Zur letzte Rede des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker im Europaparlament sagt Sven Giegold, Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament:
“Mit der Selbstbezeichnung ‘Kommission der letzten Chance’ trat Juncker vor fünf Jahren sein Amt an. Heute kann man sagen: Juncker hat die letzte Chance jedenfalls nicht vertan. Die Gefahr des Zerfalls während der Eurokrise in Griechenland wurde abgewendet. Die Unterstützung für die EU unter den Bürgerinnen und Bürger ist wieder gestiegen. Die EU-27 ging einiger aus der Brexit-Debatte stabiler hervor als noch vor fünf Jahren. Als überzeugter Europäer hat Juncker die EU in manch kritischem Moment zusammengehalten. Doch im Angesicht der großen globalen Umwälzungen bleiben die Mitgliedstaaten europäisch mutlos und handlungsschwach. Der Vertrauensverlust ist im Rat der Mitgliedstaaten größer geworden.
In der Bilanz von Juncker gibt es Licht und Schatten. Trotz Junckers Vergangenheit als Luxemburger Regierungschef, gab es Fortschritte in der Steuerpolitik. Der Luxemburger Juncker wurde in Brüssel vom Saulus zum Paulus. Auch beim Thema Lobbytransparenz hat er Fortschritte geliefert. Mit der Schaffung der europäischen Arbeitsbehörde hat Juncker Europa ein Stück sozialer gemacht, wie auch mit der Entsenderichtlinie. Junckers soziale Säule bleibt aber insgesamt unverbindlich schwach. Es war auch Junckers Verdienst, dass Griechenland nicht vertragswidrig aus der Eurozone gedrängt wurde, trotz des Drucks von Teilen der deutschen Bundesregierung. Juncker hat die Eurozone zusammengehalten, auch wenn viele Reformen für die Sicherung der Stabilität nicht ausreichend vorankamen.
In Bereichen wie Migration oder Außenpolitik konnte Juncker die eigenen Ziele nicht erreichen. Blockiert wurde Europa in den letzten Jahren allerdings nicht durch die EU-Kommission, sondern durch die Mitgliedstaaten. Die Uneinigkeit der Regierungen lähmte Europa in vielen Bereichen. Juncker gelang es in vielen Fällen nicht, zwischen den Regierungen zu vermitteln. Nicht selten haderte Juncker mit der mutlosen Europapolitik der Bundesregierung. Zahlreiche Vorschläge der EU-Kommission wurden von nationalen Regierungen blockiert. Juncker hat zu recht nicht akzeptiert, dass die Mitgliedstaaten den Brüsseler Institutionen den schwarzen Peter zu schieben. Damit hat er die EU-Kommission gestärkt. Die dringende ökologische Transformation unserer Wirtschaftsweise ist unter Juncker nur wenig vorangekommen. Klima- und Umweltpolitik waren nie Junckers Herzensanliegen. Die Umsetzung eines Green Deals, der seinen Namen verdient, ist jetzt die wichtigste Aufgabe für Ursula von der Leyen.
Zudem muss die Zerstrittenheit im Europäischen Rat überwunden werden. Insbesondere der deutsche-französische Motor muss endlich wieder angeschmissen werden. Dabei ist in erster Linie die Bundesregierung gefordert. Wir brauchen Europa mehr denn je, aber damit Europa handlungsfähig ist, muss die Bundesregierung ihre europapolitische Bremse lösen.
Ich wünsche Jean-Claude Juncker alles erdenklich Gute. Hoffentlich bleibt er nicht der letzte Kommissionspräsident, der seine Legitimation direkt als Spitzenkandidat aus der Europawahl bezog. Wir müssen weiter an der Vertiefung der europäischen Demokratie arbeiten. Dazu brauchen wir auch in Zukunft Junckers Stimme.”