Sven Giegold

ftd: „In einem Boot mit dem Schweinesystem“

Die Globalisierungskritiker von Attac stecken in der Sinnkrise: Auf einmal wollen sogar Merkel und Sarkozy die Börsensteuer

Nikolai Fichtner, Berlin. Detlev von Larcher hat sich wirklich gefreut, als er am Montag vom Durchbruch bei der Finanztransaktionsteuer hörte. Als Attac-Aktivist kämpft er seit vielen Jahren für die Steuer. Erst gegen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy und jetzt eben mit ihnen. Als die „Frankfurter Rundschau“ bei ihm anrief, sprach Larcher von einem „großen Fortschritt“. Nur mit der Überschrift am nächsten Tag war er nicht so glücklich. „Attac begeistert von Merkel“, stand da auf Seite eins. Denn das ist genau das Problem. Die Forderungen, mit denen Attac bei seiner Gründung vor 14 Jahren noch provozieren konnte, sind heute Mainstream. Und schlimmer noch: Die Politiker, die immer zu den Bösen gehörten, ob Merkel, Sarkozy oder Peer Steinbrück, sitzen auf einmal im selben Boot. „Für viele Attacies mit ihrer ausgeprägten Oppositionsmentalität ist das schwierig“, sagt ein Attac-Veteran. „Auf einmal erfüllt das Schweinesystem die eigenen Forderungen.“

Die Finanztransaktionssteuer war die erste und bekannteste Forderung der Globalisierungskritiker. Die ersten Aktivisten waren zwar Außenseiter, aber dafür neu und sexy. Ihre Ideen von einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte verbreiteten sich noch rasanter als die Globalisierung. G8-Gipfel wurden zu Pilgerstätten des Protests. Die Großdemo gegen den Gipfel in Heiligendamm 2007 war ein Höhepunkt dieser Entwicklung. Danach kam die Krise – nicht nur im Finanzsystem, sondern seltsamerweise auch bei Attac. „Die Domestizierung des Finanzsystems ist dringender denn je“, sagt Sven Giegold, einst Mitgründer von Attac und heute Grünen-Abgeordneter im Europaparlament. „Eigentlich hätte Attac viel stärker wachsen müssen.“ Zwar steigt die Zahl der Mitglieder stetig – aber angesichts des Unmuts in der Bevölkerung liegt sie mit 25000 immer noch auf recht niedrigem Niveau. „In keinem Land außer in Spanien ist es Attac gelungen, Kapital aus der Krise zu schlagen“, diagnostiziert Giegold.

Am offensichtlichsten ist das Mainstream-Problem, da geht es Attac nicht anders als der Anti-Atom-Bewegung seit dem schwarz-gelben Ausstiegsbeschluss. „Es ist für Attac viel schwieriger geworden, in der Öffentlichkeit durchzudringen“, sagt Christoph Bautz, der einst für Attac arbeitete und heute das Kampagnennetzwerk Campact betreut. Dazu kommt ein Führungsvakuum: Bis Heiligendamm 2007 wurde Attac de facto von einer kleinen Gruppe Politikprofis geführt. Seit dem Generationswechsel darf jeder mitreden – und keiner ragt mehr heraus. Aus Sicht von Giegold hat Attac in der Krise nur zwei Möglichkeiten: Variante eins wäre, neue, weiter gehende Forderungen zu erfinden, mit denen man wieder Stachel im Fleisch des Establishments sein kann. Variante zwei wäre, sich mit Expertise und Kampagnenfähigkeit auf die Durchsetzung der Ursprungsforderungen zu konzentrieren. „Das Problem ist“, sagt Giegold, „dass Attac sich nur zwischen diesen beiden Strategien durchwurschtelt.“

Die Proteststimmung wird inzwischen auch von anderen aufgenommen. Als Stachel im Fleisch mobilisiert etwa Occupy, eine Bewegung gegen soziale Ungleichheit, die zwar in zahlreichen Städten Zelte baut, aber keinen großen inhaltlichen Anspruch hat. Occupy gilt in der Szene auch als kaum handlungsfähig. Die Organisation funktioniert so basisdemokratisch, dass sie sich selten zu etwas entschließen kann. Für die kritische Expertise gibt es dagegen seit kurzem Finance Watch, ein Brüsseler Gegengewicht zur Bankenlobby. Bei Attac versuchen sie gerade mit einer neuen Aktion zu zeigen, dass sie nicht nur „begeistert“ von der Bundesregierung sind. Auf der Webseite kann man einen Appell für die Finanztransaktionssteuer und gegen die FDP unterstützen: „FDP-Blockade auflösen“, heißt es dort. Und demnächst will Aktivist Larcher auch wieder was gegen Merkel sagen. Der Kampf gegen Merkels Sparpolitik in Griechenland und den anderen Krisenländern soll ein neuer Kampagnen-Schwerpunkt werden.

Erschienen in der Financial Times Deutschland vom 12.01.2012