Sven Giegold

Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Eine Zwischenbilanz der Europagruppe Grüne

Hinweis: Die Sueddeutsche Zeitung hat am 13.11.2020 zu unserer Zwischenbilanz berichtet: https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-gruene-kritisieren-deutsche-ratspraesidentschaft-1.5113822

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Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft schwenkt auf das letzte Drittel ihrer Amtszeit ein. Das nehmen wir zum Anlass für eine grüne Zwischenbilanz: Welche Erfahrungen haben die Abgeordneten der Europagruppe Grüne in ihrer alltäglichen Arbeit mit der deutschen Ratspräsidentschaft gemacht?

So viel vorweg: Das Gesamtbild ist gemischt. In einigen Politikfeldern sind Fortschritte zu verzeichnen, ergab sich eine gute Zusammenarbeit mit der Bundesregierung – beim Wiederaufbaufonds beispielsweise, auf dem Gebiet der Kohäsionspolitik, im Bereich Internationales. Ohnehin sind wir uns der schwierigen Umstände und erheblichen Herausforderungen bewusst, mit denen sich die deutsche Ratspräsidentschaft infolge der Covid-Pandemie konfrontiert sieht. Dennoch: Vielerorts fällt das Fazit der Abgeordneten kritisch aus. Beim überfälligen Klimagesetz spielt die Bundesregierung auf Zeit; im Haushalt schlägt sie erhebliche Kürzungen gerade in zukunftsrelevanten Bereichen wie Forschung und Gesundheit vor; und die Reform der Agrarpolitik verhandelt die deutsche Landwirtschaftsministerin beinahe so, als gäbe es den Klimawandel nicht.

Was zudem heraussticht, ist ein bisweilen geringschätziger Umgang der deutschen Ratspräsidentschaft mit dem Europäischen Parlament. Engst gesteckte Verhandlungsmandate, die eine Kompromissfindung zwischen Rat und Parlament kaum möglich machen; Verzögerungen im Trilog; das Fernbleiben der politischen Ebene von den Gesprächen mit dem Parlament: Stand die Bundesrepublik Deutschland stets in der Tradition, die europäische Einigung, nicht zuletzt deren demokratische Vertiefung energisch voranzutreiben, ließ die deutsche Ratspräsidentschaft in den vergangenen vier Monaten abermals die gebotene Anerkennung des Europäischen Parlaments als zentraler europäischer Gesetzgeber vermissen.

Das betrifft insbesondere große Verhandlungsdossiers wie das Klima-Gesetz und den EU-Haushalt, den Schutz der Rechtsstaatlichkeit und die Agrarpolitik. Doch auch darüber hinaus gibt es Anlass zu Abwägung. In der vorliegenden Zwischenbilanz (die wohlgemerkt keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt) nehmen wir deshalb auch Fachbereiche in den Blick, die zwar weniger im Fokus der Öffentlichkeit stehen, aber nicht minder bedeutsam sind für den Erfolg und die Akzeptanz zukunftsgewandter Europapolitik. Kurze Schlaglichter der Abgeordneten der Europagruppe Grüne erlauben so eine umfassendere Bewertung der bisherigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Mit knapp zwei Monaten bis zur Staffelübergabe an Portugal bleibt nur noch wenig Zeit. Werte deutsche Ratspräsidentschaft, nutzen wir sie – auf Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt.

Hierzu haben wir als Delegation ein Webinar veranstaltet. Die Aufzeichnung findet sich HIER.

 

KLIMA

Klimagesetz (Michael Bloss)
Die deutsche Ratspräsidentschaft zögert eine Einigung beim europäischen Klimagesetz hinaus und macht die EU damit handlungsunfähig. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschef*innen hatte es sich vorbehalten, wichtige Fragen des Klimagesetzes (wie das CO2-Reduktionsziel bis 2030) selbst festzulegen und es nicht dem eigentlich zuständigen Organ, dem Umweltminister*innenrat, zu überlassen. Bei ihrem Gipfel im Oktober trafen die europäischen Staats- und Regierungschef*innen dann aber keine Entscheidung, vertagten diese stattdessen auf den 11. Dezember. Dadurch steht jetzt schon fest: Die EU wird entweder ihrer internationalen Verpflichtung aus dem Pariser Klimaabkommen, angepasste und höhere Ziele bei der UN einzureichen, nicht rechtzeitig bis zum Jahresende nachkommen; oder aber die EU wird dies ohne ordentliche Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament tun, denn dafür fehlt nun die Zeit.
Grüne Position: Die progressive Position des Europäischen Parlaments zum Klimagesetz ist ein grüner Erfolg. Dazu gehört ein Klimaziel für 2030 mit -60 Prozent, die Forderung eines Treibhausgas-Budgets sowie eines unabhängigen wissenschaftlichen Klimarats, ein Verbot von fossilen Subventionen, ein Recht auf Klimaschutz sowie die Forderung einer sektoralen Roadmap. Weitere Informationen zum EU-Klimagesetz: https://gruenlink.de/1uov.

 

EU-HAUSHALT

Wiederaufbaufonds (Rasmus Andresen, Sven Giegold)
Durch den starken Vorschlag für einen Wiederaufbaufonds werden erstmals europäische Anleihen und Investitionen möglich. Das leitet einen Systemwechsel innerhalb der EU ein und birgt grundsätzlich die Chance, Europa besser durch die Covid-Krise zu bringen. 30 Prozent der Wiederaufbauhilfe sollen in den Klimaschutz fließen. Durch eine Eigenmittelreform sollen Deckelungen angehoben werden und somit Anleihen möglich sein.

Mehrjähriger Finanzrahmen, MFR (Rasmus Andresen)
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat in ihren Vorschlägen zum langfristigen Haushalt Geld für Programme –gerade in zukunftsrelevanten Bereichen wie Forschung, Gesundheit und Innovation –zu stark eingekürzt. Der Erwartung, die deutsche Ratspräsidentschaft würde sich in der Ausgestaltung des MFR und des Wiederaufbauprogramms besonders für Klima- sowie Geschlechter- und Generationsgerechtigkeit stark machen, ist sie nicht nachgekommen. Außerdem hat sie sich gegen die Anhebung des Haushaltsvolumens gesperrt, was die Umsetzung von Zukunftsprojekten wie dem Green Deal gefährden kann. Und auch unserer Forderung, 10 Prozent des EU-Budgets in Natur- sowie Artenschutz zu investieren, hat sich die deutsche Ratspräsidentschaft lange verwehrt.Entsprechend zäh waren die Verhandlungen über das größte Finanzpaket der EU-Geschichte mit einem Volumen von ca. 1,8 Billionen Euro. Es ist letztlich dem Durchsetzungswillen und der Einigkeit des Europäischen Parlaments zu verdanken, dass im Kompromiss, der nun auf dem Tisch liegt, doch noch eine Aufstockung in vielen zukunftsrelevanten Programmen – Gesundheit, Erasmus, Horizon, Menschenrechte – erstritten werden konnte. Auch unser Einsatz für die Einführung neuer Eigenmittel hat sich gelohnt: Unter anderem soll es eine Plastiksteuer, eine CO2-Grenzausgleichssteuer und eine Digitalsteuer geben. Als großen Erfolg können wir Grüne das festgesetzte Klimaziel von 30 Prozent verzeichnen. Und beim Natur- und Artenschutz konnten wir zumindest einen Stufenplan durchsetzen: Ab 2024 müssen 7,5 Prozent und ab 2026 mindestens 10 Prozent aller EU-Mittel hierfür eingesetzt werden. All das zeigt: Mehr europäische Solidarität und Investitionen in die Zukunft sind nur mit dem Europäischen Parlament und auch uns Grünen möglich.

Parlamentarische Beteiligung bei MFR und Wiederaufbaufonds (Rasmus Andresen)
Die deutsche Ratspräsidentschaft hält das Parlament in den Haushaltsverhandlungen hin und riskiert damit eine Verzögerung der Mittel aus dem Konjunkturpaket. Das ist unverantwortlich. Beim Wiederaufbaufonds wurde das Europäische Parlament außen vor gelassen und muss hart um Mitbestimmung ringen. Forderungen des Parlaments bei Programmen wurden nicht ernst genommen, es gibt wenig Kompromissbereitschaft. Insgesamt setzt die deutsche Ratspräsidentschaft das Europäische Parlament zunehmend unter Druck, nachdem sich der Rat selbst zwei Jahre lang Zeit genommen hat, um zu einer Position zu kommen. Während Kanzlerin Merkel und Staatsminister Roth von der Seitenlinie die Verhandlungen kommentieren, verhandeln wir mit Boschafter Clauß, der naturgemäß weniger politischen Spielraum hat.

Wissenschaft und Forschung (Viola von Cramon)
Es besteht nicht viel Hoffnung, dass sich für die Finanzierung von Wissenschaft und Forschung in den Verhandlungen zum MFR noch viel bewegen wird. Im Vergleich zu den Forderungen des Europäischen Parlaments wird dieser Bereich mit am meisten unter den Kürzungen leiden. Gleichzeitig kommen neue Herausforderungen und zusätzliche Aufgaben auf den Sektor zu; die Mitgliedstaaten wollen mehr Aufgaben auf die europäische Ebene verlagern. Die drohende extreme Unterfinanzierung läuft dem komplett zuwider. Aufseiten der Ratspräsidentschaft hätte man zumindest den Versuch erwartet, hier noch etwas in Gang zu setzen. Stattdessen war Fatalismus und Resignation zu spüren.

Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit (Erik Marquardt)
In den Diskussionen über das größte Instrument für Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit des nächsten siebenjährigen EU-Haushalts – das Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationve Zusammenarbeit (NDICI) – gelang es der deutschen Ratspräsidentschaft, mit dem Europäischen Parlament einen guten Kompromiss über neue Mittel der Entwicklungszusammenarbeit zu erzielen. Durch die Einführung von Menschenrechtsgarantien kann der Fonds hoffentlich eine Hebelwirkung auf private Investitionen ausüben und gleichzeitig unter anderem die Sicherheit der Arbeitnehmer*innen bei der Durchführung von Projekten gewährleisten.

RECHTSSTAATLICHKEIT

Rechtstaatlichkeit (Terry Reintke, Sergey Lagodinsky, Daniel Freund, Alexandra Geese)
Offiziell hat die deutsche Ratspräsidentschaft die Stärkung der EU als Rechts- und Wertegemeinschaft als Priorität benannt; geliefert hat sie nicht. Aufgrund der Drohungen von Polen und Ungarn, dem Mehrjährigen Finanzrahmen nicht zuzustimmen, hat sie einen bis zur Funktionslosigkeit verwässerten Vorschlag für eine Rechtsstaatlichkeitskonditionalität präsentiert, mit dem die Kopplung von EU-Geldern an die Einhaltung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit de facto ausgeblieben wäre. Es ist dem Druck des Europäischen Parlaments und auch uns Grünen zu verdanken, dass letztlich ein Sanktionsmechanismus verhandelt werden konnte, der erstmals eine Verknüpfung des EU-Haushalts mit der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den Mitgliedsstaaten vorsieht.
Grüne Position: Von Beginn an haben wir einen verbindlichen Mechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in allen EU-Mitgliedstaaten gefordert – der die Kommission, den Rat und das Parlament aktiv einbezieht. Darüber hinaus haben wir darauf bestanden, dass der Mehrjährige Finanzrahmen eine starke Rechtsstaatlichkeitskonditionalität enthält, um sicherzustellen, dass EU-Gelder nicht weiter durch Regierungen ausgegeben werden, die Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte verletzen. Der nun ausgehandelte Mechanismus ist nicht so wirkmächtig, wie wir es uns gewünscht hätten. Aber der Kompromiss ist deutlich stärker als das, was die deutsche Ratspräsidentschaft vorgelegt hatte. Die Grundlagen für finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit Füßen treten, sind damit gelegt. Jetzt müssen Kommission und Rat unter Beweis stellen, dass der Sanktionsmechanismus auch zur Anwendung kommt. Wir werden den Druck dahingehend aufrecht erhalten.

LANDWIRTSCHAFT

 

Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik, GAP (Martin Häusling, Anna Deparnay-Grunenberg)
Im Oktober haben sowohl das Europäische Parlament als auch die Agrarminister*innen der EU- Mitgliedstaaten ihre Position zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik beschlossen. Von einem“Systemwechsel” kann keine Rede sein – und bedauerlicherweise war nicht erkennbar, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft für mehr eingesetzt hätte. Geht es nach den Agrarminister*innen, sollen auch künftig rund zwei Drittel der Agrargelder als Hektarzahlungen ohne nennenswerte Auflagen an die europäischen Landwirt*innen verteilt werden. 20 Prozent der Gelder sollen zwar an so genannte Eco- Schemes gebunden werden, aber erst nach einer Testphase von zwei Jahren. Diese Eco-Schemes sind für die Bauern zudem freiwillig, nur für die Länder verpflichtend, aber völlig unambitioniert. Und die Ziele der Biodiversitäts- und der Farm-to-Fork-Strategien werden ignoriert. Dennoch präsentiert sich Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner öffentlich als Verteidigerin verpflichtender Umweltambitionen bei den GAP-Verhandlungen. Dieses Versteckspiel macht einen politischen Dialog kompliziert, wenn nicht gar kaum möglich.
Grüne Position: Die grünen Forderungen an die GAP-Reform haben wir in einem Positionspapier zusammengefasst: https://gruenlink.de/1uom. Außerdem fordern wir die Bundesregierung auf, bei der Umsetzung der GAP-Reform in nationale Politik über die völlig unzureichenden Umweltauflagen hinausgehen – und so die Biodiversitäts- und Klimaziele einzuhalten.

COVID-19-PANDEMIE

Eindämmung der Covid-19-Pandemie (Jutta Paulus, Anna Cavazzini)
Obwohl die deutsche Ratspräsidentschaft in ihrem Programm die dauerhafte Überwindung der Pandemie als Leitgedanken anführt, hat sie keine treibende Rolle bei der Koordinierung der Corona-Maßnahmen übernommen und monatelang keine Aktion gezeigt. Der Forderungskatalog des Europäischen Parlaments wurde nicht übernommen, der Vorschlag der Kommission verwässert. Die Entscheidung über Einreisebeschränkungen liegt gemäß geltender Rechtslage bei den Mitgliedstaaten, aber die Ratspräsidentschaft hat nicht auf gemeinsame Kriterien hingewirkt. Auch für Tests und Quarantäne gelten unterschiedliche Bestimmungen. Eine enge Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) bleibt weiterhin aus. Die deutsche Bundesregierung hat keinen Druck auf die Mitgliedstaaten ausgeübt, um das gemeinsame Gesundheitsprogramm EU4Health ausreichend zu finanzieren. Eine interoperable App ist noch immer nicht in Sicht. Überdies unterminiert die Bundesregierung die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen und Medikamenten, indem sie eigene Verträge mit Pharmaunternehmen abschließt. Damit schwächt sie die Verhandlungsposition der EU.
Grüne Position: Europa kann die Pandemie nur gemeinsam überwinden. Die EU muss alles unternehmen, um Grenzschließungen und eine erneute Unterbrechung der Lieferketten wie im Frühjahr zu verhindern. Wir fordern die Mitgliedstaaten deshalb auf, ihre Koordinierung weiter voranzutreiben. Zukünftig sollte die EU eine europäische Task Force für Gesundheit einrichten, um auf Ausbrüche zu reagieren. Statt die Entwicklung von Impfstoffen nur für Europa voranzutreiben, braucht es eine Stärkung der WHO.

UMWELT

 

CO2-Emissionen im Schiffsverkehr (Jutta Paulus)
Der Seeschiffsverkehr ist verantwortlich für hohe Treibhausgasemissionen – muss aber in keinem Land der Welt eine Brennstoffsteuer zahlen, Effizienzmaßnahmen ergreifen oder gar bindende Klimaziele erfüllen. Mitte September hat das Europäische Parlament deshalb seine Position zur Änderung der Verordnung über Schiffsemissionen verabschiedet. Die deutsche Ratspräsidentschaft hingegen hat noch keine Position der Mitgliedstaaten im Rat vorangetrieben. Es gibt noch nicht einmal einen Zeitplan für das weitere Gesetzgebungsverfahren. Damit stocken die weiteren Verhandlungen. Die Einhaltung der in der Parlamentsabstimmung im September beschlossenen Termine wird zunehmend unwahrscheinlich.
Grüne Position: Die starke Verhandlungsposition des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verordnung über Schiffsemissionen ist ein grüner Erfolg. Der Schiffsverkehr soll demnach ab 2022 in den europäischen Emissionshandel einbezogen werden. Reedereien sollen zudem verpflichtet werden, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 2018/19 zu verringern, bezogen auf transportierte Menge und gefahrene Seemeilen.

Verbot von Bleimunition (Martin Häusling, Sven Giegold)
Durch das Blei in Jagdmunition verenden in der EU jährlich etwa eine halbe Million Wasservögel an einer Bleivergiftung – und vergiften dann seltene Greifvögel. Auch über verzehrtes Wild gelangt Blei aus der Munition bis zum Menschen, mit schweren Gefahren für die Gesundheit. Im Rat verhinderte Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Juli die Abstimmung zum Verbot von Bleimunition, um eine Verlängerung der Auslaufzeit bleihaltiger Munition zu erzwingen. Unterstützt wurde sie dabei seitens der deutschen Munitionsindustrie. Erst im September und aufgrund von großem gesellschaftlichem Druck wurde das Ende der Bleimunition in Feuchtgebieten eingeleitet.
Grüne Position: Das Verbot in Feuchtgebieten kann nur ein erster Schritt sein. Wir fordern deshalb ein schnellstmögliches Totalverbot. Schließlich machen Feuchtgebiete nur zwei Prozent aller Jagdgebiete in der EU aus. Und längst gibt es Alternativen ohne giftiges Blei. Weitere Informationen zum Verbot von Bleimunition: https://gruenlink.de/1up0.

Vertragsverletzungsverfahren im Umweltbereich (Sven Giegold)
Die Bundesregierung missachtet seit Jahren EU-Recht zur Luft- und Gewässerqualität, zum Schutz von besonders bedrohten Tierarten, zum Einsatz von Pestiziden, zum Tierschutz und in vielen anderen Bereichen. Entsprechend muss Deutschland auch weiterhin in diversen Rechtsbereichen durch Vertragsverletzungsverfahren zur Einhaltung von EU-Umwelt- und Naturschutzrecht genötigt werden. Allein auf dem Gebiet Umwelt und Energie/Klima laufen zurzeit 22 Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Hinzu kommt, dass nicht nur heute geltende Regeln zum Leid unserer Gesundheit und der Natur nicht korrekt umgesetzt werden; es ist schon jetzt abzusehen, dass die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen nicht reichen werden, um bis zum Ende des Jahrzehnts die Bestimmungen der europäischen Wasserrahmenrichtlinie und Luftqualitätsrichtlinie einzuhalten.

Biodiversität, Naturschutz (Jutta Paulus, Martin Häusling, Anna Deparnay-Grunenberg)
Im Mai hat die Europäische Kommission ihre Biodiversitätsstrategie veröffentlicht. Darin werden mehrere konkrete Ziele genannt, mit denen dem Artensterben Einhalt geboten werden soll. Unter der Leitung von Umweltministerin Schulze hat der Rat der Mitgliedstaaten einen Beschluss gefasst, in dem sämtliche Ziele der Biodiversitätsstrategie unterstützt werden. Darüber hinaus wird explizit der “one health approach” gefordert; vereinfacht gesprochen: gesunde Umwelt, gesunde Menschen. Allerdings passt die in den Schlussfolgerungen festgelegte Forderung nach substanzieller Finanzierung von Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität im Rahmen des EU-Haushalts nicht zum Verhalten in den Haushaltsverhandlungen, wo eine entsprechende Budgetierung seitens der deutschen Ratspräsidentschaft verwehrt wird.

Atomenergie (Jutta Paulus)
Die Bundesregierung hat keinerlei Anstrengung unternommen, das “Fenster der Möglichkeiten” zu nutzen, das sich durch den Ausstieg Großbritanniens geöffnet hatte. Mit Großbritannien verlässt ein Vertragspartner des EURATOM-Vertrags die EU. Die offenkundige Gelegenheit, eine Konferenz der Vertragsstaaten einzuberufen, um die zukünftige Rolle der Atomenergie und ihrer Hinterlassenschaften in der EU zu beraten, wurde von der Bundesregierung nicht einmal in Erwägung gezogen. Dabei wird das Problem der Endlagerung immer drängender. Bislang fehlt nicht nur eine abgestimmte Herangehensweise, sondern auch die Sicherstellung grenzüberschreitender Bürger*innenbeteiligung. Ebenso hat die Bundesregierung nichts unternommen, um den Angriffen auf die bereits beschlossene EU-Taxonomie (die regelt, welche Anlagen und Finanzinstrumente als “nachhaltig” gelten, unter Ausschluss der Atomenergie) entgegenzutreten.

VERKEHR

Bahnfahrgastrechte (Anna Deparnay-Grunenberg)
Unter der Überschrift “große Ankündigungen, wenig Handlung im Ergebnis” lässt sich die Performance der deutschen Ratspräsidentschaft im Bereich der Bahnfahrgastrechte zusammenfassen. Zum Teil sind infolge der jüngsten Reform klare Rückschritte zu verzeichnen, wie die Einführung einer Neuregelung im Fall “höherer Gewalt”. Aber auch bei den Durchgangstickets oder einer Vereinheitlichung des Buchungssystems wurden kaum Fortschritte gemacht. Der Trilog zwischen Europäischem Parlament, Kommission und den Mitgliedstaaten wurde vorschnell beendet. Das Ergebnis ist nicht zufriedenstellend.
Grüne Position: Für eine nachhaltige Mobilität braucht es eine signifikante Verlagerung auf die Schiene. Wir machen uns deshalb u.a. dafür stark, dass die Bahninfrastruktur in Europa viel stärker über nationale Grenzen hinweg miteinander vernetzt wird. Weitere Informationen zu den grünen Konzepten für Mobilität auf der Schiene: https://gruenlink.de/1up9.

 

KOHÄSIONS- UND STRUKTURPOLITIK

 

Gemeinsame Bestimmungen für sieben Fonds (Niklas Nienaß)

Die Fragmentierung der Vorschriften über EU-Fonds, deren Mittel in geteilter Verantwortung zusammen mit den Mitgliedstaaten verwaltet werden, erschwert die Programmverwaltung wie auch die Beantragung von EU-Finanzierung. Die Verordnung über gemeinsame Bestimmungen für sieben EU-Fonds (darunter die Kohäsionsfonds, der Europäische Fonds für regionale Entwicklung EFRE und der Europäische Sozialfonds ESF+) soll Abhilfe schaffen und gleichzeitig neue politische Prioritäten integrieren. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat einen Fokus auf diese Verordnung gelegt und treibt den Gesetzgebungsprozess voran. Ein Abschluss bis Ende des Jahres scheint möglich.
Grüne Position: Wir setzen uns in den Verhandlungen vor allem dafür ein, dass die Bestimmungen ökologischer werden (z.B. durch eine Klimaquote bei der Verausgabung der Mittel bzw. der Auswahl der zu fördernden Projekte) sowie für ein starkes Partnerschaftsprinzip, um Akteur*innen vor Ort einzubeziehen und mehr Mitbestimmung der lokalen Ebene zu fördern.

 

SOZIALES EUROPA

 

Fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie (Katrin Langensiepen)
Seit über zehn Jahren wird die fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie durch Deutschland im Rat blockiert. Ziel der Richtlinie ist es, Menschen diskriminierungsfreien Zugang zu Waren und Dienstleistungen zu garantieren – ungeachtet ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, der sexuellen Orientierung oder Identität. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat nichts dazu beigetragen, diesen gordischen Knoten zu lösen.
Grüne Position: Wir setzen uns für die Verabschiedung der fünften Antidiskriminierungsrichtlinie ein. Die deutsche Ratspräsidentschaft hätte vor diesem Hintergrund ein positives Signal gegen Diskriminierung und für alle Menschen mit Behinderung in Europa senden können. Diese wichtige Chance hat sie verpasst.

 

EU-Rahmen zur Grundsicherung, Mindestlohnrichtlinie (Katrin Langensiepen, Terry Reintke)
Die deutsche Ratspräsident ist ihrem Versprechen nachgekommen, einen Ratsbeschluss für einen EU-Rahmen zur Grundsicherung zu fassen. Dieser ist bitter nötig, um dort die Lücken zu schließen, wo Menschen keine oder keine angemessene Absicherung haben. Derweil hat die Kommission einen Richtlinienentwurf für einen europäischen Mindestlohn vorgelegt. Inhalt des Vorschlags sind Minimalstandards und einheitliche Kriterien für die Höhe EU-weiter Mindestlöhne. Die Kommission fordert die EU-Regierungen u.a. auf, in Verhandlungen über Mindestlöhne die Sozialpartner und Gewerkschaften einzubeziehen sowie Lücken zu schließen, wo keine Tarifregeln greifen. Statt aber Minimalstandards zu definieren, überlässt sie alles dem guten Willen der Mitgliedstaaten.
Grüne Position: Das Recht auf eine existenzsichernde Entlohnung muss für alle in der EU gelten. Der Vorschlag der Kommission zu EU-weiten Mindestlöhnen ist dahingehend ein erster Schritt. Bei den Verhandlungen über Mindestlöhne und Tarife müssen aber auch Nichtregierungsorganisation mit an den Tisch. Zudem bleibt die Europäische Kommission mit ihrem Vorschlag hinter einem existenzsichernden Lohn zurück. Eine Armutsgrenze von 60 Prozent schützt nicht vor Armut, wenn hohe Lohnungleichheit die mittleren Einkommen nach unten drückt. Wir fordern deshalb eine Strategie zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sowie zu einer EU-weit geltenden Grundsicherung.

 

FINANZEN

 

Bekämpfung von Steuerflucht und Steuervermeidung von Großunternehmen (Sven Giegold)
Im Rat der Mitgliedsländer sind fünf wichtige Vorschläge der EU-Kommission zur Bekämpfung von aggressiver Steuervermeidung blockiert. Bisher hat die deutsche Ratspräsidentschaft hier nichts erreicht. Blockiert sind weiterhin und trotz leerer Kassen der Mitgliedsländer: die Digitalsteuer; die Finanztransaktionssteuer; eine gemeinsame, konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Unternehmenssteuer; die Reform der Umsatzsteuer zur Verhinderung von Steuerbetrug; und die länderbezogene, öffentliche Steuertransparenz von Großunternehmen.

 

Öffentliche länderbezogene Berichterstattung (public country-by-country reporting) (Sven Giegold)
Bis vor Kurzem gab es noch keine Mehrheit für den Vorschlag einer öffentlichen länderbezogenen Berichterstattung im Ministerrat. Das hat sich nun aber geändert. Es liegt deshalb an der deutschen Bundesregierung, den Vorschlag auf die Agenda der zuständigen Ratsformation (COMPET) zu setzen und dann zur Abstimmung zu bringen. Die Federführung liegt bei Justizministerin Lambrecht. Finanzminister Scholz unterstützt den Vorschlag, Wirtschaftsminister Altmaier ist dagegen.
Grüne Position: Wie das Europäische Parlament unterstützen auch wir den Vorschlag der Europäischen Kommission, eine länderbezogene Berichterstattung einzuführen. Diese ist Teil der grünen Forderungen für eine gerechtere Besteuerung von Unternehmen.

Goldene Pässe / Zypern (Sven Giegold)
Seit Jahren verkaufen Länder wie Zypern und Malta Pässe und Aufenthaltsgenehmigungen unter anderem an Kriminelle, was mit erheblichen Sicherheitsrisiken einhergeht. Die Europäische Kommission hat vor diesem Hintergrund gerade ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Zypern und Malta eingeleitet. Der Verkauf von Visa soll aber weitergehen. Die deutsche Bundesregierung schweigt.
Grüne Position: Der Rat sollte sich mit diesem Themenkomplex befassen. Gemeinsame Regeln für die Vergabe von Bürgerrechten sowie ein Ende sogenannter Goldener Visa und Pässe sind schon lange grüne Forderung und auch Position des Europäischen Parlaments.

 

Bekämpfung von Geldwäsche (Sven Giegold)
Der Rat steht kurz vor Abschluss seiner Schlussfolgerungen zur Geldwäschebekämpfung als Reaktion auf den Aktionsplan der Europäischen Kommission. Während die Vorschläge zur geplanten Geldwäsche-Verordnung und der gemeinsamen Direktaufsicht für bestimmte Hochrisiko-Akteure gut klingen, lässt der Kompromiss der deutschen Ratspräsidentschaft bei der gemeinsamen Verdachtsmeldestelle (EU-FIU) Ambition vermissen. Anders als das Europäische Parlament unterstützt der Rat keine europäische Finanzpolizei, die für die Bekämpfung großer Fälle von Finanzkriminalität in Europa dringend erforderlich ist.
Grüne Position: Statt lediglich die nationalen Meldestellen zu koordinieren, braucht es eine eigenständige Verdachtsmeldestelle (EU-FIU) mit direkten Kompetenzen, die bei grenzüberschreitenden Fällen selbst aktiv werden kann.

 

TRANSPARENZ

 

EU-Transparenzregister (Daniel Freund)
Gegen Widerstand in der Bundesregierung (BMWi) hat der Ständige Vertreter in Brüssel die Veröffentlichung seiner Lobbytreffen durchgesetzt. Auch hat die Bundesregierung in Reaktion auf grüne und zivilgesellschaftliche Kritik auf ein Sponsoring ihrer Ratspräsidentschaften durch Konzerne verzichtet. Andererseits: In den Verhandlungen zum EU-Transparenzregister weigert sich die deutsche Bundesregierung, für die Ständigen Vertretungen verbindliche europäische Regeln für Lobbytransparenz zu schaffen. Angekündigte nationale Regeln wurden noch nicht vorgelegt. Die Bundesregierung verhindert so weitergehende Lobbytransparenz aller Mitarbeiter*innen der ständigen Vertretung, wie sie die niederländische und irische Ständige Vertretung bereits umsetzen.
Grüne Position: Wir fordern, dass das Lobbyregister für alle an Gesetzgebungsprozessen beteiligten Personen verpflichtend wird, um noch mehr Transparenz zu schaffen. Die Lobbytreffen sollten jedem Gesetzentwurf als Legislativer Fußabdruck angehängt sein – damit nachvollziehbar ist, welche*r Lobbyist*in an welchem Gesetz mitgewirkt hat. Die europäischen Transparenzregeln müssen auch für die Mitgliedstaaten im Rat und für ihre Botschafter*innen und deren Mitarbeiter*innen gelten.

 

FLUCHT UND MIGRATION

 

Massenlager für Geflüchtete an EU-Außengrenzen (Erik Marquardt)
Nach dem Brand in Moria kam es zu keiner koordinierten Umverteilung der Geflüchteten. Die obdachlosen Menschen wurde in ein neues Moria auf einer alten Schießanlage verfrachtet, wo die Lebensbedingungen noch schlechter sind. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat es nicht geschafft, auf eine Verteilung und ein Ende der Massenlager an den EU-Außengrenzen hinzuwirken.
Grüne Position: Die Grünen haben die sofortige Evakuierung und Umverteilung der Geflüchteten aus Moria gefordert: https://gruenlink.de/1up5.

 

Gemeinsames Europäisches Asylsystem (Erik Marquardt)
Die Arbeit zum Asyl- und Migrationspakt steckt erst in den Anfängen, allerdings ist eine Verschlechterung des europäischen Asylrechts zu befürchten. Die deutsche Bundesregierung befürwortet es, dass Schutzsuchende künftig massenweise unter haftähnlichen Bedingungen in Grenzverfahren abgefertigt werden.
Grüne Position: So werden weitere Morias geschaffen, statt sie zu verhindern. Schutzsuchende müssen möglichst rasch von den Außengrenzen umverteilt werden und schnelle, faire, rechtsstaatliche Verfahren erhalten. Weitere Informationen: https://gruenlink.de/1up4. Unsere Vorschläge für ein gerechtes und effizientes Asylsystem in Europa haben wir zudem in diesem Positionspapier dargelegt: https://gruenlink.de/1urj.

Asyl- und Migrationsfonds (Erik Marquardt)
Bei den laufenden Trilogverhandlungen mit dem Ministerrat über den Asyl- und Migrationsfonds stellt sich die deutsche Ratspräsidentschaft gegen eine direkte Förderung aufnahmebereiter Kommunen durch die EU.
Grüne Position: Kommunen, die aufnehmen wollen, sollen helfen können und unterstützt werden. Solidarität soll durch finanzielle Anreize gefördert werden.

 

EU-AFRIKA

 

EU-Afrika (Pierrette Herzberger-Fofana, Erik Marquardt)

Für die EU-Afrika-Beziehungen ist 2020 ein wichtiges Jahr. Die deutsche Bundesregierung hatte vor Beginn der Ratspräsidentschaft angekündigt, Afrika zu einem Fokus ihrer Arbeit zu machen. Aufgrund der Pandemie sowie eines Mangels an kreativer Planung, um nach alternativen Lösungen zu suchen, war die Konsultation mit der Zivilgesellschaft in den Partnerländern jedoch nicht erfolgreich, während wichtige Entscheidungen bei der Entwicklung einer gemeinsamen Strategie für die Europäische und die Afrikanische Union getroffen wurden.

Grüne Position: Die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und der Pariser Klimaziele soll nicht nur mit öffentlichen, sondern auch mit privaten Mitteln finanziert werden. Bei der Vergabe und Umsetzung von Investitionen in Entwicklungsländern sind verbindliche Menschenrechts- und Nachhaltigkeitskriterien sowie Transparenz und ausreichende Kontrollmechanismen unerlässlich. Schädliche Exporte von Elektroschrott oder Magermilchpulver mit pflanzlichen Fetten überschwemmen seit Jahren den afrikanischen Markt – zum Nachteil der lokalen Produktion, der Umwelt und der Gesundheit.

 

EU-CHINA

 

EU-China-Politik (Reinhard Bütikofer)
Im Bemühen um eine gemeinsame China-Politik der EU schafft die Bundesregierung alleine leider mindestens so viele Hindernisse wie die Mitgliedsländer des 17+1-Formats zusammen. Ohne die Abhängigkeit der deutschen China-Politik von den China-Interessen des deutschen Automobilsektors zu brechen, wird eine konstruktive europäisch-eingebundene Haltung gegenüber China für Deutschland immer schwieriger.
Grüne Position: Gemeinsam mit Kolleg*innen aus anderen Fraktionen im Europäischen Parlament prangern wir durch Resolutionen, Briefe an zuständige Kommissionsmitglieder und Op-eds die stets wachsende Zahl von Missständen an: uigurische Zwangsarbeit, Diskussion über das sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz für Hong Kong, Taiwan, 5G-Sicherheit. Dabei sind wir oft führend in einer breiten Fünf-Parteien-Koalition.

 

EU-China-Investitionsabkommen, CAI (Reinhard Bütikofer)
Die deutsche Ratspräsidentschaft, insbesondere die Kanzlerin selbst, hat sich sehr stark für die Beschleunigung der Verhandlungen über ein EU-China-Investitionsabkommen (CAI) und deren Abschluss noch vor Ende des laufenden Jahres engagiert. Sie hat dabei andere Prioritäten gesetzt als die europäischen Institutionen und hat deren Beharren auf wesentlichen chinesischen Zugeständnissen ansatzweise in Frage gestellt. Insgesamt ungünstige Rahmenbedingungen – insbesondere die durch die Covid-19-Krise verursachten Einschränkungen – haben den Erfolg der sehr persönlichen Agenda, die die Kanzlerin zu diesem Thema vertritt, begrenzt. Faktisch hat die Bundesregierung Einfluss auf Europas Chinapolitik eingebüßt, weil sie den Veränderungen in Chinas Auftreten nach innen wie außen und der daraus resultierenden zunehmenden Kritik am Kurs von Xi Jinping zu wenig Rechnung getragen hat.

 

International Procurement Instrument, IPI (Reinhard Bütikofer)
Gegenüber den Plänen der Europäischen Kommission, durch Einführung eines “International Procurement Instruments” (IPI) insbesondere gegenüber China für mehr Reziprozität in den jeweiligen Ausschreibungsmärkten zu sorgen, hat sich die Bundesregierung leider nach 2012 und 2016 zum dritten Mal als Blockierer erwiesen.

 

5G (Reinhard Bütikofer)
Bei der Frage, ob in der EU chinesische Hochrisikoanbieter wie Huawei und ZTE beim Ausbau der 5G-Netzwerke zugelassen werden sollen, hat die Bundesregierung keine konstruktive Rolle gespielt. Die Kanzlerin persönlich hat versucht, in Deutschland eine Entscheidung zu verhindern, die sich an den Interessen der nationalen Sicherheit ausrichtet. Dementsprechend konnte die Bundesregierung auch im EU-Kontext keine koordinierende Rolle spielen. Die Führung wurde von anderen Ländern übernommen – namentlich von Frankreich, Tschechien, Polen, Dänemark oder Schweden.

 

Klimapolitik (Reinhard Bütikofer)
In Sachen Klimapolitik hat sich die Bundesregierung stark engagiert, China zu einer Erhöhung der Ambitionen zu bewegen. Sie konnte aber, obwohl dies ein Hauptthema des verschobenen Leipziger Gipfels werden sollte, keine praktischen Zugeständnisse erreichen. Für November ist ein erster sogenannter “high-level dialogue” zwischen der EU und China zu Klima und Umwelt geplant.

 

Menschenrechte und China (Reinhard Bütikofer)
In puncto Menschenrechtsfragen und China ist die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft gemischt. Allzu oft haben klare Worte bezüglich der Entwicklung in Hongkong und in Xinjiang, in Tibet und in der Mongolei sowie zur Unterdrückung jeglicher kritischer Äußerung gefehlt. Andererseits wurde das Auslieferungsabkommen mit Hongkong ausgesetzt und der Asylantrag einer Person aus Hongkong angenommen, was dort zu erheblicher Aufmerksamkeit führte.

Grüne Position: Zusammen mit vielen Kolleg*innen aus dem Europäischen Parlament und den Parlamenten anderer Länder haben wir uns für eine stärkere Unterstützung der Hongkonger Demokratiebewegung und für ein konsequentes Vorgehen gegen die brutale Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang sowie gegen die Zulassung chinesischer Exporte aus uigurischer Zwangsarbeit eingesetzt. Wir verfechten die schnelle Verabschiedung eines global wirkenden Menschenrechtssanktionsmechanismus der EU.

 

Weitere Punkte der EU-China-Politik (Reinhard Bütikofer)
Die deutsche Bundesregierung hat versucht, die zeitnahe Aufnahme des transatlantischen Dialogs über China zu blockieren, den der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell der US-Administration angeboten hatte. Allerdings tat sie das erfreulicherweise erfolglos. Positiv zu vermerken ist die klare Solidarität von Außenminister Maas gegenüber tschechischen Politikern, als Chinas Außenminister Wang Yi meinte, diese von deutschem Boden aus scharf kritisieren zu müssen. Positiv ist ebenfalls die Verabschiedung der Indien-Pazifik-Strategie der Bundesregierung. Für die Brüsseler Zusammenarbeit ist zu ergänzen, dass sich Deutschlands EU-Botschafter Clauß gegenüber dem Europäischen Parlament zu Chinafragen sehr kooperativ gezeigt hat. Weitere Informationen: Für eine neue europäische Taiwan-Politik spricht sich Reinhard Bütikofer u.a. in diesem Meinungsbeitrag aus https://gruenlink.de/1upb.

 

INTERNATIONALES

 

Sanktionsmechanismus für Menschenrechtsverletzungen (Hannah Neumann)
Die deutsche Bundesregierung hat die Verhandlungen über den Sanktionsmechanismus für Menschenrechtsverletzungen im Rat für Auswärtige Angelegenheiten vorangetrieben, sodass im Dezember hoffentlich die Finalisierung erfolgt.
Grüne Position: Der Schutz und die Förderung von Menschenrechten weltweit sollte noch stärker als bisher für das außenpolitische Handeln der EU maßgeblich sein. Dafür braucht es auch konkrete Werkzeuge. Daher haben wir den Sanktionsmechanismus für Menschenrechtsverletzungen im Europäischen Parlament angestoßen. Es wäre wünschenswert, wenn Entscheidungen des Mechanismus’ mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden könnten.

 

Strategischer Kompass (Hannah Neumann)
Der sogenannte strategische Kompass wurde auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft geschaffen. Dieses neue sicherheitspolitische Grundlagendokument soll klare, umsetzbare strategische Ziele für eine global handelnde EU formulieren und dafür sorgen, dass die EU im Fall einer Sicherheitskrise schneller handlungsfähig ist. Gut ist, dass über den Prozess des strategischen Kompasses eine Diskussion unter den Mitgliedstaaten über die Umsetzung der globalen Strategie der EU angestoßen wurde. Allerdings fehlt dem Prozess die nötige Transparenz. Aspekte wie Prävention, Mediation, der Ausbau der zivilen Sicherheitspolitik (“civilian CSDP”) und Rüstungsexportkontrolle drohen zudem, zu kurz zu kommen. Ob der strategische Kompass ein Erfolg wird, hängt schließlich auch vom Ergebnis des Prozesses ab, der noch andauert.

 

Krieg in Libyen (Hannah Neumann)
Die deutsche Bundesregierung hätte die Chance gehabt, die Präsidentschaft zu nutzen, um Konfliktherde in der Nachbarschaft wie den Krieg in Libyen engagiert anzugehen. In diesem Bereich gab es jedoch keine nennenswerten Fortschritte.
Grüne Position: Der Krieg in Libyen geht uns auch hier in Europa an. Die EU ist bereits involviert, jedoch ohne ernsthaftes Engagement für eine Friedenslösung. Die gemeinsame Position der EU besteht nur auf dem Papier: Offiziell unterstützt die EU die von den Vereinten Nationen anerkannte libysche Regierung in Tripolis und den UN-Friedensprozess; tatsächlich macht jedoch jeder Mitgliedstaat, was er will. Die EU-Mission zur Umsetzung der Waffenembargos hat ein mangelhaftes Mandat und kann dieser Aufgabe nicht gerecht werden; Rüstungsexporte aus EU-Mitgliedstaaten und durch Embargobrecher gehen weiter. Wir brauchen dringend eine gemeinsame europäische Strategie.

 

Die EU als Verteidigerin der Menschenrechte (Hannah Neumann)
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat kaum auf die immer ernstere Lage für Menschenrechtsverteidiger*innen reagiert. Das außenpolitische Instrument im Mehrjährigen Finanzrahmen soll drastisch gekürzt werden. Die Ratspräsidentschaft verpasst hier eine Chance: Die EU hätte ein globaler Akteur werden können, der Standards setzt und anmahnt.
Grüne Position: Die Rolle der EU ist es, Kämpfer*innen für Demokratie und Menschenrechte zu unterstützen und zu schützen. Ohne Menschenrechtsverteidiger*innen können wir nichts tun, wenn es darum geht, die Menschenrechte weltweit zu fördern. Deshalb fordern wir u.a. Visa-Erleichterungen, damit Menschenrechtsverteidiger*innen leichter in der EU Zuflucht finden können. Außerdem setzen wir uns für eine Aufstockung des Finanzinstruments zur Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten (EIDHR) ein.

 

Verhältnis zu Russland (Sergey Lagodinsky)
Anlässlich der Vergiftung von Alexei Nawalny hat die deutsche Ratspräsidentschaft rechtzeitig Position bezogen und rhetorisch scharfe Signale gesetzt. Der Einsatz der Sanktionen hat zwar nur einen überschaubaren Kreis von Adressaten betroffen; allerdings war die Zielrichtung bei der Auswahl der Beteiligten aus dem Putin-Umfeld richtig. Hier ist es der Ratspräsidentschaft gelungen, eine einheitliche europäische Position aufzubauen. Kritikwürdig ist, dass es nicht zu einer strategischen Neujustierung der EU-Russland-Beziehungen kam, auch mit Blick auf große Wirtschaftsprojekte wie Nord Stream 2 sowie im Umgang mit dem Vermögen korrupter Politiker*innen aus Russland in der EU. Bleibt abzuwarten, ob es dazu noch kommt.
Grüne Position: Das unsolidarische und klimaschädliche Projekt Nord Stream 2 sollte endlich endgültig gestoppt werden. Außerdem wollen wir alle wirtschaftlichen Großprojekte mit russischen staatlichen und staatsnahen Partner*innen auf ihre Vereinbarkeit mit Menschenrechten, dem Prinzip innereuropäischer Solidarität und Antikorruption hin überprüfen. Wir wenden uns gegen jede Verletzung der Grund- und Menschenrechte von Aktivist*innen, Journalist*innen, Oppositionellen und Minderheiten in Russland. Gemeinsam mit unseren russischen Partner*innen fordern und fördern wir die stärkere Kooperation mit demokratischen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Das destruktive Handeln Putins zeigt, dass er kein Interesse an einem starken, geeinten Europa hat. Darauf müssen wir uns noch besser einstellen.

 

Verhältnis zur Türkei (Sergey Lagodinsky)
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat versucht, dem krisenhafte Verhältnis zur türkischen Regierung mit einer positiven Agenda entgegenzutreten. Die Erfolge der Vermittlungsbemühungen zwischen Griechenland/Zypern und der Türkei waren aber nicht von Dauer und wurden von den beiden Parteien schon kurz danach torpediert. Der Versuch einer Dialog- statt Sanktionslösung im Verhältnis gegenüber der Türkei ist durch die türkische Weigerung und Provokationen grandios gescheitert. Die Frage von Demokratie und Menschenrechten in der Türkei scheint darüber in den Hintergrund getreten zu sein. Zudem belastet die Eskalation des Präsidenten Erdoğan gegenüber Frankreich die EU-Türkei-Beziehung enorm und macht eine positive Agenda unmöglich.
Grüne Position: Wir fordern, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei weiterhin eingefroren zu lassen. Wir stehen fest an der Seite der demokratischen Bürger*innen und pro-europäischen Zivilgesellschaft der Türkei. EU-Beitrittshilfen für die Türkei müssen stark reduziert und ausschließlich zur Förderung von Zivilgesellschaft, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in der Türkei eingesetzt werden.

 

Westbalkan (Viola von Cramon)
Die Hoffnungen, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft und Kanzlerin Merkel selbst für die Visaliberalisierung für den Kosovo einsetzen würden, sind bitter enttäuscht worden. Die Kanzlerin hat geschwiegen und war auch nicht bereit, die angekündigte deutsch-französische Initiative anzustoßen. Es gibt nach wie vor kaum Hoffnung auf eine EU-Perspektive, und die Glaubwürdigkeit europäischer Politik ist auf dem Westbalkan aktuell im Keller.
Grüne Position: Die EU steht in der politischen Verantwortung, das Vertrauen in das Beitrittsversprechen nicht zu enttäuschen und gleichzeitig den notwendigen Reformprozess in den Ländern des Westbalkans mitzugestalten.

 

Östliche Partnerschaft (Viola von Cramon)
In Bezug auf Belarus ist die deutsche Bundesregierung viel zu defensiv aufgetreten. Angela Merkel und die deutsche Ratspräsidentschaft waren nicht auf Seiten der Verfechter substanziellerer Sanktionen und einer längeren Sanktionsliste. Ernsthafte Bemühungen zur Lösung der Krise in Berg-Karabach waren seitens der deutschen Ratspräsidentschaft nicht erkennbar. Die Passivität der Ratspräsidentschaft und der EU hat unter den Konfliktparteien zu großer Unzufriedenheit geführt.
Grüne Position: Wir fordern eine harte Sanktionsliste in Bezug auf Belarus. Europäische Corona-Beihilfen oder andere Wirtschaftshilfen der EU müssen bei den Menschen in Belarus ankommen. Zudem braucht es eine internationale Untersuchungskommission im Rahmen des Mandats des UN-Sonderberichterstatters gegen Folter.