Liebe Freundinnen und Freunde,
Liebe Interessierte,
heute hat das Europäische Parlament eine Resolution zur Corona-Krise verabschiedet. Den Entwurf dieses Antrags hatten die proeuropäischen Fraktionen – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – gemeinsam eingebracht. Damit zeigt das Europaparlament, dass es weiterhin beschlussfähig ist, auch wenn die allermeisten Abgeordneten derzeit nicht zu den Parlamentssitzungen reisen können. Das Funktionieren von Demokratie über Grenzen hinweg ist von großer Wichtigkeit. Denn nur europäische Antworten werden aus dieser internationalen Krise führen. Dagegen hat der Rat der Mitgliedsländer in den letzten Wochen gezeigt, dass die Regierungen jeweils nationale Lösungen bevorzugen, auch wenn dies bei anderen EU-Staaten zu Schäden und Kosten führt.
Die Coronakrise wird in ihren wirtschaftlichen und politischen Folgen massiv unterschätzt. Wenn der wirtschaftliche Abschwung noch länger anhält, wird sich die Coronakrise zu einer erneuten Zuspitzung der Finanzkrise ausweiten. Die Möglichkeiten der EU-Staaten, diese Krise zu bekämpfen, sind sehr unterschiedlich. Und mit Italien, Spanien und Frankreich sind ausgerechnet die Staaten besonders von der Coronakrise betroffen, die schon geschwächt aus der Eurokrise hervorgegangen sind. Die gemeinsame Währung und der gemeinsame europäische Markt wird eine länger anhaltende Krise nur überleben, wenn alle Teile Europas ökonomisch mit einem blauen Auge davonkommen. Wenn Italien und andere Länder durch die Coronakrise schwere Arbeitslosigkeit, massenhafte Unternehmensinsolvenzen und neue Armut erleben, wird dies die europäische Einigung insgesamt beschädigen. Schon jetzt ist in Italien nach einer aktuellen Umfrage die Zustimmung zum Austritt aus der EU auf 49% hochgeschnellt. Die europäische Einigung, der europäische Binnenmarkt und die gemeinsame Währung sind aber der wirtschaftliche und politische Ast, auf dem wir alle gemeinsam sitzen. Daher war für uns Grüne der zentrale Maßstab für die Corona-Resolution der Europaparlaments, ob das Europaparlament diese Bedrohung des europäischen Projekts klar benennt und Instrumente finanzieller Solidarität einfordert, die der Größe der Gefahr für Europa angemessen sind. Denn in erster Linie ist diese Krise eine Solidaritätsprobe für Europa.
Dazu ist die gute Nachricht, dass das Europaparlament sich im Gegensatz zur Großen Koalition in Berlin für Coronabonds ausspricht. Und zwar im Rahmen des europäischen Haushalts. Dieser Vorschlag fand auch die Unterstützung der Liberalen und Christdemokraten:
“19. [Das EU-Parlament] fordert die Kommission auf, im Rahmen des neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) ein umfangreiches Konjunktur- und Wiederaufbaupaket für Investitionen zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft nach der Krise vorzuschlagen, das über die bereits ergriffenen Maßnahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Zentralbank hinausgeht; ist der Ansicht, dass dieses Paket gelten sollte, solange die durch die Krise verursachten wirtschaftlichen Störungen andauern; ist der Auffassung, dass die notwendigen Investitionen über einen erweiterten MFR, die bestehenden Fonds und Finanzinstrumente der EU und durch den Haushalt der Union garantierte Konjunkturbonds finanziert werden sollten; ist der Ansicht, dass das Paket nicht mit einer Vergemeinschaftung bestehender Schulden einhergehen sollte und dass es auf künftige Investitionen ausgerichtet sein sollte”
Allerdings wurde mit den Stimmen der rechten Europagegner, der Christdemokraten und der Liberalen unser Änderungsantrag mit 282:326 knapp abgelehnt, der den Weg zu Coronabonds auch jenseits des Wiederaufbaus ebnen sollte:
”…hält es für wesentlich, dass ein wesentlicher Teil der Schulden, die zur Bekämpfung der Folgen der Coronakrise aufgenommen werden, auf EU-Ebene vergemeinschaftet wird, um den Zusammenhalt der Europäischen Union und die Integrität ihrer Währungsunion zu wahren;”
Damit bleibt das Europaparlament in der entscheidenden Frage hinter dem Notwendigen zurück. Denn die hohen neuen Schulden in Südeuropa folgen nicht vor allem aus dem wirtschaftlichen Wiederaufbau, sondern aus den direkten und indirekte Kosten der Krise selbst: Steuereinnahmen brechen ein, Unternehmen müssen staatlich stabilisiert werden, Kurzarbeit finanziert werden, usw. Die Verweigerung von Christdemokraten und Liberalen hier echte Solidarität zu zeigen und diese Anstrengung gemeinsam zu finanzieren, ist ein schwerer europapolitischer Fehler in dieser entscheidenden Frage. Unsere Fraktion hatte vor der Abstimmung klargestellt, dass die Zustimmung zur Resolution als ganzes von dem Erfolg dieses Änderungsantrags abhängig ist.
Dagegen enthält die Resolution zu vielen anderen Fragen wichtige positive Entschließungen:
- der Europäische Green Deal soll im Mittelpunkt des Wiederaufbauprogramms stehen und die Wiederaufbaumaßnahmen sollen im Einklang mit dem Ziel der Klimaneutralität Europas stehen;
- die Forderung nach einem gestärkten EU-Haushalt und gestärkten EU-Eigenmitteln (wie z.B. Steuern und Abgaben, die dem EU-Haushalt zufließen);
- die Forderung nach höherer Eigenkapital-Einzahlung in die Europäische Investitionsbank;
- unterstützt wird die Wiedereingliederung von Lieferketten in die EU und die Steigerung der Produktion wichtiger Produkte wie Arzneimittel, pharmazeutische Inhaltsstoffe, Medizinprodukte, medizinische Ausrüstung und medizinische Materialien in der EU;
- ausdrückliche Kritik an den jüngsten Einschränkungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen und Ungarn samt der Forderung an die EU-Kommission Sanktionen auf den Weg zu bringen;
- kritisiert die Lage auf den griechischen Inseln für die Flüchtlinge, benennt die Ansteckungsrisiken dort und fordert die Situation u.a. über Evakuierung und Umsiedlung (“resettlement”) zu lösen.
Abgelehnt wurde jedoch unser Änderungsantrag, dass die Maßnahmen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau im Einklang mit den Verpflichtungen und Zielen des Klimaschutz-Abkommens von Paris stehen müssen.
Zusammenfassend hat das Europaparlament in vielen Punkten eine fortschrittliche und proeuropäische Resolution beschlossen. Das ging auch auf Vorschläge unserer Grünen Fraktion in den Verhandlungen und Abstimmungen zurück. Das Europaparlament ist weit fortschrittlicher als die Europapolitik der Großen Koalition. Doch in der zentralen Frage, ob wir die Krise auch finanziell solidarisch lösen, hat die Mehrheit sich einer überzeugenden europäischen Antwort verweigert. Daher haben wir Grünen uns mehrheitlich in der Schlussabstimmung enthalten. Unser Votum soll ausdrücken: Diese Resolution ist nicht gut genug. Die wirtschaftliche Krise steht uns erst noch bevor. Nur wenn wir diese Krise von vornherein solidarisch bekämpfen, können wir Europa zusammenhalten. Wir setzen uns weiterhin für wirkliche europäische Solidarität ein!
Mit europäischen Grüßen
Euer und Ihr Sven Giegold
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DOKUMENTATION
Der Text der gesamten Resolution hier:
https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0054_DE.pdf
Zum Nachlesen hier die aus meiner Sicht wichtigsten Abschnitte:
Wiederaufbauprogramm
19. fordert die Kommission auf, im Rahmen des neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) ein umfangreiches Konjunktur- und Wiederaufbaupaket für Investitionen zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft nach der Krise vorzuschlagen, das über die bereits ergriffenen Maßnahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus, der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Zentralbank hinausgeht; ist der Ansicht, dass dieses Paket gelten sollte, solange die durch die Krise verursachten wirtschaftlichen Störungen andauern; ist der Auffassung, dass die notwendigen Investitionen über einen erweiterten MFR, die bestehenden Fonds und Finanzinstrumente der EU und durch den Haushalt der Union garantierte Konjunkturbonds finanziert werden sollten; ist der Ansicht, dass das Paket nicht mit einer Vergemeinschaftung bestehender Schulden einhergehen sollte und dass es auf künftige Investitionen ausgerichtet sein sollte;
22. besteht daher auf der Annahme eines ehrgeizigen MFR, der im Einklang mit den Zielen der Union, den voraussichtlichen Auswirkungen der Krise auf die Volkswirtschaften in der EU und den Erwartungen der Bürger im Zusammenhang mit dem europäischen Mehrwert mit mehr Mitteln ausgestattet ist, der in Bezug auf die Nutzung von Mitteln, um auf Krisen zu reagieren, flexibler und einfacher gestaltet ist und der mit der notwendigen Flexibilität ausgestattet ist; fordert zudem eine Überarbeitung des Vorschlags der Kommission für die Reform des Eigenmittelsystems, um genügend haushaltspolitischen Spielraum zu erhalten und dafür zu sorgen, dass nationale Risiken besser vorausgesehen werden können, dass besser auf sie reagiert werden kann und dass die Mitgliedstaaten ihnen weniger stark ausgesetzt sind; betont, dass neue Eigenmittel für den Haushaltsplan der EU vonnöten wären, um das Konjunktur- und Wiederaufbaupaket zu garantieren;
26. fordert die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets auf, die 410 Mrd. EUR des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit einer spezifischen Kreditlinie zu aktivieren; weist darauf hin, dass diese Krise nicht in die Verantwortung eines bestimmten Mitgliedstaats fällt und dass das Hauptziel darin bestehen sollte, die Folgen des Ausbruchs zu bekämpfen; unterstreicht, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus als eine kurzfristige Maßnahme unmittelbar die vorsorglichen Kreditrahmen auf Länder ausweiten sollte, die Zugang dazu suchen, um kurzfristigen Finanzierungsbedarf für die Bewältigung der unmittelbaren Folgen der COVID-19-Pandemie zu decken, wobei dies mit langfristigen Laufzeiten und wettbewerbsorientierten Preis- und Rückzahlungsbedingungen geschehen sollte, die an die Erholung der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten geknüpft sind;
27. fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, sich rasch auf eine wesentliche Kapitalzufuhr für die EIB zu einigen, damit sie ihre erhebliche Schlagkraft rasch einsetzen kann, um die wirtschaftlichen Auswirkungen von COVID-19 abzuschwächen, was auch die Schaffung eines neuen Kreditrahmens der EIB umfasst, mit dem kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Liquidität garantiert wird;
Green Deal
Der beschlossene Text:
- betont, dass im Mittelpunkt des Konjunktur- und Wiederaufbaupakets der europäische Grüne Deal und der digitale Wandel stehen sollten, damit die Wirtschaft angekurbelt wird, ihre Widerstandsfähigkeit erhöht wird und Arbeitsplätze geschaffen werden und gleichzeitig zum ökologischen Wandel beigetragen wird, eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung – einschließlich der strategischen Autonomie unseres Kontinents – gefördert wird und zur Umsetzung einer Strategie für die Industrie beigetragen wird, mit der die zentralen Industriezweige der EU geschützt werden; unterstreicht, dass die Reaktionen der EU mit dem Ziel, Klimaneutralität zu erreichen, in Einklang gebracht werden müssen;
Der leider abgelehnte grüne Änderungsantrag zur gleichen Ziffer des Antrags:
- betont, dass im Mittelpunkt des Konjunktur- und Wiederaufbaupakets der Europäische Grüne Deal und der digitale Wandel stehen sollten, damit die Wirtschaft angekurbelt wird, ihre Widerstandsfähigkeit erhöht wird und Arbeitsplätze geschaffen werden und gleichzeitig zum ökologischen Wandel beigetragen wird, eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung – einschließlich der strategischen Autonomie unseres Kontinents – gefördert wird, im Einklang mit dem Ziel des Übereinkommens von Paris, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen, zur Umsetzung einer Strategie für die Industrie beigetragen wird und die Bemühungen um eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 °C fortgesetzt werden, um sicherzustellen, dass alle Wirtschaftsbereiche vollumfänglich zum Ziel der EU, Klimaneutralität zu erreichen, beitragen;
- unterstützt die Kommission in ihrem Ziel, eine neue Industriestrategie der EU zu entwerfen, um eine wettbewerbsfähigere und widerstandsfähigere Industrie zu erreichen, wenn es darum geht, globale Schocks zu bewältigen; unterstützt die Wiedereingliederung von Lieferketten in die EU und die Steigerung der Produktion wichtiger Produkte wie Arzneimittel, pharmazeutische Inhaltsstoffe, Medizinprodukte, medizinische Ausrüstung und medizinische Materialien in der EU;
Ungarn und Polen:
- hebt hervor, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union auch künftig gelten muss, die Rechtsstaatlichkeit weiterhin gewahrt werden muss und die Behörden im Zusammenhang mit den Nothilfemaßnahmen dafür Sorge tragen müssen, dass jedermann in den Genuss derselben Rechte und des desselben Maßes an Schutz kommt; betont, dass alle auf nationaler und/oder europäischer Ebene ergriffenen Maßnahmen im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit stehen müssen, unbedingt in einem angemessenen Verhältnis zu den Erfordernissen der Situation stehen müssen sowie eindeutig mit der derzeitigen Gesundheitskrise zusammenhängen, zeitlich begrenzt sein und einer regelmäßigen Überprüfung unterliegen müssen; hält sowohl die Entscheidungen der ungarischen Regierung, den Ausnahmezustand unbefristet zu verlängern, die Regierung unbefristet dazu zu ermächtigen, per Dekret zu regieren, und die Kontrolle der Notfallmaßnahmen durch das Parlament zu schwächen, als auch die Maßnahmen der polnischen Regierung – die einem Urteil des Verfassungsgerichts und gesetzlichen Bestimmungen entgegenstehende Änderung des Wahlrechts –, die darauf abzielen, die Präsidentschaftswahl inmitten einer Pandemie stattfinden zu lassen, was das Leben polnischer Bürger gefährden und das in der polnischen Verfassung verankerte Konzept freier, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahlen untergraben kann, für absolut unvereinbar mit den europäischen Werten;
- fordert die Kommission deshalb auf, schnellstmöglich zu bewerten, ob die Notmaßnahmen mit den Verträgen vereinbar sind, und sämtliche verfügbaren Instrumente und – auch finanziellen – Sanktionen der EU umfassend zu nutzen, um gegen diese schwerwiegenden und anhaltenden Verstöße vorzugehen, und hebt erneut hervor, dass es unbedingt eines EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte bedarf; fordert den Rat mit Nachdruck auf, die Debatten und Verfahren im Zusammenhang mit den laufenden Verfahren nach Artikel 7 wieder auf seine Tagesordnung zu setzen;
Flüchtlinge
50. fordert die uneingeschränkte Achtung der Genfer Konvention und des europäischen Asylrechts; weist darauf hin, dass Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit neue Asylbewerber unter angemessenen hygienischen Bedingungen aufgenommen und medizinisch betreut werden, und bringt deshalb seine tiefe Besorgnis über die Lage von Flüchtlingen und Asylbewerbern zum Ausdruck, die auf den griechischen Inseln ankommen oder in Hotspots und Auffanglagern untergebracht sind und dort keinen Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung haben und besonders gefährdet sind; ist der Ansicht, dass erforderliche Lösungen – wie etwa die vorsorgliche Evakuierung und Umsiedlung von hochgradig Gefährdeten – gefunden werden müssen, damit für die angemessenen Grundvoraussetzungen und für soziale Distanzierung gesorgt ist, um Ansteckungen zu verhindern; betont den wichtigen Beitrag vieler Migranten und ihrer Nachkommen, die sich mit ihrer Arbeitskraft dafür einsetzen, dass zahlreiche wichtige Bereiche in der gesamten EU, insbesondere das Gesundheitswesen und der Pflegesektor, ordnungsgemäß funktionieren;