Sven Giegold

Predigt zur Apostelgeschichte 10, 34-36, Reinoldikirche, Dortmund

Am letzten Sonntag war ich eingeladen, bei einem Gottesdienst in der Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi zu predigen. Auf Initiative des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund bzw. der Werkstatt Ökumene war das übergreifende Thema des Gottesdienstes „Der Beitrag der Kirche zu einem nachhaltigen und gerechten Europa“ und gleichzeitig Abschluss des Eine Welt-Themenjahres. Die Predigt kann hier nachgelesen werden:

 

 

Predigt zur Apostelgeschichte 10, 34-36

 

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi

und die Liebe Gottes

und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sei mit uns allen. Amen.

 

Vielen Dank für diese Einladung in die Dortmunder Reinoldikirche zum drittletzten Sonntag des Kirchenjahres. Es ist mir eine Freude und Ehre zugleich, hier für Euch die Bibel, das Wort Gottes, auslegen zu dürfen.

 

Im 10. Kapitel der Apostelgeschichte findet sich eine Schlüsselstelle des Neuen Testaments. Apostel Petrus wurde nach Cäsarea zu einem römischen Hauptmann namens Kornelius gerufen. Kornelius war ein frommer Mann, der zum einen Gott der Juden betete und Almosen gab. Obwohl es Petrus als Juden verboten war, Umgang mit Ungläubigen wie den Römern zu haben, folgte er den Gesandten, die Kornelius ausgeschickt hatte. Freilich erst nachdem Gott ihm eindringlich eingegeben hatte mitzugehen. Derweil hatte Kornelius seine römischen Verwandten und Freunde eingeladen, die Petrus erwarteten und hören wollten, was er zu sagen hat. Petrus’ zentrale Aussagen, schildert der Autor der Apostelgeschichte Lukas in der Übersetzung der neuen Luther-Bibel so:

 

34 Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht;

35 sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.

36 Er hat das Wort dem Volk Israel gesandt und Frieden verkündigt durch Jesus Christus, welcher ist Herr über alle.

 

Doch das ist nicht genug. Lukas setzt noch einen drauf und berichtet, wie sich im Haus des Römers Kornelius ein zweites Pfingstwunder ereignete und der Heilige Geist auf alle Anwesenden ausgegossen wurde und sie in Zungen reden ließ. Trotz des Entsetzens der mit Petrus mitgereisten Judenchristen taufte Petrus danach Kornelius und seine Freunde und Verwandten. Bei der folgenden Apostelversammlung in Jerusalem musste Petrus sich rechtfertigen, bekam zuhause also Stress. Doch fand er schließlich nach seinem Bericht die Zustimmung, die Botschaft Jesu zu allen Völkern zu tragen.

Doch schauen wir uns die Schlüsselpassage, der Beginn der sogenannten Predigt des Petrus, aus der Apostelgeschichte genauer an:

„Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht“. Diese Übersetzung bei Luther ist leicht missverständlich, denn natürlich schaut Gott jeden einzelnen an. Sonst müssten wir ja die Losung des kommenden Kirchentags in Berlin und Wittenberg ändern: „Du siehst mich.“

Gemeint ist eher, wie die französischen Bibelübersetzungen texten: «En vérité, je reconnais que Dieu ne fait pas de favoritisme“. Gott macht also keine „Günstlingswirtschaft“, er bevorzugt nicht. Denn im griechischen Original taucht das Wort „Person“ gar nicht auf, sondern das zusammengesetzte Wort „prosopolemptes“ (e=ä) aus „prosopon“ – das Gesicht – und lemptes von „labanein“ – nehmen. Also Gott ist kein „Gesichtnehmer“, also einer der vorurteilsbehaftet urteilt.

Denn wie Lukas weiter berichtet ist ihm in jedem Volk angenehm, wer ihn „fürchtet und recht tut“. Mit Volk – im griechischen Original „ethnos“ ist dabei durchaus im modernen Sinne die Zugehörigkeit zu einer Ethnie gemeint oder was man dafür hält, also etwa der Juden oder Samaritaner. Gott schaut also den Einzelnen an, unabhängig von Volksgruppe, Status oder gar dickem Auto. Er sieht die Person an, nicht die Zugehörigkeit nach einer Ethnie oder Nation.

Gott ist also unparteiisch. Er urteilt nicht nach dem Augenschein. Er lässt sich nichts vormachen. Er schaut mit 1. Buch Samuel 16 auf das Herz – also alttestamentlich den Ort des Verstands und der Entscheidung. Zwei Maßstäbe wendet er folglich an: Gottesfurcht und Gerechtigkeit, die untrennbar miteinander verbunden sind.

Dabei droht Gott hier in der Darstellung unserer Bibelstelle nicht, sondern stellt fast schon beiläufig fest, wer ihm „angenehm“ sei. Keine Drohung ist an dieser Schlüsselstelle in der Apostelgeschichte nötig. Es reicht die Aussage: Wer glaubt, ist okay. Dabei verschmilzt das „wer ihn fürchtet und recht tut“ fast. Glaube und Gerechtigkeit sind bei Lukas wie im Alten Testament zwei Seiten einer Medaille. Das zeigt sich im Wirken und Reden Jesu, über den wir zum Vater sehen, dessen Identität wir durch Jesus erkennen.

Wenn Lukas weiter berichtet „Er hat das Wort dem Volk Israel gesandt und Frieden verkündigt durch Jesus Christus“, dann wird Jesus Christus zum Medium, der aber Herr über alle ist. Das „Herr über alle“, im Griechischen „panton kyrios“, meint dabei über alles oder über alle Völker.

Die Konsequenzen dieses Abschnitts der Bibel sind ungleich radikaler als die Reformation, die wir bald zum 500. Mal feiern: Vor Gott sind alle Menschen grundsätzlich gleich. Das Christentum ist nicht nur eine frohe Botschaft für Angehörige des jüdischen Volkes, sondern für alle Menschen. Nicht ohne Grund zieht Lukas hier alle Register:

 

–      Petrus, dieser so menschliche Felsen mit Charakterschwächen, ist der Handelnde.

–      Er stand an der Spitze der Apostel, der gerade wachsenden Kirche.

–      in der Geschichte selbst Engel, eine göttliche Stimme

–      und schließlich etwas wie ein zweites Pfingstfest.

 

Nur so gewinnt dieser krasse Einschnitt in der Geschichte der frühen Christen Legitimität. Gott mutet Petrus hier viel zu. Und Petrus mutet dann seinen Mitchristen viel zu. Er überzeugt sie, nach dieser Irritation feste Regeln über Bord zu werfen.

Es ist dieses Ereignis, das einen christlichen Universalismus begründet, selbst wenn dieser schon im Alten Testament angelegt ist. Ohne diese Begebenheit gäbe es keine Heidenchristen, auch nicht bei uns in Deutschland. Um Christoph Dinkel zu zitieren: „Wir werden Zeuge der Entstehung des Christentums als einer globalen Religion“. Kurz: Es ist Gottes Antidiskriminierungsgesetz.

Diese grundsätzliche Gleichheit aller Menschen vor Gott ist zentral für unseren Glauben.

Die gleiche Würde aller Menschen als Gottes Ebenbild aus dem Alten Testament, dieses Essential des christlichen Menschenbildes, realisiert sich hier in der Kirchengeschichte. Es ist der Wunsch nach dieser gleichen Würde, nach Menschenrechten, der Christinnen und Christen immer wieder zur Einmischung drängt.

Doch wenn wir diesen christlichen Universalismus anlegen, wie er sich auch in unserem Abschnitt in der Apostelgeschichte zeigt, dann bekommen wir hier in Europa mächtig Stress. Dann wanken unsere Gewissheiten. Denn unser Wirtschaften – unser Konsumieren und Produzieren, widerspricht offensichtlich jenem Universalismus. Die Chance und das Recht aller Menschen auf Würde beruhen auf einem gleichen Zugang zu globalen Gemeingütern, die uns geschenkt wurden und durch menschliche Leistung nicht vermehrbar sind und auch durch Effizienzerhöhung nur begrenzt auspressbar sind.

Da Gottes gute Schöpfung allen Menschen gleichermaßen gehört, hat auch keiner das Recht sich mehr davon anzueignen als den eigenen gleichen Anteil. Schon gar nicht ist es mit einem christlichen Universalismus gleicher Würde vereinbar, dass Privilegierte den Schwächeren auch noch Schaden zufügen.

Die Konsequenzen dieser Einsicht sind wahrhaft radikal, z.B.:

 

– Der Klimawandel erfordert den raschen Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energien

– Ein Ende der Teilnahme an der Übernutzung von Holz, Fisch oder Land.

– Das Ende der Plünderung endlicher Bodenschätze vor allem in den Entwicklungsländern.

– Faire Löhne beim Handel mit Entwicklungsländern, von denen unsere Tauschpartner leben können.

– Die Solidarität, mit denjenigen, die aus Verfolgung und Not fliehen.

 

Es geht heute darum, im wahrsten Sinne des Wortes über unseren eignen Schatten zu springen.

Unser eigenes, doch bei uns eigentlich unbestrittenes Menschenbild ernst zu nehmen, hat tiefgreifende Konsequenzen. Denn aus christlicher Sicht gibt es kein Recht eines Teils der Menschen ihre Würde über die unserer Nächsten zu stellen. Dafür immer wieder nachdrücklich einzutreten, ist der eigentliche Beitrag der Kirchen zu Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Denn da, wo wir Menschen als Geschöpfe gleicher Würde behandeln, da ist Gott.

Die Konsequenzen dieser Einsicht erscheinen so tiefgreifend, dass die Versuchung des Wegschauens wie auch eines Rigorismus groß ist. Was folgt aus der Forderung, einfach zu leben? Oder aus der Aufforderung zur radikalen Umkehr in unserem Lebensstil?

Sicher haben diese Forderungen viele Menschen bewegt und in ihrem Handeln angetrieben. Doch seinen wir ehrlich: Haben rigoros vorgetragene Forderungen nicht auch viele Menschen abgeschreckt und überfordert? Wer – bildlich gesprochen – als Reaktion auf den Konsumismus das Kloster fordert, endet leicht im Abseits. Es zeigt sich: Das Gegenteil eines Fehlers ist meist wieder ein Fehler.

Tatsächlich als Christinnen und Christen Verantwortung zu übernehmen, bedeutet nicht nur das Gebotene einzufordern, sondern auch Pfade der Veränderung zu beschreiben, die Menschen gehen wollen. Der aus der Befreiungstheologie stammende Dreischritt aus Sehen, Urteilen und Handeln hat viele Christinnen und Christen inspiriert. Doch er meint eben keinen Automatismus. Zwischen Urteilen und Handeln liegt die Klugheit des Nachdenkens über den Weg, der uns bei bestem Wissen und Gewissen die größte Chance bietet, zu den drängend gebotenen Veränderungen führt.

Wir können nicht überzeugen durch moralischen Rigorismus, sondern durch Mut und Hoffnung zu einer Veränderung auf der Basis unserer Werte. Gerade auch wir Christinnen und Christen dürfen Mut machen, dass die Aufgabe ungerechter Privilegien letztlich zu einem besseren und schöneren Leben führt. Ein Leben mit Jobs, die Zukunft haben. Ein Leben, das lebenswerter und freudvoller ist, weil es mit unserem Glauben und Werten in Einklang steht.

Doch neben der Gefahr des Rigorismus droht auch die Abwehr von gebotenen Veränderungen. Die Verstricktheit von uns Christinnen und Christen und unserer Kirche in die ungerechten Seiten unserer Gesellschaft droht immer wieder sozialethische Tabus aufzurichten. Das gilt besonders dann, wenn es um grundlegende Fragen unserer Wirtschafts- und Ordnung geht. Denn nicht nur das persönliche Verhalten kann den Geboten des christlichen Universalismus widersprechen. Auch ein Wirtschaftssystem, das den Drang zum materiellen Wachstum – zum immer mehr, immer weiter, immer flexibler – in sich trägt, muss unseren Widerspruch erzeugen. Auch vor harten Fragen dürfen wir nicht die Augen verschließen, um unbequeme Irritationen zu vermeiden. Denn es gilt auch bei gesellschaftlichen Tabus aus Angst vor Ablehnung oder vor der Versuchung des Rigorismus: Das Gegenteil eines Fehlers ist meist wieder ein Fehler.

Nationale Grenzen sind im Vergleich zu unserer Kirche etwas Neues. Sie spielen auch im christlichen Glauben keine Rolle. Vielmehr zeigt unser Bibeltext wie Gott die Grenzen zwischen den Menschen niederreißt. Daher ist es nur konsequent, dass sich die großen Kirchen äußerst besorgt über die Krise der europäischen Einigung geäußert haben. Die Einheit Europas ist ein Schritt zum Frieden und zur Überwindung von Grenzen zwischen den Menschen auf unserem europäischen Kontinent. Europa ist auch unsere größte Hoffnung, weltweit zu Gerechtigkeit und zur Bewahrung der Schöpfung beitragen zu können. Der Beschluss und das schnelle Inkrafttreten des Pariser Klimaabkommens zeigt, was Europa vermag, wenn es mit einer Stimme für seine Werte eintritt. Es ist richtig, dass die großen Kirchen gemeinsam gegen einen Geist der Abschottung eintreten, der vergeblich versucht, sich vor der Größe der Probleme in vermeintlich sichere nationale Räume zurückzuziehen. Denn Abschottung und Renationalisierung sind keine Antwort auf den Kontrollverlust in einer sich globalisierenden Welt, sondern nehmen uns die Chance grenzüberschreitende Herausforderungen gemeinsam zu lösen.

Umso erstaunlicher ist es, dass es auch der Christenheit bisher nicht gelungen ist, über alle Grenzen von Nation, Alter oder Konfession in Europa hinweg zusammen zu kommen. Es gibt zwar europäische Netzwerke und Kirchenbünde, doch die Christinnen und Christen aus den Gemeinden treffen sich wenn überhaupt national. Eine Basisversammlung gibt es nicht, weder in den großen Kirchenbünden, der katholischen Kirche und schon gar nicht ökumenisch. Selbst die ökumenischen Versammlungen in Basel, Graz und Sibiu schafften letztlich nicht den Schritt zu einem wirklich offenen Fest des Glaubens und der Weltverantwortung.

Unser Deutscher Evangelischer Kirchentag ist eine in Größe und Tiefe in Europa einzigartige Basisversammlung von Glaubenden und Suchenden. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung und Chance dazu beizutragen, ein Zusammenkommen von Christinnen und Christen aus ganz Europa zu befördern. Vor drei Jahren beschloss der Kirchentag einen Versuch zu unternehmen, eine „European Christian Convention“ auf den Weg zu bringen. Also einen Europäischen Kirchentag – offen und fromm, ökumenisch und tolerant, organisiert von Christinnen und Christen, christlichen Organisationen und Kirchen, die diese Idee unterstützen. Natürlich kann dies nicht als Kopie des Deutschen Evangelischen Kirchentags oder des Ökumenischen Kirchentags erfolgreich sein. Vielmehr muss sich ein Europäischer Kirchentag aus Erfahrungen und Traditionen von Basisversammlungen aus verschiedenen europäischen Ländern und Konfessionen speisen. Wir können zwar nicht in Zungen reden, aber in schlechtem Englisch. Und selbstverständlich muss ein solcher Kirchentag auch ein Ort des Dialogs zwischen den unterschiedlichen Religionen sein. Denn die Kirchengeschichte zeigt eben auch drastisch die Gefahren des christlichen Universalismus, wenn er nicht mit Respekt und Toleranz mit Anders- und Ungläubigen umgeht oder wenn das Christentum Europa alleine für sich in Anspruch nimmt.

Anfang der 2020er Jahre soll es so weit sein und die Convention das erste Mal stattfinden. Bis dahin ist noch unendlich viel zu tun. Denn nicht Europa braucht eine tatsächlich europäische Zivilgesellschaft, zu der unsere Kirche einen wichtigen Beitrag leisten kann; als unseren Beitrag zu einer Europäischen Demokratie, die Wurzeln in der Bevölkerung schlägt. Doch gerade auch unsere Kirche kann es beflügeln, wenn wir grenzüberschreitend zusammen kommen.

Der Dortmunder Kirchentag im Jahr 2019 wird ein weiterer wichtiger Schritt auf diesem Weg sein. Wäre es nicht großartig, den Dortmunder Kirchentag besonders in alle Benelux-Staaten zu öffnen und unsere Schwestern und Brüder dort frühzeitig und zahlreich einzuladen, über die vielen anderen internationalen Gäste hinaus? Das wäre doch ein schönes Ziel von Dortmund, über Europa in die eine Welt.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist, denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

 

 

Quellen

 

Christoph Dinkel (2014): Grenzen überschreiten – Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35; https://predigten.evangelisch.de/predigt/grenzen-ueberschreiten-predigt-zu-apostelgeschichte-1021-35-von-christoph-dinkel

EKD Denkschrift (2009): Umkehr zum Leben – Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. http://www.ekd.de/download/klimawandel.pdf

Ich danke meinem Schwiegervater Prof. Dr. Christoph Levin für die theologische Beratung. Alle Fehler und Irrtümer gehen selbstverständlich ausschließlich auf meine Kappe.

 

Rubrik: Positionen / Grundsätze

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