden Schritt per Referendum zu ratifizieren.
Damals wie heute scheint mir die repräsentative Demokratie als legitime Entscheidungsform das geeignetere Mittel, um schwierige und in ihrer Komplexität kaum zu überbietende Probleme, wie wir sie zur Zeit in der Eurozone erleben, einer Lösung zuzuführen.

Natürlich ist mir bewusst, dass Sie mit der Forderung einer Volksbefragung nicht alleine dastehen. Und ich möchte mich mit dem vorliegenden Schreiben auch nicht gegen das Prinzip der Volksbefragung an sich aussprechen, sondern vielmehr Bedenken in Bezug auf das von Ihnen  ausgewählte Thema zu diesem Zeitpunkt äußern. Aus oben genannten Gründen bin ich der Ansicht, dass die Europäische Union als Schicksalsgemeinschaft konsequenterweise Schicksalsfragen nur gemeinsam beantworten sollte. Demnach wäre es ratsam, nationale Alleingänge zu unterlassen und ein Referendum allenfalls in der Gesamtheit der Eurozonenstaaten zeitgleich abzuhalten. Eine Bürgermehrheit in der gesamten Eurozone wäre in Punkto Legitimität jedenfalls höher einzustufen als eine Volksbefragung in einem einzigen Mitgliedstaat.

Bevor die Voraussetzungen für ein solches Unterfangen erfüllt sind, wird aber wohl noch viel Wasser die Isar hinunterlaufen.“