Die Ratifizierungsprozesse in den EU-Mitgliedstaaten: Eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung der Freihandelsabkommen TTIP und CETA
Seit Monaten beschäftigt sich die europäische Öffentlichkeit in zahlreichen Debatten mit der Notwendigkeit der Ratifizierung von Handelsabkommen wie TTIP (Trans-Atlantic Trade and Investment Partnership) und CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) durch die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Voraussetzung einer zusätzlichen nationalen Ratifizierung stellt eine große Hürde dar, die es für die Freihandelsabkommen TTIP und CETA zu überwinden gälte. Insbesondere dort, wo anstelle einer parlamentarischen Zustimmung Volksabstimmungen vorgesehen sein können, kann es sich für die Freihandelsabkommen um eine unüberwindbare Voraussetzung handeln. Stoßen sie in der europäischen Bevölkerung doch vornehmlich auf vehemente Ablehnung.
Zunächst wird ein kurzer Überblick über das Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen und den Regelungsinhalt von TTIP und CETA gegeben. Danach gibt das vorliegende Paper eine Übersicht über die Ratifizierungsprozesse in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Besondere Beachtung findet hierbei die Frage, ob die Möglichkeit einer Volksabstimmung zur Zustimmung zu TTIP und CETA in den Mitgliedstaaten besteht.
Die gesamte Studie von Dr. Anna Eschbach finden sie hier: Ratifizierungsprozesse in den EU2-DE
Zusammenfassung
Die Tabelle 1 stellt allgemein die Notwendigkeit für ein parlamentarisches Zustimmungsverfahren, den Aufbau der nationalen Parlamente und die Möglichkeit eines Referendums über die Zustimmung zu TTIP und CETA dar.
Für die Tabellen 2 und 3 gilt es zu beachten, dass die dort kursiv gesetzten Begriffe dem jeweiligen verfassungsrechtlichen Verständnis oder einer Ermessensbetätigung der nationalen Regierungen und Parlamente obliegen. Ob die Freihandelsabkommen TTIP und CETA unter die kursiv gesetzten Begrifflichkeiten von den nationalen Regierungen und Parlamenten auch tatsächlich subsumiert werden, kann aufgrund dessen nicht gesagt werden. Oft ist Annahme jedoch naheliegend.
Tabelle 1: Allgemeine Darstellung der Ergebnisse
Land | Parlamentarische Zustimmung erforderlich | Aufbau des Parlaments | Referendum möglich |
Belgien | ja | Zweikammersystem | nein |
Bulgarien | ja | Einkammersystem | ja |
Dänemark | ja | Einkammersystem | ja |
Deutschland | ja | Zweikammersystem | nein |
Estland | ja | Einkammersystem | nein |
Finnland | ja | Einkammersystem | nein |
Frankreich | ja | Zweikammersystem | ja |
Griechenland | ja | Einkammersystem | ja |
Irland | ja | Zweikammersystem | ja |
Italien | ja | Zweikammersystem | nein |
Kroatien | ja | Einkammersystem | ja |
Lettland | ja | Einkammersystem | nein |
Litauen | ja | Einkammersystem | ja |
Luxemburg | ja | Einkammersystem | nein |
Malta | nein | Einkammersystem | nein (nur wenn „Act of Parliament”) |
Niederlande | ja | Zweikammersystem | ja |
Österreich | ja | Zweikammersystem | ja |
Polen | ja | Zweikammersystem | ja |
Portugal | ja | Einkammersystem | nein |
Rumänien | ja | Zweikammersystem | ja |
Schweden | ja | Einkammersystem | nein |
Slowakei | ja | Einkammersystem | ja |
Slowenien | ja | Zweikammersystem | nein |
Spanien | ja | Zweikammersystem | nein |
Tschechien | ja | Zweikammersystem | nein |
Ungarn | ja | Einkammersystem | ja |
Vereinigtes Königreich | ja | Zweikammersystem | ja |
Zypern | ja | Einkammersystem | nein |
Zu der Notwendigkeit eines Zustimmungsgesetzes
Die Darstellung hat zu dem Ergebnis geführt, dass vermutlich in allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme von Malta, ein parlamentarisches Zustimmungsverfahren notwendig sein wird. Die nächste Tabelle geht auf die von den Verfassungen getroffenen Voraussetzungen hierfür ein und zeigt wie die Kompetenzen in den Mehrkammersystemen verteilt sind. Mit Zweikammersystemen sind die Systeme gemeint, in denen die gesetzgebende Gewalt aus zwei Kammern bzw. Häusern besteht.
Tabelle 2: Voraussetzungen für und Beteiligung am parlamentarischen Zustimmungsverfahren
Land | Voraussetzungen | Beteiligung im Parlament |
Belgien | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Zweikammersystem gleichberechtigt |
Bulgarien | Art. 85 Abs. 1, völkerrechtlicher Vertrag bewirkt finanzielle Verpflichtungen des Staates | Einkammersystem |
Dänemark | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Einkammersystem |
Deutschland | Art. 59 Abs. 2, völkerrechtlicher Vertrag betrifft politische Beziehung des Bundes oder Gegenstand der Bundesgesetzgebung | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Estland | § 121 Nr. 4, völkerrechtlicher Vertrag bewirkt militärische oder materielle Verpflichtung | Einkammersystem |
Finnland | § 94 Abs. 1, völkerrechtlicher Vertrag fällt in die Gesetzgebung oder hat andere erhebliche Bedeutung | Einkammersystem |
Frankreich | Art. 53, völkerrechtliche Verträge, die Friedens- oder Handelsverträge sind oder Verträge über die Staatsfinanzen, den Personenstand oder die Änderung von Rechtsbestimmungen | Zweikammersystem gleichberechtigt |
Griechenland | Art. 36 Abs. 2. völkerrechtliche Verträge, die Handel und Steuern, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Teilnahme an internationalen Organisationen oder Vereinigungen betreffen sowie Verträge mit Zugeständnissen, die nach anderen Bestimmungen der Verfassung ohne Gesetz nicht verfügt werden können oder die die Griechen persönlich belasten | Einkammersystem |
Irland | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Italien | Art. 80, völkerrechtliche Verträge von politischer Natur, über Schiedsverfahren, Vorschriften über die Rechtspflege, Gebietsänderungen, finanzielle Belastungen oder die Abänderung von Gesetzen | Zweikammersystem gleichberechtigt |
Kroatien | Art. 140, völkerrechtliche Verträge, die den Erlass oder die Änderung eines Gesetzes bewirken, militärischer oder politischer Natur, Republik Kroatien finanziell verpflichten | Einkammersystem |
Lettland | Art. 68, der völkerrechtliche Vertrag muss eine Gesetzgebungsfrage betreffen | Einkammersystem |
Litauen | Art. 138, hier insbesondere Nr. 6: völkerrechtlicher Vertrag ist ein mehrseitiger oder langfristiger Wirtschaftsvertrag | Einkammersystem |
Luxemburg | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Einkammersystem + Überprüfung durch Staatsrat |
Malta | Art. 3 Ratification Act, völkerrechtlicher Vertrag muss Maltas Status betreffen, die Sicherheit, Souveränität, Unabhängigkeit oder territoriale Integrität Maltas oder Maltas Beziehungen zu einer multinationalen Organisation | Einkammersystem |
Niederlande | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Zweikammersystem gleichberechtigt |
Österreich | Art. 10 Abs. 1 Nr. 2, 50 Abs. 1 Nr. 1, Ratifizierung nur durch den Nationalrat | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Polen | Art. 89 Nr. 6, Angelegenheiten, die im Gesetz geregelt worden sind oder für die die Verfassung eine Gesetz vorsieht | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Portugal | Art. 161 i.), völkerrechtliche Verträge, wenn sie Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz betreffen, Verträgen über die Beteiligung Portugals an internationalen Organisationen, Freundschafts-, Friedens-, Verteidigungs-, Grenzberichtigungs-, und Abkommen, die militärische Angelegenheiten zum Inhalt haben | Einkammersystem |
Rumänien | Keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Zweikammersystem gleichberechtigt |
Schweden | Kap. 10 § 3, völkerrechtliche Verträge, durch die ein Gesetz geändert oder aufgehoben oder ein neues Gesetz erlassen werde müsste, die einen Gegenstand betreffen, über den das Parlament zu beschließen hat | Einkammersystem |
Slowakei | Art. 7 Abs. 4, internationale politische Abkommen, internationale Wirtschaftsabkommen allgemeiner Art, völkerrechtliche Verträge für deren Inkrafttreten ein Gesetz erforderlich ist | Einkammersystem |
Slowenien | keine weiteren Voraussetzungen in der Verfassung | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Spanien | Art. 94 e.), völkerrechtliche Verträge die die Änderung oder Aufhebung eines Gesetzes bedingen oder für deren Durchführung legislative Maßnahmen erforderlich | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Tschechien | Art. 49, völkerrechtliche Verträge, die die Rechte oder Pflichten einer Person betreffen, Friedensverträge, politische Verträge, mit denen Tschechien Mitglied einer internationalen Organisation wird, allgemeine Wirtschaftsverträge | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Ungarn | Art. 1 Abs. 2, völkerrechtlicher Vertrag fällt thematisch in Gesetzgebungskompetenz des Parlaments | Einkammersystem |
Vereinigtes Königreich | Part 2 Constitutional Reform and Governance Act; Regierung kann Vertrag abschließen, Parlament kann Stellungnahme abgeben | Zweikammersystem ungleichberechtigt |
Zypern | Art. 169, bei ökonomischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zusätzliche Beratung im Ministerrat | Einkammersystem |
Zu der Möglichkeit einer Volksabstimmung
Die Tabelle 3 stellt die grundsätzliche Möglichkeit einer Volksabstimmung zur Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen in den Mitgliedstaaten dar, und unter welchen weiteren Voraussetzungen eine solche im Hinblick auf eine Zustimmung zu TTIP und CETA möglich wäre.
Tabelle 3: Referenden in der EU zur Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen
Land | Referendum möglich | Voraussetzungen |
Belgien | nein | – |
Bulgarien | ja | Art. 84 Nr. 5, 98 Nr. 1 Beschluss der Nationalversammlung, wenn Initiative von 200.000 Wahlberechtigten zu einer Frage von nationaler Bedeutung |
Dänemark | ja | § 42 Abs. 1, Antrag von einem Drittel der Mitglieder des Folketing, drei Tage nach Verabschiedung des Gesetzes |
Deutschland | nein | – |
Estland | nein, für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich ausgeschlossen | – |
Finnland | nein | § 53, nur konsultative Volksbefragung möglich |
Frankreich | ja | Art. 11, auf Vorschlag der Regierung oder auf Vorschlag der beiden Kammern, vom Präsidenten ausgerufen zur Wirtschafts- oder Sozialpolitik, den beitragenden öff. Diensten, zur Ermächtigung zur Ratifizierung eines Vertrags |
Griechenland | ja | Art. 44 Abs. 1, zu wichtigen nationalen Fragen oder zu schon verabschiedeten Gesetzesentwürfen zu wichtigen gesellschaftlichen Fragen, wenn drei Fünftel der Abgeordneten auf Vorschlag von zwei Fünftel der Mitglieder beschließt |
Irland | ja | Art. 25, 27, wenn Beschluss der Mehrheit der Mitglieder des Senats und nicht weniger als ein Drittel der Mitglieder der Abgeordnetenkammer zur Frage von besonderer Bedeutung für die Nation |
Italien | nein, für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich ausgeschlossen | – |
Kroatien | ja | Art. 87, Sabor kann beschließen, wenn von mind. 10% der Wahlberechtigten verlangt |
Lettland | nein, für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich ausgeschlossen | – |
Litauen | ja | Art. 67 Nr. 3, Beschluss des Seimas über Zulässigkeit, zulässig wenn 300.000 Unterschriften aus der Bevölkerung oder wenn Vorschlag von ein Viertel der Abgeordneten |
Luxemburg | nein | – |
Malta | nein | grds. Referendum für „Act of Parliament“ vorgesehen, für die Zustimmung zu TTIP und CETA vermutlich nicht erforderlich |
Niederlande | ja | Auf Verlangen von 300.000 Bürgern |
Österreich | ja | Art. 43, Referendum muss in Beschluss des Nationalrats oder von der Mehrheit des Nationalrats verlangt werden |
Polen | ja | Art. 125, Anordnung des Sejm und des Präsidenten, wenn Fall von besonderer Bedeutung für den Staat |
Portugal | nein, für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich ausgeschlossen | – |
Rumänien | ja | Art. 90, Aufforderung des Präsidenten nach Befragung von Parlament, wenn Frage von nationalen Interesse |
Schweden | nein | – |
Slowakei | ja | Art. 93 Abs. 2, wichtige Frage von öffentlichen Interesse, wenn Bürgerpetition oder Beschluss des Nationalrats + Überprüfung des Verfassungsgerichts |
Slowenien | nein, für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich ausgeschlossen | – |
Spanien | nein | – |
Tschechien | nein | – |
Ungarn | ja | DER STAAT/Art. 8, Initiierung durch 200.000 Wahlberechtigte oder 100.000 + Vorschlag des Präsidenten (Zulässigkeit liegt dann im Ermessen des Parlaments) |
Vereinigtes Königreich | ja | bisher nur bei verfassungsrechtlichen Fragen |
Zypern | nein | – |