Dieses Interview für die Website gruene.de habe ich im Jahr 2007 geführt, damals noch als parteiloses Mitglied der vom grünen Bundesvorstand eingesetzten Kommission zur Diskussion der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Ich finde es aber immer noch lesenswert, meine Grundposition hat sich seitdem nicht verändert. Zum Verständnis des Textes ist es wichtig, den Kontext zu sehen. Hier findet Ihr den Abschlussbericht dieser damaligen Kommssion.
Antworten von Sven Giegold für www.gruene.de zu „Grundsicherung oder Grundeinkommen?“
Angenommen, wir hätten ein bedingungsloses Grundeinkommen…
… warum sollte ein Vorstandsvorsitzender denselben Betrag vom Staat bekommen wie sein Chauffeur? Das ist eine gute Frage! Sozialstaatlichkeit lebt von der politischen Unterstützung seiner BürgerInnen. Die Ausgaben des Sozialstaats müssen für jedermann einsichtig sein, sonst bröckelt diese Unterstützung. Das bedingungslose Grundeinkommen gefährdet aus meiner Sicht das politische Fundament des Sozialstaat. Was zunächst großzügig erscheint, kann vielmehr Sozialstaatlichkeit delegitimieren und so zu seiner Abrissbirne werden. Das ist ja die Hoffnung der neoliberalen Grundeinkommensfans wie Straubhaar, Althaus und Konsorten.
… welche Teilhabechancen bietet das Grundeinkommen einem Langzeitarbeitsarbeitslosen ohne Schulabschluss?
Monetär bietet das vorliegende Grundeinkommensmodell 420 €. Wenn der/die Betroffene nicht erheblich hinzuverdient, muss er oder sie für die „Kosten der Unterkunft“ durch die gleiche Bedarfsprüfung wie bei der Grundsicherung. Nur Arbeitslose, die sich viel hinzudienen können, kommen beim Grundeinkommen aus der Bedürftigkeitsprüfung. Insofern gibt es wieder zwei Klassen von HilfsempfängerInnen.
… welchen Stellenwert hätten dann noch Investitionen in Bildung und Förderung von Erwerbslosen
Das Grundeinkommen ist erheblich teurer als die Grundsicherung. Diese Mittel fehlen dem Staat für dringend notwendige Investitionen in Kinderbetreuung, Schule, Hochschule, Gesundheitsprävention, Sozialarbeit und öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Staat und Kommunen leiden nach diversen Steuerreformen an Ebbe in der Kasse. Investitionen in Gemeinschaftsgüter für Alle nach skandinavischen Vorbild sind aber der Schlüssel für ein Sozialstaatsmodell, das Teilhabechancen bietet und breite politische Zustimmung findet. Wenn die Gemeinschaftsgüter durch gerechte Steuern finanziert werden, ist das moderne Umverteilungspolitik, die wir angesichts der auseinandergehenden Einkommensschere dringend brauchen!
… was kostet es und wer soll es bezahlen?
Das weiß keiner so genau. Die 420 € für Alle erzeugen hohe Steuerausfälle, die durch Verschärfungen bei der Einkommensteuer ausgeglichen werden müssen. Ob das so einfach möglich ist, ist unklar. Viele Einkommensarten sind steuerlich schwer zu fassen. Das vorgelegte Gutachten analysiert diese Effekte nicht. Zudem steht zu befürchten, dass sich auf kurz oder lang viele Menschen mit dem bedingungslos gewährten Grundeinkommen plus einen mäßigen Zuverdienst einrichten. Dies könnte die Finanzierung des Sozialstaats untergraben.
Angenommen, wir hätten eine bedarfsorientierte Grundsicherung …
… was wäre daran wesentlich besser als an Hartz IV, das viele als unsozial und als Stigma empfinden? Hartz IV hat Angst und Schrecken verbreitet. Die Leistungen sind zum Leben zu wenig, werden zu kurz gewährt und sind dazu noch mit üble Gängelung verbunden. Die vorgeschlagene bedarfsorientierte Grundsicherung dagegen orientiert sich am soziokulturellen Existenzminimum. Die bürokratische Kontrolle soll auf ein Minimum reduziert werden.
… wie soll denn eine faire Bedürftigkeitsprüfung in der Praxis umgesetzt werden, ohne Bürokratiemonster zu schaffen und die Würde der Betroffen zu verletzen?
Zunächst werden die Zuverdienstbedingungen verbessert und Vermögen besser geschützt. Ein Widerspruch der LeistungsempfängerInnen gegen Entscheidungen der Behörde hätte aufschiebende Wirkung und würde von einem unabhängigen Ausschuss entschieden. Sanktionen sind überhaupt nur möglich, wenn die EmpfängerInnen zwischen verschiedenen Fördermöglichkeiten wählen können. Wer eigene Projekte, wie etwa eine Selbständigkeit oder Bildung, verfolgt, bekommt Raum und Grundsicherung, um diese zu verfolgen.
Ein Grundeinkommen soll Menschen Alternativen zur klassischen Erwerbsarbeit ermöglichen – Ehrenamt, Erziehung, Weiterbildung. Springt die Grundsicherung hier nicht zu kurz?
Nein, denn das Ende der Erwerbsarbeit ist ein gefährlicher Mythos und verschleiert oft einfach schlechte Wirtschaftspolitik. Die Skandinavischen Länder machen uns vor, dass eine hohe Erwerbsbeteiligung mit guter Arbeit vereinbar ist. Wir haben ohne Ende sinnvolle Arbeit. Die wichtigsten Bereiche wie Bildung, Umwelt, soziale Dienste für Alle müssen aber öffentlich finanziert werden. Das macht auch ökonomisch Sinn und ist zentraler Bestandteil des Grundsicherungskonzepts.
Was soll die Grundsicherung kosten und wer soll sie bezahlen?
Das Grundsicherungskonzept kostet mindestens 60 Milliarden Euro. Die Kosten fallen bei den Gemeinschaftsgütern nicht sofort an, sondern steigen von Jahr zu Jahr, um auf das geplante, mit Schweden oder Finnland vergleichbare Niveau zu kommen. Zur Finanzierung stehen die Belastung der riesigen Vermögen etwa bei Erbschaft, das Schließen von Steuerschlupflöchern, ein Maßnahmenpaket gegen Steuerflucht, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 45%, das Abschmelzen des Ehegattensplittings und das Ende umweltschädlicher Subventionen zur Verfügung. Ein sehr ähliches Finanzierungspaket haben wir schon vor zwei Jahren in einer ÖkonomInnengruppe als „Solidarische Einfachsteuer“ durchgerechnet.
Und generell: Welches der beiden Konzepte hältst du in Politik und Gesellschaft für eher durchsetzbar?
Das bedingungslose Grundeinkommen hat in eher akademischen Kreisen viele Fans. In der Mehrheit der Bevölkerung ist es kaum vermittelbar, dass so viel Geld ohne Gegenleistung ausgegeben wird. Das skandinavische Beispiel zeigt: Ein Sozialstaat mit leistungsfähigen Gemeinschaftsgütern hat tiefe verankerte politische Unterstützung und hält auch harten, wirtschaftsliberalen Angriffen stand. Meine Befürchtung gegenüber dem Grundeinkommen: Es wird zur Delegitimierung des Sozialstaates beitragen und damit den Neoliberalen in die Hände spielen.
Sven Giegold, warum ist die Grundsicherung gerechter als das Grundeinkommen?
Eine bedarfsgerechte Grundsicherung ist gerecht, weil es die Unterstützung des Staates auf die Hilfsbedürftigen konzentriert. Sie ist gerecht, weil sie Mittel freisetzt für Gemeinschachaftsgüter für Alle. Der Niedergang der kommunalen Infrastruktur, das mangelnde Geld in der Bildung, in der Pflege, in sozialen Diensten und im öffentlichen Verkehr sind neben der Mühle von Hartz IV das zentrale Defizit unseres Sozialstaats. Beide Probleme anzugehen und die Priorität auf die Gemeinschaftsgüter zu setzen, das ist gerecht.
Siehst du bei den beiden Konzepten auch Schnittstellen und gemeinsame Ansätze?
In der Ausgestaltung haben sich beide Konzepte angenähert. Das konzipierte Grundeinkommen ist anders als andere Modelle in der Linken nicht existenzsichernd. Die Schwächsten müssen weiterhin durch die Bedarfsprüfung. Beide Konzepte sind für Ausbau der Gemeinschaftsgüter, nur lassen sie unterschiedlich viel finanziellen Raum dafür. Das vorgeschlagene Grundsicherungsmodell wiederum hat durch die vorgesehenen verbesserten Zuverdienstregelungen und Schritte zur Individualisierung auch Ähnlichkeiten mit dem Grundeinkommensmodell. Beide Modelle wollen einen starken Sozialstaat und sind eine Absage an das unsoziale Gerede vom schlanken Staat. Letztlich aber geht es um eine symbolisch wichtige Richtungsentscheidung: Ist das Wichtigste ein gleicher Betrag für Alle oder der Ausbau der Gemeinschaftsgüter? Aus meiner Sicht sollten sich die Linke als ganze, sollten sich Grünen für letzteres als ihr politischen Sozialstaatsprojekt entscheiden.