Gestern hat der Rat der Mitgliedstaaten eine Änderung des Europäischen Wahlrechts beschlossen. Im November 2015 hatte das Europaparlament dem Rat vorgeschlagen, die Wahlen zum Europaparlament europäischer zu machen. Die wichtigsten Vorschläge des Parlaments waren: ein europäischer Wahlkreis als Grundlage für transnationale Listen, die Pflicht zu europäischen Parteilogos auf Wahlzetteln und Wahlkampfmaterial sowie eine Geschlechterquotierung von Wahllisten. Der Rat hat all dies verworfen und nur die vorgeschlagene Prozenthürde übrig gelassen. Eine Hürde von 2 bis 5 Prozent ist “bis spätestens 2024” für Wahlkreise von mehr als 35 Sitzen einzuführen. Eine Einführung schon zur kommenden Europawahl im Mai 2019 ist in dem Vorschlag nicht ausgeschlossen. Die Entscheidung liegt nun beim Bundestag und gegebenenfalls beim Bundesverfassungsgericht. Das Europaparlament kann den Vorschlag des Rates nur ablehnen oder zustimmen, nicht mehr verändern. Die Abstimmung im Plenum des Europaparlaments kommt voraussichtlich im Juli. Anschließend müssen die Regeln in nationales Recht übertragen werden.
Dazu sagt der Berichterstatter des Europäischen Parlaments für Transparenz, Rechenschaftspflicht und Integrität in den EU-Institutionen, Sven Giegold:
“Der Vorschlag des Rates für eine Änderung des europäischen Wahlrechts bringt weniger, nicht mehr Demokratie. Eine Prozenthürde für die Europawahl ist ein vermeidbarer Eingriff in die Grundrechte. Das Europaparlament hat bewiesen, dass es einzelne Abgeordnete kleiner Parteien gut in unterschiedliche Fraktionen integrieren kann. Es gibt keine Notwendigkeit, das Recht der Wähler zu beschneiden, indem man ihnen verwehrt dass ihre Stimmen an kleine Parteien auch zu Mandaten führen. Eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments geht von Kleinparteien aus Deutschland und Spanien nicht aus. Es ist keine Herabwürdigung des Europaparlaments, die Rolle von Kleinparteien für Bundestag und Europaparlament unterschiedlich zu beurteilen, zumindest solange es keine transnationalen Listen gibt. Denn im Europaparlament sind als einzigartiges internationales Parlament ohne transnationale Listen ohnehin über 150 Parteien vertreten. Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Hürde von fünf und drei Prozent als nationales Gesetz schon verworfen, bevor die Bundesregierung im Rat der EU und über Freunde im Europaparlament jetzt eine Hürde von zwei Prozent über europäisches Recht einzuführen versucht. Der Vorschlag ist der durchsichtige Versuch, Europa ungeliebte Arbeit zu überlassen und schadet dem Ruf der Europäischen Union.
Es ist ein Armutszeugnis, dass die Mitgliedstaaten alle Demokratisierung und Europäisierung der Wahlen verhindern. Anders als eine Prozenthürde würden Transnationale Listen, mehr Sichtbarkeit europäischer Parteifamilien im Wahlkampf und mehr Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf Wahllisten Europa stärker und demokratischer machen. Wir Grünen werden uns dafür einsetzen, den Ratsvorschlag im Verfassungsausschuss und im Plenum des Europaparlaments zurückzuweisen.”
Pressemitteilung des Rates von gestern: http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2018/06/07/european-parliament-elections-council-reaches-agreement-on-a-set-of-measures-to-modernise-eu-electoral-law/
Vorschlag des Europaparlaments vom November 2015: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2015-0395+0+DOC+XML+V0//DE
Unsere Stellungnahme zum damaligen Parlamentsbeschluss: http://www.sven-giegold.de/2015/grosse-koalition-will-ueber-eu-wahlrecht-bundesverfassungsgericht-aushebeln/
INHALTE des Ratsbeschlusses und unsere Bewertung
Artikel 1 – Europaabgeordnete als Repräsentanten aller EU-Bürger – Wie in EP-Vorlage, richtiger Ausdruck der Europäischen Demokratie.
Artikel 3 – Einführung einer verpflichtenden Sperrklausel von 2 bis 5 Prozent (EP hatte 3 bis 5 Prozent vorgeschlagen) für Wahlkreise mit mehr als 35 Sitzen (hat Auswirkungen nur in Spanien und Deutschland, weil Frankreich, Italien und Polen schon Sperrklauseln haben). Die Regeln muss rechtzeitig vor den Wahlen 2024 umgesetzt werden, eine Umsetzung schon vor den Wahlen im Mai 2019 ist aber nicht ausgeschlossen. Diese Grundrechtseinschränkung ist unnötig und deshalb falsch.
Artikel 3 a – Einführung einer Mindestfrist von 3 Wochen für die Einreichung von Kandidatenlisten. Das EP hatte 12 Wochen vorgeschlagen. Eine Einreichungsfrist kann verhindern, dass willkürliche Parteiführer in letzter Minute noch Kandidaten austauschen ist so ein erster Schutz der innerparteilichen Demokratie. 3 Wochen sind aber zu wenig, um den Medien und Wählerinnen und Wählern Zeit zur Prüfung der Kandidaten zu geben.
Artikel 3 b – Mitgliedstaaten können die Abbildung der Namen und Logos der Europäischen Parteien auf Stimmzetteln erlauben. Das EP wollte dies auf Stimmzetteln verpflichtend machen und für Wahlkampfmaterial und besonders Wahlprogramme empfehlen. Die Abschwächung des EP Vorschlages reduziert den Vorschlag zur Feststellung des Selbstverständlichen. Denn ein Verbot gibt es auch jetzt schon nicht.
Artikel 9 – Mitgliedstaaten müssen Maßnahmen gegen doppeltes Abstimmen von Wählern ergreifen und effektive, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für Verstöße verhängen. Das ist ein richtiger Schutz des Prinzips “ein Wähler, eine Stimme”.
Artikel 9 b – Jeder Mitgliedstaat soll eine ausdrücklich zuständige Behörde ausweisen für den Austausch von Daten über Wähler und Kandidaten. Das ist eine hilfreiche Erleichterung für die europäische Zusammenarbeit.
GESTRICHENE VORSCHLÄGE des Parlaments, die der Rat nicht mittragen wollte (leicht gekürzt)
Artikel 2 a – ein gemeinsamer Wahlkreis (EU-weit) für transnationale, europaweite Listen angeführt von Spitzenkandidaten der Parteien für das Amt des Kommissionspräsidenten
Artikel 3 b – Schutz der Wählerverzeichnisse vor Änderungen in letzter Minute für die letzten 8 Wochen vor dem ersten Wahltag
Artikel 3 c – Parteien müssen ihre Kandidaten “in einem demokratischen und transparenten Verfahren” nominieren
Artikel 3 d – Auf Wahllisten “ist für die Gleichstellung von Männern und Frauen zu sorgen”
Artikel 3 f – Spitzenkandidaten der Parteien müssen “spätestens zwölf Wochen vor dem Beginn des Wahlzeitraums” nominiert werden.
Artikel 6 – Europaabgeordnete dürfen nicht zugleich Mitglied eines nationalen oder regionalen Parlaments oder einer nationalen oder regionalen Versammlung mit Gesetzgebungsbefugnissen sein.
Artikel 9 a – Recht aller EU-Bürger, dort zu wählen wo sie einen Wohnsitz haben oder arbeiten, muss von Mitgliedstaaten sichergestellt werden.
Artikel 10 – Ergebnisse sollten EU-weit zeitgleich veröffentlicht werden
Artikel 11 – Das Europaparlament legt den Wahlzeitraum fest. (Der Rat will das Recht bei sich selbst belassen.)