Sven Giegold

Grüne als Europapartei – 2015 zählt

Heute, am 9. Februar 2015, diskutierte der Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen eine Reihe von Vorschlägen zu „Grüne als Europapartei“, die Bundesgeschäftsführer Michael Kellner und ich aufgeschrieben hatten und auf dem Europapartei-Workshop weiterentwickelt wurden. Die Vorschläge wurden ganz weitgehend gut aufgenommen und gehen jetzt in die Umsetzung!

Das Dokument kann auch hier als .pdf-Datei heruntergeladen werden. Auch der Tagesspiegel berichtet.

Michael Kellner
Sven Giegold

Grüne als Europapartei – 2015 zählt

Wir Grüne blicken auf eine lange Tradition als Europapartei zurück. Wir denken, fühlen und handeln als Partei europäisch. Auch deshalb haben wir die Europawahl 2014 so erfolgreich gestaltet. Trotzdem bleibt viel zu tun. Um gute grüne Wahlergebnisse auf europäischer Ebene zu erzielen, werden wir immer wieder die Menschen überzeugen müssen, dass wir für Europa brennen und dieses einzigartige Projekt eines immer enger zusammenwachsenden Kontinents zu einem Erfolg machen wollen. Das heißt, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, ein Europa des Friedens und Wohlstandes. Dies muss in unserer Programmatik klar sein, dies müssen wir aber auch als Partei und durch Menschen glaubwürdig zum Ausdruck bringen. 2015 wird ein entscheidendes Jahr, ob BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Anspruch Europapartei zu sein ausfüllen kann. Lasst es uns gemeinsam anpacken.

 

1. Programmatische Herausforderungen annehmen

Wir Grüne sind stolz darauf, eine Programmpartei zu sein. Wir bieten den Menschen Antworten auf ihre drängenden Fragen. Aber in wichtigen Bereichen europäischer Politik müssen wir unser Programm stärken und Leerstellen mit neuen Ideen füllen. Auch das haben wir im Europawahlkampf gemerkt.

  • Wie sieht aus unserer Sicht eine humane Migrations- und Flüchtlingspolitik aus, die die gescheiterte EU-Politik ersetzen soll? Wie sehen die Grünen Konzepte zur Freizügigkeit innerhalb der EU aus? Konkrete Antworten bleiben wir da bisher schuldig. Da müssen wir nacharbeiten und unsere richtigen Forderungen mit Maßnahmen unterlegen.
  • Soziales Europa ist ein beliebtes Schlagwort. Doch ausbuchstabieren, was das eigentlich bedeutet, können wir nicht. Hier müssen wir konkret werden. Nur mit leeren, wenn auch gut klingenden Worthülsen zu werfen, wird dem Anspruch grüner Politik nicht gerecht.
  • In den Jahren der Eurokrise ist es uns Grünen gelungen, starke gemeinsame Antworten für eine europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu formulieren. Bei der Frage des Ausgleichs von Ungleichgewichten und Transfers in der Eurozone haben wir jedoch noch programmatische Arbeit vor uns.
  • Die grüne Haltung zu TTIP haben wir intensiv diskutiert und unsere Kritikpunkte und Alternativen nicht zuletzt im Europawahlkampf deutlich formuliert. Wie gehen wir als Grüne in Europa, im Bund und in den Ländern nun mit den anstehenden Entscheidungen um?
  • Wie stellen wir uns die weitere Entwicklung der EU vor? Was bedeutet Europa für uns? Was können wir in die Debatte um die europäische Demokratie neben der Forderung nach einem Konvent einbringen? Wie gehen wir mit der Zerstörung europäischer Werte in den Mitgliedsländern um? Welche Antworten geben wir auf Orban und Co.? Darauf fehlen uns überzeugende Antworten. Diese werden wir aber brauchen, um die Menschen für ein grünes Europa zu begeistern.

Das sind nur einige offene Fragen, die uns unter den Nägeln brennen. Europapartei sind wir dann, wenn wir sie beantworten können.

Die Suche nach der Antwort können und wollen wir dabei nicht einfach nach Brüssel delegieren und uns in fünf Jahren erneut wundern, wenn Antworten fehlen. Das ist eine Herausforderung für die gesamte Partei. Dabei kommt es auf die Bundestagsfraktion genauso wie auf die BAG an und wir dürfen nicht den beliebten grünen Fehler machen, uns in Details zu verlieren ohne ein größeres Bild zu zeichnen. Da sind wir alle in der Pflicht.

2015 gilt es einige dieser Fragen anzugehen:

In der Flüchtlingspolitik gibt es bereits eine klare Vereinbarung für einen gemeinsamen programmatischen Prozess zwischen Bund, Ländern und Europa.

  • 2015 werden wir die Agrarwende als grünes Schwerpunktthema weiter profilieren, da sind insbesondere die Fraktionen auf allen Ebenen gefordert umsetzbare Projekte zu konzipieren. Dies ist ein exemplarisches Thema, bei dem wir bei einem unserer Kernthemen immer wieder auch die europäische Dimension mitdenken müssen. Hier ist die Aufgabe der grünen Europafraktion, neben der alltäglichen Arbeit an der Gesetzgebung stärker zu zeigen, wie grüne Politik in der EU aussieht und verständliche sowie gut kommunizierbare Initiativen zu ergreifen. Die deutsche Ebene darf bei ihrer Bearbeitung der Themen natürlich die wachsende Rolle der EU nicht vergessen.
  • Die Europafraktion legt für diese Legislaturperiode einen Schwerpunkt auf folgende sechs Themen: Klima und Energie, Green Jobs, Steuergerechtigkeit, TTIP, Transparenz und Demokratie sowie Ernährung und Landwirtschaft. Gerade beim Thema Agrarwende/Ernährung/Landwirtschaft gilt es, durch kluge Vernetzung der Ebenen Synergien zu nutzen und unsere grünen Botschaften zu verstärken. Zu begrüßen ist auch, dass die Europafraktion einen Prozess gestartet hat, um stärker nach draußen zu kommunizieren und engeren Kontakt zu den europäischen Bürger*innen zu suchen.
  • Zudem sind 2015 zwei weitere Schwerpunktdebatten der deutschen Grünen geplant: die Verbindung von Ökologie und Ökonomie und die Zeitpolitik. Dabei ist insbesondere die Debatte um Ökonomie und Ökologie ohne die Situation Europas in den Blick zu nehmen schlicht undenkbar. Hier gilt es von Beginn an, die nationale mit der europäischen Ebene zu verschränken.
  • Für 2016 schlagen wir vor, ein grünes Konzept einer europäischen Demokratie, die sich auch ihren Gegner erwehren kann, als Schwerpunkt zu nehmen.

Unabhängig von den programmatischen Fragen ist es grüne Aufgabe, die europäische Idee gegen die wachsende Anzahl von Europafeinden zu verteidigen. Europa nutzen wir nicht als Buhmann, sondern es ist für uns eine zusätzliche Ebene, die wir wie selbstverständlich in unsere Politik einbeziehen. Gleichzeitig müssen wir bestimmte Besonderheiten europäischer Politik besser erklären und auch bei unseren eigenen Leuten stärker für europäische Kompromisse werben. Wir sollten nach neuen Instrumenten suchen, um das grüne Immunsystem gegen antieuropäische Argumente zu stärken.
Ein buntes Europa und eine bunte Republik gibt es nur mit uns. Hierzu müssen wir den Menschen deutlich machen, dass wir die europäischen Werte leben.

 

2. Strukturen

Im Europaparlament haben wir Grüne quantitativ an Status verloren, weil wir nunmehr nur noch die sechstgrößte statt die viertgrößte Fraktion stellen. Verschärft wird dies dadurch, dass auch in Brüssel eine große Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen eine Politik der Ausgrenzung der kleineren Fraktionen betreibt. Auf absehbare Zeit ist eine Änderung nicht in Sicht. Doch eine andere Europapolitik ist notwendig, eine entscheidende Stellschraube ist für uns deutsche Grüne dabei die Bundestagswahl 2017. Gelingt uns eine grüne Regierungsbeteiligung zu erkämpfen, würden die grünen Einflussmöglichkeiten für eine bessere Europapolitik enorm steigern. Doch entbindet uns die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht davon, bereits heute unsere Strukturen zu verbessern.

Verhältnis Partei – deutsche Europagruppe – Bundestagsfraktion

Es gab in den letzten Jahren und Monaten eine Reihe von Verbesserungen, die Europagruppe wird breiter eingebunden als in der Vergangenheit. So hat die Partei seit Anfang 2014 erstmalig einen Mitarbeiter, der auch für die Vernetzung nach Europa zuständig ist. Die Europagruppe ist als einzige Gliederung der Partei zu den Bundesvorstandssitzungen eingeladen, um das vollständige Verirren unserer grünen EuropäerInnen im Brüssler Institutionendschungel zu verhindern und um die Fokussierung auf Bundestag und Bundesrat in der „Berliner Blase“ europäisch anzureichern. Diese Chance sollten wir noch besser nutzen, um nach Deutschland gute Information über die Brüsseler Arbeit zu bringen und die Europagruppe strukturell gut einzubinden.

Wir wollen das künftig für alle Seiten produktiver gestalten.

  • Einmal im Quartal, insbesondere während der Neujahrs- und Herbstklausuren im Rahmen der Jahresplanung, sollte eine von der deutschen Gruppe erstellte europapolitische Vorausschau im Bundesvorstand bzw. im Parteirat diskutiert werden.
  • In der letzten Legislatur hat die Europafraktion eine umfassende Website mit Informationen zu den wichtigen politischen Dossiers der letzten fünf Jahre mit einer Analyse des Stimmverhaltens des politischen Gegners (Vote-Watch) kombiniert. Solche Angebote sollten verstetigt werden.
  • Die Europagruppe hat den Weg eingeschlagen mit Veranstaltungen mehr in der Fläche zu gehen und mehr regionale Pressearbeit anzubieten. Diesen Weg gilt es weiter zu gehen, um die Präsenz der europäischen Ebene zu erhöhen

Das alles reicht aber nicht aus.

  • Wir sehen den Bedarf eines Vorstandsmitglieds mit dem Schwerpunkt Internationales/Europa.
  • In der Vergangenheit waren sowohl der Wahlkampfetat für die Bundestagswahl als auch für die Europawahl unverantwortlich gering.

Beide Punkte sind aber ohne eine gravierende finanzielle Stärkung der Bundespartei kaum umsetzbar.

 

3. EGP – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die EGP hat sich in den vergangenen Jahren deutlich professionalisiert. Das begrüßen wir, weil es die Grünen europaweit stärkt. Auch begrüßen wir, dass die politischen Spitzen die wichtigen EGP-Termine, sei es der EGP-Council oder die Party Leaders Meetings, mittlerweile als Pflichttermine ansehen.
Mit der Primary gab es ein mutiges Experiment, im Vorwahlkampf eine echte europäische Öffentlichkeit zu erreichen. Die Wahlkampagnen von EGP und deutschen Grünen hatten dann nur wenige Gemeinsamkeiten.

  • 2015 bietet die Klimakonferenz in Paris, die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Kampagne von EGP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
  • Den Versuch auf eine eigene europäische Öffentlichkeit zu zielen, sollten wir fortsetzen. Eine Möglichkeit ist die Überlegung 2015/2016 zu einem grünen Kernthema eine Europäische Bürgerinitiative in einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis auf den Weg zu bringen.
  • Als deutsche Grüne sollten wir uns über den Rang der Beschlüsse der EGP verständigen und deren Verbreitung innerhalb von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beitragen.
  • Zugleich bietet 2015 auch die Chance, die Beziehungen zwischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und anderen europäischen Parteien zu stärken. Wir schlagen vor, sich dabei besonders auf die französischen, englischen und tschechischen Grünen zu fokussieren und mit diesen persönliche Begegnungen zu organisieren. Wünschenswert wäre dabei auch ein stärkeres Engagement der grünnahen Stiftungen auf Bundes- und Europaebene.
  • Als größte Mitgliedspartei der EGP haben die deutschen Grünen eine besondere Verantwortung, kleinere grüne Parteien zu unterstützen. Unterstützt werden könnte dies durch Partnerschaften zwischen einem MdEP und jeweils einer Partei. In 2015 rücken besonders die Grünen in Kroatien in den Fokus, die bei den Wahlen eine gute Chance haben, erstmalig in das Parlament einzurücken.
  • Europa wächst von unten: Europäische Begegnungen sind noch zu häufig eine Angelegenheit der politischen Spitzen und Europafans. Wir sollten die europäische Vernetzung auf KV-Ebene stärker fördern, sei es durch Kooperationen zwischen europäischen Grünen für Kampagnen auf KV-Ebene, sei es durch Partnerschaften zwischen Grünen auf lokaler Ebene im Rahmen von Städtepartnerschaften oder indem KV-Vorstände und KreisgeschäftsführerInnen von den Europaabgeordneten nach Brüssel eingeladen werden. Zudem sollten EU-Themen bewusst für die kommunale Ebene heruntergebrochen und dann auch für die politischen und medialen Auseinandersetzungen vor Ort nutzbar werden.
  • Was Grüne in anderen europäischen Ländern bewegen können, ob sie vor ähnlichen Entscheidungen wie wir stehen oder was sie an positiven und negativen Erfahrungen zu berichten haben: Beispielsweise als GastrednerInnen bei Parteiveranstaltungen, bis hin zu unseren Parteitagen weiten sie den Horizont und öffnen den Blick dafür, dass die deutschen Grünen Teil einer europäischen Bewegung sind.
  • Klar ist auch, das Experiment der Primary sollte man in gleicher Weise nicht wiederholen. Damit es 2019 besser klappt, braucht es eine frühzeitige Klärung über die Rahmenbedingungen, denn eine europäische Spitzenkandidatin/Spitzenkandidat werden wir auch 2019 brauchen.
  • Ebenso ist die Erfahrung aus 2014, dass eine frühere Entscheidung über die deutschen SpitzenkandidatInnen Vorteile für die Wahlkampfplanungen hätte.
  • In Frankreich werden jedes Jahr am Ende der Sommerpause große Sommeruniversitäten veranstaltet. In Deutschland gibt es bislang keine politische Kultur dafür. Wir könten mit der Etablierung einer grünen Sommeruniversität große Strahlkraft entwickeln. Dabei können wir auf die Erfahrungen der europäischen Sommeruniversität in Frankfurt/Oder oder der Zukunftskongresse zurückgreifen. Ein Anfang wäre, eine starke und sichtbare Delegation von Bündnis 90/Die Grünen bei den Französischen Sommerunis.