Sven Giegold

Erhöhung von Hartz IV: Grundrechte kennen keinen Stufenplan

Die Grüne Bundesdelegiertenkonferenz hat heute einen wirklich starken Beschluss für eine gerechte Sozialpolitik gefasst. Der Antrag positioniert uns Grüne als sozial engagierte Partei, die aber nichts verspricht, was letztlich nicht finanzierbar ist. Dazu wollen wir u.a . den Hartz IV-Regelsatz direkt auf etwa 420 € erhöhen. Ursprünglich wollte der Bundesvorstand das Ziel lediglich in einem Stufenplan erreichen, um die Kosten zu begrenzen. Dagegen wendet sich ein Änderungsantrag, den ich mit auf den Weg gebracht hatte. Dieser Antrag wurde modifiziert, aber in der Substanz nicht abgeschwächt, vom Bundesvorstand übernommen, so dass es letztlich zu keiner Abstimmung kam. Damit ist klar: Wenn wir Grünen 2013 an die Regierung kommen, werden wir uns für eine deutliche Erhöhung des Existenzminimums einsetzen.

Der derzeitige Hartz 4-Regelsatz ist verfassungswidrig – er entspricht nicht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG.). Das ändern auch die bisherigen von Bund und Ländern beschlossenen Reformen und Erhöhungen nicht. Mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundesverfassungsgericht vorgegeben, dass bei der Berechnung „alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen“ sind. Willkürliche Festlegungen müssen ausgeschlossen sein. Kommt man diesen Forderungen nach, ergibt sich für das Jahr 2012 für eine alleinstehende Person ein Regelsatz von rund 420 €. Eine direkte dementsprechende Erhöhung muss eine Priorität Grüner Regierungsbeteiligung ab 2013 sein.

Besonders schwerwiegend ist die mangelhafte Zusammensetzung der Referenzgruppe der Einkommensschwächsten, deren Ausgaben momentan als Maßstab für die Regelsätze dienen. Aus dieser Gruppe müssen die „Aufstocker“, die bis zu 100 € verdienen sowie die „verdeckt Armen“, die Leistungsansprüche haben, aber nicht wahrnehmen, herausgenommen werden. Es ist absurd, das Existenzminimum auf der Grundlage eines Personenkreises zu bestimmen, dessen Nettoeinkünfte teilweise selbst nicht für den Lebensunterhalt ausreichen.

Beseitigt man diesen Fehler, hätte der Regelsatz für das Jahr 2012 bei 391 € liegen müssen (Berechnung aus 2011). Das war das Niveau, das der Antragsentwurf des Bundesvorstands sofort zusagen wollte. Für ein menschenwürdiges Existenzminimum reicht aber auch das nicht aus. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil 2010 betont, dass es nicht nur um die physische Existenz (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) geht, sondern auch um die „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Deshalb müssen auch fehlgeleitete, teilweise unbegründete Kürzungen und Streichungen wichtiger Ausgabepositionen korrigiert werden, die Voraussetzung für eine angemessene Teilhabe sind. Dazu gehören unter anderem Mobilitätsdienstleistungen, Speisen und Getränke in Cafés oder Imbissen, sowie Schnittblumen und Zimmerpflanzen. Zu diesem Urteil ist im April auch das Berliner Sozialgericht gekommen. Auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2008 ergibt sich für 2012 ein Regelsatz von rund 420 €. Diese Berechnung stützt sich auf ein Gutachten der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker und des Juristen Professor Johannes Münder für die Hans Böckler Stiftung. Sie ist nicht verrechnet mit der regulären Anpassung der Regelsätze an die Preis- und Lohnentwicklung.

Nach Schätzungen der Bundesregierung würde eine Anhebung des Regelsatzes für Erwachsene von 374 Euro auf 391 Euro rund 1,2 Mrd. € kosten. Einschließlich zusätzlicher Leistungen für Kinder wird mit Kosten von 1,7 Mrd. € gerechnet. Die angemessene Regelsatzerhöhung auf 420 € kostet laut aktuellen Berechnungen der Grünen Bundestagsfraktion weitere 1,3 Mrd. €. Finanzieren lässt sich das, indem man einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 €/Stunde einführt. Dadurch sinken die Ausgaben für so genannte „Aufstocker“ deutlich, die bislang ergänzende ALGII- Leistungen erhalten.

Laut einer Unterrichtung durch die Bundesregierung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2008 würde schon ein flächendeckender Mindestlohn von 7,50 € im ALGII-Bereich für Einsparungen in Höhe von 1 bis 1,5 Mrd. € sorgen. Inzwischen gibt es deutlich mehr Aufstocker als im Jahr 2008, so dass selbst ein Mindestlohn von 7,50 € wahrscheinlich 1,7 Mrd. € erbrächte. Nicht berücksichtigt sind dabei weitere fiskalische Effekte wie zusätzliche Einnahmen in den Sozialversicherungen und eventuelle Steuermehreinnahmen. Ebenfalls unberücksichtigt sind so genannte Zweitrundeneffekte durch höhere Binnennachfrage und entsprechende Zusatzeinnahmen bei der Mehrwertsteuer. Die Erhöhung des Regelsatzes sind damit finanzierbar.

2014 werden die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus 2013 vorliegen. Bei der dann zu erfolgenden Neuberechnung der Regelsätze müssen weitere Mängel behoben werden. Fehlerhaft sind beispielsweise die Verkleinerung der Referenzgruppe (15 % statt 20 % der einkommensschwächsten Haushalte) und die unzulässige Einbeziehung von Erwerbstätigen, deren Nettoeinkünfte zwischen 100 € und den Bedarfssätzen liegen. Auch die unzureichende Erfassung des Bedarfs für langlebige Gebrauchsgüter sowie die normativen Abschläge für alkoholische Getränke und für chemische Reinigung gehören auf den Prüfstand. Nur wenn der Zuschnitt der Referenzgruppe die Zusammensetzung des Existenzminimums transparent und realitätskonform ermittelt werden können alle verfassungsrechtlichen Bedenken ausgeräumt werden.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist klar: Jede Festlegung eines Existenzminimums muss auf der Basis eine nachvollziehbaren Berechnung erfolgen. Das bedeutet aber auch, dass wir als Grüne wie alle anderen Akteure ihre Forderungen im Bereich der Regelsätze auf der Basis von Berechnungen begründen können müssen. Eine Berechnung, die zu 391 € führt, für die man sich nicht schämen muss, ist nicht möglich und wurde auch vom Bundesvorstand nicht vorgelegt. Daher ist nur konsequent, dass die Bundesdelegiertenkonferenz nun folgenden Text als Teil eines sehr guten und progressiven Sozialantrags beschlossen hat:

„Wir wollen den Regelsatz für Erwachsene auf 420 EUR erhöhen.

Die Berechnung muss verfassungskonform gestaltet werden – denn Grundrechte sind nicht verhandelbar. Mithin sind zumindest die gröbsten systematischen und inhaltlichen Mängel der schwarz-gelben Regelsatzermittlung zügig zu heilen: Dies bedeutet zum Einen die so genannten ‚verdeckt Armen‘ und ‚kleinen Aufstocker‘ (Zuverdienst bis 100 EUR) aus der Bezugsgruppe, die Maßstab für die Regelsatzberechnung ist, herauszunehmen. Ein verfassungskonformer Regelsatz, die diesen Anforderungen genügt, müsste nach unseren damaligen Berechnungen um 17 Euro höher liegen. Dies bedeute zum Anderen, wenigstens die wichtigsten Ausgabenpositionen einzubeziehen, die für Teilhabe und die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen von Bedeutung sind. Dies bedeutet eine weitere Aufstockung um ca. 30 EUR. Damit müsste der Regelsatz für das Jahr 2012 nach unseren Berechnungen rund 420 EUR betragen. Diese Erhöhung ist strukturell bedingt, sie wird nicht mit der regulären Anpassung (Inflationsausgleich plus Lohnentwicklung) verrechnet. Eine genaue Berechnung der Erhöhung muss 2014 auf Basis der neuen statistischen Daten erfolgen.

Aufbauend auf den Schätzungen der Bundesregierung würde eine Anhebung des Regelsatzes halten wir für finanzierbar, da wir annehmen, dass die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 EUR voraussichtlich allein im Bereich der passiven Leistungen (ALG II) zu Einsparungen in Höhe von 1 bis 1,5 Mrd. EUR führen würde. Dies belegen auch Zahlen aus dem Bundesarbeitsministerium. Damit ist klar: Damit die Anhebung des ALG II auf 420 EUR finanzierbar ist und um zu verhindern, dass immer mehr erwerbstätige Menschen durch Armutslöhne ergänzend ALG II beziehen müssen, gehört die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns unabdingbar zu einer reformierten Grundsicherung dazu. Darüber hinaus müssen Geringverdienerinnen und –verdiener künftige entlastet werden. Die Grüne Bundestagsfraktion erarbeitet hierzu derzeit Modelle.“

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Hintergrundinformationen:

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Februar 2010: http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

Urteil des Berliner Sozialgerichtes vom 25.05.2012: http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/s_55_as_9238.12.html

Gutachten von Irene Becker und Johannes Münder für die Hans-Böckler Stiftung (2011): http://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2011_09_05.pdf

Rubrik: Demokratie & Lobby, Meine Themen

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