Sven Giegold

Weimarer Rede – Quo vadis, Europa?

Am 18.3. hatte ich die Ehre, auf Einladung der Stadt Weimar meinen Teil zu der Reihe der Weimarer Reden im Deutschen Nationaltheater beitragen zu dürfen. In diesem Jahr sprachen außer mir in dieser Reihe noch Gesine  Schwan, Erhard Eppler und Ottmar IssingDie Thüringer Landeszeitung hat hier Auszüge veröffentlicht.  Im Folgenden findet Ihr die gesamte Rede dokumentiert.

 

Weimarer Rede von Sven Giegold, Deutsches Nationaltheater Weimar 18.3.2012

Herr Oberbürgermeister, Herr Staatssekretär, Herr Chefredakteur, Herr Intendant und wen ich alles vergessen habe, liebe Bürgerinnen und Bürger vor allem.

Erst einmal eins vorab: Nach dieser Attac-Rede meines geschätzten Vorredners lade ich Sie herzlich ein, es mir gleich zu tun, nämlich auch Attac-Mitglied zu werden. Das war ja Wutbürgertum, was da zu spüren war. Sie haben mir da aus dem Herzen gesprochen. Ich will nur eins vorweg sagen: Ich bin bei Attac natürlich nicht ausgetreten, ich bin dort nur nicht mehr in Leitungsverantwortung, weil ich finde, dass es gute Gründe gibt, Zivilgesellschaft und Parteipolitik zu trennen, um Glaubwürdigkeit zu bewahren. Das ist mir persönlich wichtig. Politik sollte Zivilgesellschaft unterstützen, sie aber nicht bestimmen, dominieren, als Vorfeldorganisation begreifen. Und deshalb war für mich klar, als die Grünen mich eine Kandidatur zum Europäische Parlament vorschlugen, dass ich nicht in der Leitungsebene von Attac bleiben kann. Das nur vorab, damit nicht der Eindruck entsteht, in dem Moment, wenn die Kanzlerin und die halbe Welt unsere Gründungsforderung nach einer Finanztransaktionssteuer unterstützt, dass ich gerade dann auf die Idee käme, aus Attac auszutreten. Dafür besteht nun wirklich keine Veranlassung.

Vielen Dank für die Einladung. Für mich ist es eine große Ehre, an diesem Ort zu sprechen.

Zunächst einmal stellt sich für mich die Frage: In was für einer Krise sind wir eigentlich, wenn wir darüber sprechen, welche Pfade aus der Euro-Krise führen können? Was ist da eigentlich in Gefahr, welches europäische Projekt? Erschreckend ist, dass die Wahrnehmung über diese Krise Europa in einer neuen Weise spaltet. Wir haben auf der einen Seite die Menschen in den Peripherieländern, in Südeuropa, die sich von Europa verlassen fühlen, die angesichts von 50 % Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland, 30 % in Italien, 30 % in Portugal, fast 50 % in Spanien das Gefühl haben, dieses Europa funktioniert für sie nicht. Und umgekehrt, in Ländern wie Finnland, den Niederlanden, Deutschland herrscht das Gefühl vor, wir zahlen für diese Krise, wir gehen hohe Risiken ein, damit Länder die gemeinsame europäische Währung nicht verlassen müssen. Gleichzeitig ist offen, wie lange das Zahlen noch weitergehen soll. Ein Zahlen für Risiken, die wir selbst ja – zumindest nicht direkt – verantwortet haben. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen der Krise spalten derzeit den Kontinent.

Die neuen Eurobarometerdaten zeigen, wie das Vertrauen in die europäischen Institutionen schwindet. Mit dramatischer Geschwindigkeit sinkt das Vertrauen in die Europäische Kommission, in die europäischen Mitgliedsländer und deren Fähigkeit, im Rat ihre Politik abzustimmen, genauso wie in das Europäische Parlament. Selbst wenn immer noch das Vertrauen in die europäischen Institutionen höher ist als in die nationalen Regierungen, so hat sich der Unterschied, der vorher groß war, angeglichen auf ein erschreckend niedriges Niveau. Viele Menschen empfinden, und das zeigt sich jetzt besonders in der Krise, Europa doch letztlich als etwas Fremdes, als weit weg. So groß die Unterstützung der meisten Europäerinnen und Europäer für den Grundgedanken der europäischen Integration nach wie vor da ist, so sehr zeigt sich doch, dass es in vielen Herzen und auch im Wissen, wie Europa funktioniert, nie wirklich genau so angekommen ist wie der Nationalstaat, die lokale Demokratie oder auch die Bundesländer hier in Deutschland bei uns. Selbst wenn ich bei manchen Bundesländern auch manchmal meine Zweifel habe.

Und angesichts dessen, dass Europa derzeit für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Nord wie Süd, in den Peripherieländern wie in den Kernstaaten nicht so liefert, nutzen diese Gelegenheit überall in Europa Rechtspopulisten in einer Weise, die unerträglich gefährlich ist. Rund um Deutschland hat sich ein regelrechter Kranz von starken rechtspopulistischen Parteien gebildet – das reicht von einer nationalkonservativen Regierung in Ungarn über die starken Parteien in der Schweiz, in Österreich, in den Niederlanden, in Dänemark, von einer Marine Le Pen, die 20 % in manchen Umfragen in Frankreich zur Präsidentschaftswahl erreicht. In Griechenland haben antieuropäische Parteien von rechts wie links dort inzwischen 40 % in den aktuellen Meinungsumfragen. Das muss uns allen, die Sorge um Europa haben, ein grell leuchtendes Warnsignal sein, dass dieses Projekt Europa nicht für selbstverständlich gehalten werden kann. Vor allem darf man die Interpretation dieser Krise nicht den Antieuropäerinnen und Antieuropäern überlassen.

Aber um über Wege aus dieser Krise zu sprechen, müssen wir zunächst sehen, wie wir überhaupt dort hinein gekommen sind. Alles begann mit einem Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland. Die Idee, mit einer gemeinsamen Währung der europäischen Integration eine Krone aufzusetzen, war begleitet von einem großen Konflikt:

Frankreich wollte mit der Einführung des Euros gleichzeitig eine europäische Wirtschaftregierung installieren, in der die großen Mitgliedsländer zusammen mit den kleinen, aber sicherlich unter Führung der großen, die wirklich wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen der Koordination und der Steuerung miteinander verhandeln. Deutschland war eine solche Wirtschaftsregierung suspekt. Deutschland wollte eine politische Union. Das heißt, man wollte – und da gab es eine große Mehrheit der verschiedenen Parteien im Bundestag – die europäische Demokratie praktisch mit einer gestärkten Europäischen Kommission stärken. Sie sollte eine Art Regierungsauftrag erhalten, aber gewählt und viel direkter verantwortlich den gewählten nationalen Parlamenten und dem Europaparlament. Das Ergebnis war leider ein fauler Kompromiss: Es gab weder eine politische Union, noch gab es eine europäische Wirtschaftsregierung. Der deutsch-französische Kompromiss sah einen Euro vor, ohne dass es gleichzeitig starke Strukturen der wirtschaftspolitischen Kooperation gab. Stattdessen wurden ganz wenige Regeln vereinbart und diese wenigen Regeln – Sie kennen sie, die Maastricht-Kriterien für Schulden- und Defizite – sowie einige Regeln für die Europäische Zentralbank, wurden inzwischen vielfach gebrochen.

Gleichzeitig verlottert das deutsch-französische Verhältnis auch in tieferer Art und Weise. Immer weniger jüngere Leute, weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Rheins, lernen die jeweilige Sprache, verstehen tiefer, was im anderen Land gedacht und geredet wird. Auch zwischen Deutschland und Frankreich feiern Vorurteile über die jeweils anderen fröhliche Urständ. Leider zieht sich das wachsende gegenseitige Unverständnis weiter bis an die Spitzen der beiden Staaten, wie nach den notdürftig übertünchten Konflikten des EU-Rates regelmäßig vorgeführt wird. Ein gemeinsamer Plan für Europa ist nicht zu erkennen, weder zwischen den zwei Zvilgesellschaften noch an der Spitze der Politik.

Also bekamen wir den Euro, aber ohne die notwendige wirtschaftspolitische Kooperation und Steuerung. Und das in einer Situation, als gleichzeitig weltweit immer mehr Kapital nach Anlagemöglichkeiten suchte. 1980 hatten wir ein weltweites Bruttosozialprodukt von 10 Bio. U.S. Dollar und dem entsprach anlagesuchendes Kapital von 12 Bio. U.S. Dollar. Direkt vor der Krise 2007, in den neuen Preisen, waren es dann ein weltweites Bruttosozialprodukt von 55 Bio. U.S. Dollar, aber ein anlagesuchendes Kapital war von 196 Bio. U.S. Dollar. Die gesamte Ökonomie war, wie wir Wirtschaftswissenschftler das nennen, over-leveraged, übermäßig gehebelt.

Woher kam dieses anlagesuchende Kapital? Zum einen gab es in allen wichtigen Industrieländern einen Prozess der Umverteilung. Ein größerer Teil dessen, was wir erwirtschaften, geht an die Besitzer von Kapital und damit ist es höher konzentriert als die Arbeitseinkommen, weil die Kapitalvermögen auch schon historisch sehr ungleich verteilt sind. Immer mehr der Einkommen wurden nicht ausgegeben, sondern suchten nach neuen Anlagemöglichkeiten.

Gleichzeitig, durch den demographischen Wandel, sparen viele Menschen mehr, um sich fürs Alter abzusichern, was natürlich noch verstärkt wird, wenn man die umlagefinanzierten, gesetzlichen Rentensysteme schwächt. Ferner haben sich einige Länder weltweit aufs Konsumieren und andere aufs Produzieren spezialisiert. Die „Produzierer“, gerade die rohstoffexportierenden Länder, aber auch China, Japan und Deutschland, erwirtschafteten Überschüsse, die umgekehrt wieder dazu dienten, die Verschuldung der „Konsumierer“ zu finanzieren. Die Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbilanzen der großen Industrieländer, aber auch der Schwellenländer wurden über die Zeit immer größer. Schließlich hielten alle großen Zentralbanken der westlichen Industrieländer ihre Zinssätze niedrig und auch das ermöglichte zusätzliche Verschuldung.

Ein Teil dieses angewachsenen anlagesuchenden Kapitals fand jetzt durch den Euro in einem Teil Europas eine scheinbar sichere Verwertungsmöglichkeit. Mit der Gründung des Euros sanken die Zinsen in den Peripherieländern, in Spanien, in Italien, in Griechenland, in Irland, in Portugal usw., auf ein viel niedrigeres Niveau, als das vorher der Fall war. Es gab dann plötzlich eine höchst einseitige  Marktwahrnehmung. Die Zinssätze fielen fast auf das Niveau Deutschlands. Es war in Zukunft genau so teuer für den griechischen Staat, für den italienischen Staat oder den spanischen Staat sich zu verschulden wie für den deutschen und ähnlich war es auch mit den dortigen Unternehmen. Die Zinsdifferenz nahm rapide ab, weil die Mehrheit der Anleger annahm, dass durch eine feste gemeinsame Währung, die Risiken zwischen den verschiedenen Staaten sich angeglichen hätten.

Es kam zu einem Marktversagen gigantischen Ausmaßes – Banken, Versicherungen, Privatinvestoren schickten Kapital aus den kapitalreicheren Kernländern der Europäischen Union und der Eurozone in die Peripheriestaaten. Und was passierte dadurch? Es kam zu einem enormen Aufblähen der Verschuldung, und zwar zuvorderst in der Privatwirtschaft. Die Privathaushalte und die Unternehmen außerhalb der Finanzwirtschaft verschuldeten sich in der Eurozone von 1999 von einem Niveau von gut 120 % des Bruttoinlandsproduktes bis 2009 auf gut 170 % des Bruttoinlandsprodukts. Die Staatsverschuldung nahm zu im gleichen Zeitraum von 71,9 % auf 78,1 %. Beide verschuldeten sich über das vernünftige Maß hinaus.

Vor allem der Privatsektor trieb die Verschuldungsdynamik. Die Privatverschuldung floss aber leider nicht in Fabriken, in produktive Investitionen, sondern es kam vor allem zu einem Immobilienpreisboom. In Spanien stiegen zwischen 1998 und 2007 die Immobilienpreise um 70 %, in Irland um 70 %, in Frankreich um 70 %, in Griechenland um gut 65 %. Der Einstrom von Kapital führte zu einem verschuldungsgetriebenen Boom, vor allem in der Bauwirtschaft, aber auch bei privatem Konsum und Dienstleistungen. Das war zunächst eine gute Nachricht. Die Menschen genossen, das höhere Wachstum, Arbeitslosigkeit und Armut sanken. Die gemeinsame Währungsunion war zunächst mal ein riesiges Entwicklungsprogramm für die Peripheriestaaten.

Aber durch den verschuldungsgetriebenen Boom stiegen die Lohnstückkosten in Spanien, in Portugal, in Irland usw. an. Zwischen 2000 und 2009 30 % plus in diesen genannten Ländern. Dagegen hielt Deutschland seine Lohnstückkosten zurück. Sie stiegen in dem Zeitraum nur um 8 % und blieben damit hinter dem Inflationsziel der EZB zurück. Und das bedeutete, dass ein Teil Europas, der Eurozone immer leistungsfähiger wurde und ein anderer Teil an Wettbewerbsfähigkeit verlor.

Das Ergebnis der Orgie war, dass Deutschland seit Gründung des Euros einen Leistungsbilanzüberschuss, also vereinfacht gesagt einen Überschuss der Exporte über die Importe, von über 600 Mrd. € nur mit den Euroländern erwirtschaftet hat. Und diesen 600 Mrd. entspricht natürlich jetzt eine Verschuldung dieser Staaten. Daher auch die berechtigte große Sorge hier bei uns, ob dieses Geld jemals zurückgezahlt werden wird. Man kann es also so sagen: Deutschland und die anderen Überschussländer haben unter ihren Verhältnissen gelebt und die Länder in den Peripheriestaaten haben über ihren Verhältnissen gelebt.

Für all das gab es keine Regeln. Die Maastricht-Kriterien genau so wie die Regeln der Europäischen Zentralbank sahen diese Krise nicht vor: Eine Aufblähung des Finanzsystems, Regeln zu Immobilienpreisblasen, Regeln zur Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, der Lohnstückkosten und der Privatverschuldung – all das war nicht vorgesehen. Es gab ausschließlich Regeln für die Entwicklung der Staatsverschuldung und, wie Sie alle wissen, diese wurden 68 mal seit Einführung des Euros gebrochen. Aber für die zentralen Ursachen dieser Krise gab es keine Spielregeln.

Jetzt fragt man sich natürlich: Wieso wurde dieser Entwicklung, die sich über 10 Jahre aufgebaut hat, kein Einhalt geboten? Die Antwort ist: Verblendung und Verantwortungslosigkeit.

Verblendung, weil viele glaubten, auch der Entscheidungsträger, auch die Mehrheit der politikberatenden Ökonominnen und Ökonomen, der Staat hat sich genau in die krisenauslösenden Faktoren nicht einzumischen. Finanzmärkte seien effizient. Lohnsetzung sei eine reine Angelegenheit der Tarifpartner, aus der sich Europa herauszuhalten habe. Wer wie wettbewerbsfähig sei, wird letztlich der Markt regeln.

Auf der anderen Seite gab es auch eine organisierte Verantwortungslosigkeit: Die wirtschaftspolitische Kooperation findet in Europa im Wesentlichen hinter verschlossenen Türen statt. Die Mitgliedsländer tagen im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister, im Wirtschafts- und Finanzausschuss (WFA) und in der Eurogruppe hinter verschlossenen Türen und die Entscheidungen in diesen Fragen treffen sie dort nach wie vor einstimmig. Und das bedeutet, diese Gremien hatten keinerlei Durchgriffsrechte auf die Mitgliedsländer. Wie wir heute wissen, war sowohl bekannt, und zwar allen, dass die griechischen Schuldenstatistiken manipuliert waren. Es war bekannt und wurde immer wieder von der Europäischen Zentralbank vor der einseitigen Entwicklung der Immobilienpreise in einigen Mitgliedsländern gewarnt, aber es wurde nicht gehandelt. Warum aber geschah nichts? Weil die jeweiligen Staaten ihre jeweiligen ökonomischen Nationalismen schützen wollten.

Da gab es die Defizitländer. Natürlich ist es für die Politik attraktiv, einen Immobilienpreisboom laufen zu lassen, denn er schafft Beschäftigung und senkt zunächst die Arbeitslosigkeit. Wenn die Politik eingreift, was ja möglich ist z. B. durch die Besteuerung des Immobiliensektors, durch die Vergabe von Baugrundstücken, kostet das Jobs und Gewinne. Das wäre natürlich schwer zu verkaufen gewesen für die jeweiligen Regierungen, die deshalb eher gehandelt haben nach dem Motto: Nach dem nächsten Wahltermin ist auch noch ein guter Zeitpunkt.

Bei den Überschussländern – Deutschland, Niederlande, Österreich – gab es auch keine Bereitschaft zum politischen Handeln. Denn hier sind die Überschüsse zunächst ebenso ein Mehr an Arbeitsplätzen und Gewinnen. Ob dann fragwürdig ist, wenn sich die Partnerländer immer weiter verschulden, ist eine langfristige Frage.

Am gleichen Tisch sitzen zudem mehrere Länder, die Steueroasen sind. Sie haben kein Interesse an gemeinsamen steuerlichen Regeln in der Europäischen Union, die die Einnahmen erbringen könnten, um die Kosten der Krise zu bezahlen. Luxemburg, Österreich, Belgien, die Niederlande und Irland haben alle auf ihre Art und Weise Steueroasencharakter. Und dann waren da noch die Länder mit großen Finanzplätzen wie Großbritannien und Irland, die lange verhindert haben, dass es zur notwendigen Regulierung der Banken und der Finanzmärkte gekommen ist.

Und so herrscht im Europäischen Rat nach wie vor das „Krähenprinzip“: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Kein Land wollte dem anderen wirklich ernsthaft Vorschriften machen, wirklich ernsthaft öffentlich sagen, was bei den Partnern schief läuft. Und so war das Ergebnis das Beharren auf ökonomischen Nationalismen zum Nachteil der Stabilität des Ganzen und damit unserer gemeinsamen Währung – ein Politikversagen riesigen Ausmaßes.

Die ökonomischen Kosten der Krise sind wahrlich schlimm genug. Doch die möglichen politischen Kosten der Krise sind weitaus schlimmer. Denn ein Scheitern der gemeinsamen Währung brächte das Projekt der politischen Einigung in Misskredit.

Fraglos, Europa ist ein riesiger Fortschritt, eine unschätzbare historische Errungenschaft, für die wir unseren Vätern und Müttern nur dankbar sein können. Die Begeisterung darüber ist nach wie vor gerechtfertigt. Frieden über solch einen langen Zeitraum ist keineswegs selbstverständlich. Europa wurde zudem  nicht gegründet als Machtpol, sondern als Wertegemeinschaft, gegründet auf klaren Rechtsprinzipien, verantwortlich sowohl der Freiheit als auch sozialer Verantwortung.

Und gleichzeitig brauchen wir Europa für die Lösung der großen globalen Zukunftsfragen. Man muss sich ja nur anschauen, wie sich die Globalisierung entwickelt. Das Zusammenwachsen der Märkte und die Vergrößerung unserer technischen Möglichkeiten erzeugen Probleme, die kein Land mehr alleine lösen kann. Ob im Klimaschutz, bei der Stabilität der Finanzmärkte, ob zur Regulierung der Steueroasen oder auch die Regelung der Probleme, die aus der Knappheit endlicher Ressourcen entstehen werden, mit allen Gefahren, die sie auch für den Frieden mit sich bringen können. All diese Herausforderungen lassen sich nur meistern, wenn wir lernen, weltweit Souveränität zu teilen und der zusammenwachsenden Weltgemeinschaft auch gemeinsame Regeln zu geben. Und hier ist Europa der einzige Garant dafür, dass wir dort als Europäerinnen und Europäer eine wahrnehmbare Stimme haben. Es ist geradezu symbolisch, dass beim Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels, während China und die USA diesen Gipfel mit rein symbolischen Ergebnissen enden ließen, saßen parallel dazu die Europäer in einem anderen Raum und verhandelten die gemeinsame europäische Position zwischen den Mitgliedsländern der EU. Das ist ein Weg in die Einflusslosigkeit.

Und gleichzeitig könnte die Welt von Europa Vieles lernen, denn keine andere Region der Welt hat angefangen, Souveränität freiwillig über nationalstaatliche Grenzen zu teilen. Wir brauchen Europa deshalb, wenn wir Hoffnung haben wollen, dass diese großen Konflikte aus der Globalisierung gelöst werden. Und in all diesen Fragen ist Europa trotz aller Widersprüche Vorreiter. Wir haben die stärksten Klimaziele, wir haben die stärkste Verantwortung übernommen, etwa, wenn es um friedliche Konfliktlösung geht – denken Sie an den Strafgerichtshof, das Verbot von Biowaffen und Landminen. Europa könnte in der Welt eine Rolle spielen, Verantwortung zu übernehmen für eine Globalisierung mit einem sozialen und ökologischen und gleichzeitig auch demokratischen Gesicht auf der Basis von unteilbaren Menschenrechten.

Aber es ist nicht ausreichend, dieses Loblied über Europa zu singen, denn gleichzeitig gibt es auch ein Europa, das wir weniger preisen. Etwa ein Europa, das diese selbst gesetzten Werte gerade nach außen hin nicht einlöst. Wir haben eine Agrarpolitik, mit der wir eine nicht-nachhaltige Landwirtschaft mit industrieller Massentierhaltung und Massenproduktion massiv subventionieren, und diese subventionierten Produkte dann auf die Weltmärkte werfen und damit die Landwirtschaft in anderen, schwächeren Staaten kaputt machen. Wir haben in der Handelspolitik und auch in der Rohstoffpolitik zunehmend auch ein hässliches Gesicht, wo die Eigeninteressen über die Rechte der Menschen in den Partnerländern, selbst wenn sie wirtschaftlich arm sind, gestellt werden. Zuletzt haben wir ein Grenzregime an den Außengrenzen Europas errichtet, das mit menschenrechtlichen Anforderungen nicht zusammenzubringen ist. Es sterben praktisch täglich Menschen bei dem Versuch, die Grenzen Europas zu überschreiten. Das ist völlig unakzeptabel und eine Schande für das europäische Projekt mit seinem Wertefundament.

Dieses Europa brauchen wir nicht. Wir brauchen aber tatsächlich das Europa mit einem starken gemeinsamen Markt, wo alle gleiche Rechte haben, egal aus welchem Teil Europas sie kommen, wo starker Verbraucherschutz und starke ökologische Regeln für alle gelten. In diesen Bereichen hat Europa bedeutende Fortschritte gemacht. Gleichzeitig brauchen wir nicht das Europa, dessen gemeinsamer Markt kaum gemeinsame soziale und steuerliche Regeln kennt. Ja, es stimmt, viele Menschen haben vom gemeinsamen Markt nicht profitiert. Sie spüren Europa als Druck zum Abbau von Errungenschaften, etwa in der Sozialpolitik oder bei einer gerechteren Besteuerung. Die Spitzensteuersätze der Einkommenssteuer genau wie die Besteuerung der Großunternehmen sind in Europa dramatisch gesunken. 1980 wurden im Durchschnitt in der damaligen Europäischen Gemeinschaft Gewinne von Großunternehmen mit 44 % besteuert. Heute ist dieser Steuersatz auf unter 25 % gefallen. Wir haben also einen starken Steuerwettbewerb, der es allen Ländern schwerer macht, soziale Ungleichheit, die in der Marktwirtschaft immer auch existieren wwird, zumindest ein Stück weit zu korrigieren.

Dagegen brauchen wir ein Europa, das überwindet, dass wir 27 diplomatische Dienste betreiben, dazu inzwischen einen 28. Europäischen Diplomatischen Dienst, weltweit in Konkurrenz zueinander. Wir brauchen auch keine 27 nationalen Armeen und Grenzschutztruppen mit all den notwendigen Ausrüstungen. Wir brauchen keine 27 Entwicklungshilfebudgets, die international mit den verschiedenen Partnerländern verhandeln und zum Teil konkurrieren. Und wir brauchen auch keine 27 getrennten Budgets für Forschung und Entwicklung. Wir brauchen ein Europa, das das Mehr, was möglich ist, auch realisiert.

Und gleichzeitig brauchen wir nicht das Europa, das alles bürokratisiert. Der gemeinsame Markt muss begleitet werden von gemeinsamen Regeln, aber dabei müssen Augenmaß und gesunder Menschenverstand Einzug halten. Es macht keinen Sinn, etwa bei öffentlichen Ausschreibungen, um das Prinzip der Nicht-Diskriminierung durchzusetzen, selbst sinnvolle Prinzipien der Eigenvergabe oder der Kooperation mit Kommunen jenseits der eigenen kommunalen Grenze europarechtlich zu erschweren. Es macht keinen Sinn, europarechtlich zu normieren, dass Tourismusmanager überall einen gleichen Ausbildungsstand haben. Und warum muss Europa jetzt mit einer neuen Initiative festlegen, dass Hebammen mindestens zwölf Jahre zur Schule gehen? Das brauchen wir wirklich nicht. Und braucht Mecklenburg-Vorpommern wirklich eine Bergbahnverordnung?

Wir brauchen gleichzeitig mehr und weniger Europa. Wir brauchen Europa dort, wo es um die großen Fragen geht, gerade wenn es um die Gestaltung der Globalisierung geht. Wir brauchen auch den gemeinsamen Markt. Wir brauchen aber Europa nicht für jede Detailregulierung. Da muss und wird derzeit auch schon geforstet. Das genügt jedoch nicht. Europa braucht eine neue Subsidiaritätsdiskussion.

Das zentrale Problem mit der Eurokrise – deshalb dieser Einschub – ist, dass das Unwohlsein an Europa durch die Eurokrise sich mischt mit dieser gemischten Bilanz. Sie ist zwar insgesamt eine riesige Erfolgsgeschichte. Man darf aber die genannten Nachteile und Probleme nicht negieren. Wenn man das Reden über die Schwierigkeiten tabuisiert, gerade als überzeugter Europäer, dann überlässt man diese Fragen den Gegnern des europäischen Integrationsprojekts, allzu oft den Rechtspopulisten. Ich glaube, wir müssen über Europa sprechen, wie über eine andere politische Einheit auch. Wenn wir über Probleme in unserem Land sprechen, stellt niemand Deutschland in Frage. Wenn wir über Schwierigkeiten in Europa sprechen, sollten wir nicht Europa in Frage stellen. Wir brauchen insgesamt nicht mehr vom Europäischen Projekt. Wir müssen aber auch reden über die Nachteile und über die Probleme, die entstanden sind, schon um die Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen, die das europäische Projekt, weiß Gott, verdient hat.

Wenn wir zurückkommen auf die Eurokrise und uns fragen, was bisher passiert ist, so können wir sagen: Europa hat mit ungeahnter Geschwindigkeit gehandelt. Kaum jemand hätte das für möglich gehalten, nachdem sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zwei Regierungschefs an die Macht kamen, die beide ganz klar nicht ein Mehr an Europa wollten. Unter dem Eindruck dieser Krise haben Sarkozy wie Merkel europäisch gelernt. Wir haben Banken gerettet, wir haben die Konjunktur stabilisiert, es hat die Staatsverschuldung in ganz Europa nach oben getrieben, hat das gemeinsame Eingreifen hat verhindert – auch mit den Amerikanern, den Schwellenländern und den Japanern –, dass wir einen Abbruch der Weltwirtschaft wie es in den 1920er und 1930er Jahren erleben mussten. Diese gemeinsame Handlungsfähigkeit ist historisch, denn im vorigen Jahrhundert kam es ja durch die Krise zum Abbruch der globalen Kooperationen, zu neuem Protektionismus. Dass dieser Weg nicht gegangen wurde, sowohl in Europa als auch weltweit, ist ein großer Erfolg.

Allerdins muss man auch klar sagen, die Bankenrettungen haben dazu geführt, dass Rechnungen durch den Steuerzahler beglichen wurden, für die eigentlich die Gläubiger der Banken hätten haften müssen. Das ist ein Bruch ordnungspolitischer Prinzipien, den viele Bürgerinnen und Bürger zu Recht kritisieren und beklagen. Aber in der konkreten Situation – ich komme darauf nachher nochmal – war es notwendig, den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Parallel zur Bankenrettung wurden Staaten gerettet, die nachdem man Lehman Brothers in den Konkurs geschickt hatte, hohe Zinsen bezahlen mussten, und vor dem Zusammenbruch ihrer Wirtschaft bewahrt. Das gilt sowohl für Griechenland, als auch für Portugal und Irland, die sich nun nicht mehr am Kapitalmarkt zu astronomischen Zinsen refinanzieren, sondern durch gemeinsame europäische Programme. Schließlich wurde dazu ein Europäischer Rettungsschirm geschaffen.

Aber all diese Programme sind bisher nicht von Erfolg gekrönt. Denn erstens sind die Programme einseitig auf Konsolidierung und Kürzen fokussiert und haben keinen Anteil von Investitionen, die den Ländern ermöglichen, aus der Krise auch wieder heraus zu kommen. Und zweitens, und ich glaube das ist das, was die Programme noch mehr gefährdet, ist die Lastenverteilung einseitig. Viele Bürgerinnen und Bürger, auch hier in Deutschland, sind grundsätzlich natürlich bereit, schwächeren Staaten in Europa zu helfen. Sie verstehen aber nicht, wenn etwa in Griechenland bei den Kürzungen der Renten und den Kürzungen der Gehälter im Öffentlichen Dienst diejenigen, die Kleinstrenten bekommen, prozentual genauso stark gekürzt werden wie diejenigen, die eine große und unverdient große Rente haben. Gleichzeitig versteht man nicht, dass die Mehrwertsteuer leicht zu erhöhen war, aber gleichzeitig die Besteuerung großer Vermögen, die etwa in Griechenland oft auch aus Korruption entstanden sind, nicht voran kommt. Menschen sind nicht bereit, solidarisch zu sein, wenn nicht gleichzeitig die Lastenverteilung innerhalb der Partnerländer fair ist. Es war ein großer Fehler von Seiten der Europäischen Union diese Programme mit ungerechter Lastenverteilung mit den Regierungen der Krisenländer zu vereinbaren. Das kann man nicht einfach als reine Entscheidung der jeweiligen Nationalstaates ansehen.

Denn die Unterstützung für die Reformprogramme am Anfang in Griechenland war sehr groß, trotz der einschneidenden Veränderungen. Erst als deutlich wurde, dass diejenigen, die in Griechenland die größte Verantwortung an dem Entstehen der Probleme hatten, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, brach die Unterstützung in dem Maße weg, wie wir es jetzt sehen. Die Europäische Zentralbank, Herr Issing sprach vor einer Woche hier darüber, hat sich in großem Maße engagiert, um in Europa den Zusammenbruch dort zu verhindern. Bis an die Grenzen dessen, was legal ist, wurde Liquidität für die Finanzsysteme bereitgestellt. Den Banken wurden im großen Umfange zum einen risikoreiche Finanztitel abgekauft, zum anderen auch Staatsanleihen der schwächeren Staaten am Sekundärmarkt gekauft. Interessant daran ist aus meiner Sicht, dass das in der Regel mit einer Beschimpfung der Europäischen Zentralbank gerade in Deutschland einher gegangen ist. Diese Beschimpfung ich nicht gerechtfertigt, denn die Europäische Zentralbank stand vor einer absolut dramatischen Entscheidung. Sie stand vor der Entscheidung, entweder den Euro fallen zu lassen oder aber bis an die Grenzen ihrer eigenen Regeln zu intervenieren. Die eigentlich verantwortlichee Stelle, um den Euro zu stabilisieren, wären freilich die Mitgliedsstaaten gewesen. Die Grenze zwischen Fiskalpolitik und Geldpolitik in dieser Weise brüchig zu machen, war aus meiner Sicht ein Fehler. doch es ist aber nicht die Schuld der Europäischen Zentralbank, es ist die Verantwortungslosigkeit und Nicht-Bereitschaft der Mitgliedsländer der Europäischen Union, das Notwendige für den Zusammenhalt des Euros zu unternehmen. Man darf nicht den Falschen schelten, sondern muss klar sehen, unter welchem Druck die Europäische Zentralbank stand – hätte sie sich geweigert, sich in diesem Paket zu engagieren, wäre der Euro vermutlich heute nicht mehr existent.

Wir haben auf europäischer Ebene eine gemeinsame Finanzaufsicht geschaffen, die jetzt dafür sorgt, dass zumindest den nationalen Egoismus zu überwinden, dass alle Mitgliedsstaaten dazu neigen, ihre jeweiligen Finanzsysteme vor allzu starker Beaufsichtigung zu schützen, um sie im Wettbewerb innerhalb Europas zu stärken. Die Europäische Bankenaufsicht hat das bereits genutzt, um die Krise auf den internationalen Märkten jetzt mit stärkeren Eigenkapitalanforderungen an die Banken zu beantworten.

In Europa wurde mit der neuen Europa 2020-Strategie eine Grundlage geschaffen, um die nationalen Politiken in den Bereichen, wo Europa wenige Kompetenzen hat, stärker zu koordinieren. Die Ziele dieser Strategie sind gut: Stärkere wirtschaftliche Entwicklung, Klimaschutz, Bildung, Armutsbekämpfung, mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Und es wurde auch ein Koordinationsinstrument geschaffen, das regelmäßig die Budgetentwürfe der jeweiligen Länder an die europäische Ebene geschickt werden, dort kommentiert werden, im Rat diskutiert werden und es jährlich Empfehlungen an die Mitgliedsländer gibt, was sie ändern sollen, um die Ziele von Europa 2020 zu erreichen. Die Evaluierung geschieht öffentlich. Aber leider sind die Ziele unverbindlich geblieben. Die Mitgliedsstaaten haben sich geweigert, dass die guten Absichten von Europa 2020, die alle auch quantitativ festgelegt sind, auch sanktioniert werden. Sanktionen gibt es in Zukunft nur für übermäßige Staatsdefizite und bei  Nicht-Befolgung von Grundregeln wirtschaftlicher Stabilität, aber eben nicht zur Bekämpfung von Armut, zur Steigerung notwendiger Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung. Dort wurden die Ziele nicht mit Sanktionen und Verbindlichkeit belegt, leider.

Gleichzeitig hat Europa als Konsequenz aus der Krise sechs Gesetzte beschlossen zur stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung, die im Europajargon – wir haben immer solche Abkürzungen – „Six-Pack“ genannt werden. Es sieht vor, dass in Zukunft die Ursachen der Krise, die bisher nicht Teil der europäischen wirtschaftspolitischen Koordinierung waren, beobachtet werden, darunter die Immobilienpreisentwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit, die Lohnstückkosten, usw. Sie werden in Zukunft im Rahmen des sogenannten Verfahrens zu wirtschaftlichen Ungleichgewichten beobachtet und den Mitgliedsländern werden Empfehlungen gegeben, die auch sanktioniert werden können, wenn es keinen Fortschritt gibt, um diese Ungleichgewichte zu korrigieren. Leider hat sich hier Deutschland durchgesetzt, dass Länder mit Überschüssen nicht in den Rahmen der Betrachtung effektiv einbezogen werden, sondern lediglich die Staaten mit Defiziten. Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung hier das „Krähenprinzip“ mit Macht weiter durchgesetzt hat.

Gleichzeitig wurde vereinbart, dass in Zukunft eine verbindliche Schuldenbremse eingeführt wird in den verschiedenen Ländern, und zwar strukturell, also über den Konjunkturzyklus hinweg maximal ein Defizit von 1 % des Bruttoinlandsproduktes. Das bedeutet, dass die Staatsverschuldung relativ zum Bruttoinlandsprodukt sinken wird, sobald das Wachstum wieder einsetzt. Und die Entscheidungsregeln im Rat wurden geändert, sodass dieses Defizitziel in Zukunft auch viel schärfer durchgesetzt werden kann, ohne dass man erst eine große Mehrheit im Rat braucht. Das „Krähenprinzip“ ist in dieser Hinsicht immerhin geschwächt. Aber es verbleibt noch einiges, weil es in den europäischen Verträgen steht und nur im Konsens aller Mitgliedsländer erhalten werden kann. Leider ist es zudem nicht gelungen, bei der Durchsetzung der Begrenzung der Neuverschuldung gleichzeitig durchzusetzen, dass bei den Korrekturmaßnahmen, die überall in Europa notwendig sind, gleichzeitig soziale und ökologische Kriterien beachtet werden müssen. Es bleibt den Mitgliedsländern überlassen, ob sie ihre Schulden auf Kosten der Ärmsten oder auf Kosten der Vermögenden korrigieren.

Und zu guter Letzt hat nun jüngst die Kanzlerin einen Fiskalpakt verhandelt. Dabei muss man ganz klar sagen, dieser Fiskalpakt praktisch durchweg regelt Dinge, die alle im Europäischen Recht auch selbst regelbar gewesen wären. Aber dieser Fiskalpakt ist intergouvermental. Während bei den Regeln, die ich vorher genannt habe, das Europäische Parlament gleichzeitig Gesetzgeber war und gerade bei Einseitigkeiten des Rates bei all diesen sechs Gesetzen stark korrigierend gewirkt hat, ist dies im Rahmen der zukünftigen intergouvermentalen Vereinbarung des Fiskalpakts nicht möglich. Der Fiskalpakt beruht auf der Zusammenarbeit von Regierungen hinter verschlossenen Türen. Die Schuldenbremse soll dort für die unterzeichnenden Länder von 1 % des Bruttoinlandsprodukts auf 0,5 % verschärft werden. Und gleichzeitig wird ein neues europäisches Gremium geschaffen, der sogenannte Eurogipfel, der in Zukunft das Herzstück der europäischen Koordinierung sein soll. Allerdings wird dieser Eurogipfel eben nicht unter gesicherter Beteiligung des Europäischen Parlaments entscheiden, sondern einstimmig hinter verschlossenen Türen. Der Fiskalpakt schafft auch keine Fiskalunion, denn seine Regeln beziehen sich nur auf die Staatsausgaben. Es gibt bisher keinerlei Maßnahmen, etwa im Bereich der beschleunigten Harmonisierung der Steuern, so dass dieser schädliche Steuerwettbewerb, den ich beschrieben habe, aufhören würde.

Das heißt, wir hätten zwar eine stärkere Zusammenarbeit der Euroländer und ihrer Partner, wenn der Fiskalpakt jemals von den notwendigen 12 Staaten ratifiziert wird – Sie haben vielleicht gehört, dass François Hollande angekündigt hat, dass er ihn nicht unverändert oder unergänzt ratifizieren wird und auch in anderen Ländern gibt es Probleme mit der Ratifikation. Aber letztlich setzt der Fiskalpakt die einseitige Politik der Haushaltskonsolidierung fort, ohne gleichzeitig soziale, ökologische und Investitionsziele gleichermaßen zu verfolgen. Vor allem aber schließt er das Europäische Parlament aus der Entscheidungsfindung aus und bedeutet damit, dass die Vertiefung Europas im Rahmen der zukünftigen Eurogipfel eben mit weniger und nicht mit mehr Demokratie einhergehen soll. Das halte ich für einen schweren Fehler.

Was muss über das bereits Geschehene hinaus noch getan werden? Jetzt gibt es Viele, und Sie hören das sicher in der Öffentlichkeit in den Medien, die sagen, es ist doch alles ganz einfach: Die schwächeren Eurostaaten und vor allem Griechenland müssen die Eurozone verlassen und wenn diese Länder die Eurozone verlassen, dann können wir wieder zurückkehren zu den wenigen Regeln, die damals gesetzt wurden. Sie müssen dann hart durchgesetzt werden und damit wäre alles gut. Das ist aus mehreren Gründen eine grobe Verkürzung.

Die erste Verkürzung ist: Würde Griechenland die Eurozone verlassen, wer würde dann noch in Portugal, in Irland, in Spanien investieren? Das Vertrauen, dass der Euro zusammen bleibt, ist die Basis dafür, dass Investitionen getätigt werden. Sobald Investoren glauben, dass es ein Abwertungsrisiko in den schwächsten Teilstaaten gibt, wird die Investitionstätigkeit in diesen Staaten vollends zum Erliegen kommen. Denn verglichen mit einer Abwertung können die wenigsten Investitionen rentabel sein. Und daher bedeutet das ständige Gerede vom Austritt aus der Eurozone nichts anderes, als die Erholung aus der Krise ständig zu erschweren und damit bis an den Rand des Scheiterns zu bringen. Die Diskussion um den Euroaustritt von Ländern wie Griechenland ist ein echter Bärendienst für die Stabilität des Euros.

Die zweite Verkürzung ist, dass eben gerade die Begrenzung der wirtschaftlichen Koordination und Steuerung auf ganz wenige Fragen Teil des Fehlers war. Eine schematische Regelbindung der Wirtschaftpolitik genügt nicht, um gegen Immobilienpreisblasen, um gegen übermäßige Aufblähung des Finanzsektors, um bei Entwicklung unterschiedlicher Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit vorzugehen. Dazu reicht es nicht, einfach zu sagen, wir schließen die Schwächsten aus, und dann macht man im Grunde weiter auf der Basis der bisherigen Regeln.

Zu guter Letzt wollen die Menschen selbst in Griechenland den Euroaustritt nicht. Es ist interessant, dass bisher die Wahlen in den Krisenländern gewonnen wurden von jeweils den Parteien, die nicht versprochen haben, wir schütten das Füllhorn wieder neu aus, sondern die gesagt haben, wir machen sogar noch härtere Spar- und Reformpolitik – in Irland, in Portugal, in Spanien, genau so die große Unterstützung von Mario Monti in Italien. Aber auch in Osteuropa, etwa in Lettland und Estland, wo es auch starke Anpassungsprogramme gab. Überall haben sich die Menschen entschieden für Parteien, die gesagt haben, wir verankern das Land auf Dauer in Europa, in der Eurozone, und wir sind bereit, dafür die notwendigen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Daraus folgt aber, dass das Gerede über den Euroaustritt völlig sinnlos ist, weil es keinen Mechanismus gibt, ein Euroland auszuschließen, sondern die Menschen eines Landes müssten sich selbst dazu entscheiden. Das ist aber nirgendwo gewollt. Und damit gibt es aus ökonomischen, genau so wie aus politischen Gründen eine ganz klare Maßgabe: Es geht darum, die Eurozone zusammenzuhalten, weiterzuentwickeln. Das Ausschlussgerede bringt nichts und ist falsch.

Damit stellt sich als nächstes die Frage: Was muss stattdessen passieren, um die Programme letztlich zum Erfolg zu führen?

Das erste ist – ich will mit etwas ganz Lebenspraktischem anfangen: Ein wichtiger Grund, warum Amerika als große Währungsunion funktioniert, und die Eurozone derzeit nicht, liegt auch in der höheren Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. In Europa hat das sicherlich sprachliche Grenzen. Aber gerade wir hier in Deutschland leben wir in einem Land, in dem im Moment Fachkräfte gesucht werden. Junge Menschen aus Spanien, aus vielen anderen Ländern kommen nach Deutschland, um hier ein neues Leben zu beginnen. Ich glaube, es ist auch eine Aufgabe der Zivilgesellschaft, der Öffentlichkeit, eine Kultur der Aufnahme  und eine Kultur des Empfangens zu schaffen. Das ist etwas, was wir alle tun können. Heißen wir die jungen Spanierinnen und Spanier, die jungen Griechinnen und Griechen willkommen, schlagen wir ihnen nicht mit einer national bestimmten Rede über Europa hier die Türen zu und tun wir ganz praktische Dinge im Lebensalltag mit diesen Menschen, sich zu begegnen, damit sie sich hier willkommen fühlen.

Zentral ist die Frage des Umgangs mit den Altschulden. Warum kommen die Staaten trotz der Programme und großen Reformanstrengungen aus den Problemen nicht heraus? Aus meiner Sicht hat dies derzeit drei zentrale Gründe:

Die Länder sitzen auf einem großen Berg an Altschulden. Gerade die Staaten werden ökonomisch von steigenden Zinslasten erdrückt. Gegenüber den stärkeren Länder, etwa Deutschland, verzichten Geldanleger sogar auf Kaufkraft, um dort Geld anzulegen. Zehnjährige Staatsanleihen werden in Deutschland noch mit 1,9 % verzinst. Das liegt unter der Inflationsrate. Dagegen liegen die Zinsenbei Italien und Spanien über 5 %. Mit jeder Umschuldung, die notwendig ist, steigt die absolute Zinslast für die schwächeren Staaten.

Es gibt Viele, und auch wir als Grüne sagen: Letztlich braucht Europa einen gemeinsamen Anleihemarkt, also Eurobonds. In Deutschland ist die Idee sehr unbeliebt. Das würde letztlich zwar große ökonomische Vorteile für alle haben, denn ein tiefer, großer Anleihemarkt kann die weltweiten Kapitalmärkte ganz anders anzapfen als rein nationale Kapital- und Anleihemärkte. Ein gemeinsamer Anleihemarkt könnte Europa auf Dauer niedrige Zinsen sichern. Aber die Nachteile von echten Gemeinschaftsanleihen sind ebenso offensichtlich. Man hätte eine gemeinsame Haftung, ohne gleichzeitig eine gemeinsame Verantwortung für die Wirtschaftspolitik. Zudem widersprechen Eurobonds den derzeitig geltenden Verträgen. Und auch das Bundesverfassungsgericht hat seine Probleme mit dem Modell angemahnt. Daher stellt sich die Frage nach Eurobonds heute noch nicht.

Deshalb hat der Sachverständigenrat für Wirtschaft einen anderen Vorschlag erarbeitet, den Altschuldentilgungsfonds. Dieser wurde im letzten Ratsgutachten entwickelt und der Kanzlerin übergeben. Der Vorschlag beruht auf folgender Grundidee: Alle Länder tun ihre Altschulden in einen gemeinsamen Fonds. Dieser gemeinsame Fonds wird gesichert, durch starke materielle Sicherheiten aus den jeweiligen Ländern. Zweitens, bekommt der Fonds ein Durchgriffsrecht auf einen Teil der Steuereinnahmen der einlegenden Länder. Das sind sehr harte Bedingungen. Für diese harten Bedingungen bekommen dann die Länder die Möglichkeit, die Finanzierung dieses einmaligen Fonds durch gemeinsame besicherte Anleihen zu realisieren. Jedes Land muss aber nach wie vor seine eigenen Schulden zurückzahlen und das Haftungsproblem wird durch die vertraglich festzulegenden Durchgriffsrechte gelöst. Damit könnten die schwächeren Staaten in Europa von niedrigeren Zinsen profitieren, als die Märkte sie jetzt und auch auf absehbare Zeit anbieten werden. Das würde beenden, dass die Staaten unter immer größer werdenden Zinslasten leiden. Dieser Vorschlag wurde leider von der Kanzlerin direkt im Moment der Übergabe zurückgewiesen. Obwohl der Sachverständigenrat zu großer Mehrheit aus Gegnern von Eurobonds besteht, gab es für diesen Vorschlag Einigkeit, nachdem die Ökonomen studierten, wie groß die Zinslast für die Staaten unter den hohen Zinsen derzeit ist. Im Europäischen Parlament gibt es eine breite Befürwortung aus europäischem Geist für diesen Vorschlag. Interessanterweise ist gerade die liberale Fraktion der entschiedenste Befürworter dieses Altschuldentilgungsfonds im Europäischen Parlament, während in Deutschland die FDP der populistischste Gegner dieser Idee ist.

Es gibt aber noch einen weiteren Bereich, bei dem wir eine Kurskorrektur an den Programmen vornehmen müssen: Die Programme sind bisher einseitig auf Konsolidierung ausgelegt. Es gibt keinen investiven Zweig. Das ist ein großer Fehler. Seit dem Höhepunkt der Krise sind die Ausgaben für Öl, Gas und Rohstoffe der Europäischen Staaten enorm angestiegen. 2009 waren die Ausgaben insgesamt bei 260 Mrd. € jährlich, inzwischen sind die Ausgaben für Öl, Gas und Rohstoffe auf über 400 Mrd. € gestiegen. Und angesichts des Wachstums in den Schwellenländern ist nicht zu erwarten, dass es wieder billiger wird. Wenn man die Daten genauer ansieht, stellt man fest, dass Spanien, Italien und Frankreich ihre Leistungsbilanzen, die derzeit tief negativ sind, alle positiv gewendet hätten, wenn es diesen Öl-, Gas- und Ressourcenpreisanstieg seit 2009 nicht gegeben hätte. Gerade die schwächeren Staaten, die in Wettbewerbsproblemen sind, werden zunehmend zu Öl- und Gassklaven.

Wir brauchen also ein entschiedenes Programm der Investitionen in Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, um diese Abhängigkeit von den immer größeren Importkosten zu brechen. Das würde Sinn machen aus ökonomischer Sicht und macht auch ökologisch Sinn. Dafür gibt es auch Instrumente. Die Europäische Investitionsbank braucht zusätzliches Eigenkapital, um Privatinvestitionen mit entsprechenden Krediten gerade in den Krisenländern fördern zu können. Dieses Eigenkapital würde sich für Europa als Ganzes auszahlen und würde eben gerade den schwächeren Staaten helfen, nicht nur zu sparen, sondern gleichzeitig zu investieren.

Schließlich stellt sich natürlich bei all diesen Programmen, den bisherigen wie auch den vorgeschlagenen, die große Frage: Wer zahlt die Kosten? Diese Frage wird gerade hier in Deutschland nicht beantwortet. Scheibchenweise wurden zwar der Bevölkerung immer größere Rechnungen zugemutet, die man vorher noch als rote Linien dargestellt hat, und die auf jeden Fall vermieden würden.

Es ist ein Skandal, dass parallel zur Rettung von Staaten und Banken nicht gleichzeitig ein großes Programm installiert wurde, um Steueroasen zu schließen und unfairen Steuerwettbewerb in Europa zu beenden. Nach einer aktuellen Studie, die im Auftrag der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament durchgeführt wurde, belaufen sich die Verluste der EU-Staaten durch Steuerflucht und Steuerhinterziehung auf 1 Billionen Euro pro Jahr. Das ist eine enorme Summe. Das könnten wir stark begrenzen, wenn Europa Mindeststeuersätze gerade auf besonders flüchtiges Kapital festlegen würde. Dann könnten alle Staaten wieder gerechter besteuern. Wir müssten parallel zu der Rettung von Banken und Staaten auch dafür sorgen, dass der europäische Steuerwettbewerb nicht nur denen nützt, die ohnehin über große Vermögen und hohe Gewinne verfügen, während gleichzeitig kleine Leute entsprechend mehr Steuern zahlen müssen. Kleine und mittlere Unternehmen, die Steuerwettbewerb über Grenzen hinweg nicht nutzen können, müssen dagegen Nachteile in Kauf nehmen gegenüber Großunternehmen, die diese Methoden des sogenannten Steuerplanung betreiben.

Der Staat muss sein Recht auf Besteuerung wieder durchsetzen. Wenn der Staat sein Recht auf Besteuerung gegenüber allen gleichmäßig durchsetzte, hätten wir auch kein Problem, die Verschuldungsquoten zurück zu führen. Dazu gehört auch die Diskussion um eine Vermögensabgabe, mit der wir die großen Vermögen besteuern wollen, die in einem Maße angewachsen sind, die mit der Idee sozialer Marktwirtschaft nicht zu vereinbaren ist, bei gleichzeitiger Zunahme von Niedriglöhnen und entsprechenden Verschuldungssituationen. Ich habe gemeinsam mit meinem griechischen Kollegen Michaelis Tremopolous eine europäische Petition für europäisch koordinierte Vermögensabgaben gestartet. Ich glaube, die Diskussion, wer die Kosten dieser Krise trägt, sie muss gesellschaftlich geführt werden, im Sinne eines Lastenausgleiches.

Zuletzt geht es darum, die Finanzmärkte effektiv zu regulieren und vor allem im Bankensystem das Haftungsprinzip wieder durchzusetzen. Der wahre Grund, warum die Staatenrettung in dieser Form notwendig war, war ja, dass, hätte man die Staaten nicht gerettet, wären Banken im großen Maße zahlungsunfähig geworden und damit der Zusammenhalt des Euros gefährdet gewesen, der wie jede Währung auf einem funktionierenden Bankensystem beruht. Daher ist die schwache Ausstattung der Banken mit Eigenkapital ein zentraler Grund war, warum wir genötigt waren, auch die Staaten in dieser Weise zu stabilisieren. Es ist unakzeptabel, dass gerade Großbanken nicht über genügend Eigenkapital verfügen, um die Risiken, die sie übernommen haben, selbst zu tragen.

In der Marktwirtschaft gilt eine ganz einfache Grundregel: Private Investitionen in der Hoffnung auf Gewinn sind deshalb vertretbar, weil ihnen die private Haftung entspricht. Das Haftungsprinzip ist mit dem Gewinnversprechen grundsätzlich verknüpft. Die Marktwirtschaft verliert ihre ethische Legitimation, wenn die Privatisierung der Gewinne verbunden ist mit der Sozialisierung der Verluste. Deshalb muss Europa den Banken vorschreiben, mehr Eigenkapital vorzuhalten. Sie müssen Mindesteigenkapitalanforderungen haben, also eine Größenbremse für Banken, auf Englisch nennen wir das leverage ratio, also eine Mindesteigenkapitalausstattung und sie muss unterschiedlich sein für die Banken, die tatsächlich normale Geschäftsbanken sind, etwa wie Sparkassen, Volksbanken und dergleichen, die tatsächlich die Wirtschaft mit Kredit versorgen, und solchen Banken, die vor allem auf internationalen Finanzmärkten spekulieren und schwer absehbare Risiken eingehen. Und diese Unterschiede durchzusetzen, diese effektive Eigenkapitalausstattung durchzusetzen, das liegt derzeit auf dem Tisch des europäischen Parlaments und des Europäischen Rates. Was wir derzeit erleben, ist jedoch das intensivste Finanzmarkt-Lobbying, das ich in Brüssel bislang gesehen habe. Über 2.200 Änderungsanträge wurden von Parlamentskollegen zum Vorschlag der Kommission eingebracht. Viele davon stammen letztlich aus der betroffenen Finanzindustrie. Ich finde es eine Schande, dass gerade die Regierungen Frankreichs und Deutschlands derzeit die massivsten Gegner einer stärkeren, bindenden, höheren Eigenkapitalausstattung für alle sind.

Wir sehen derzeit einen Unterschied des Redens in der Öffentlichkeit hier in Deutschland und ein anderes Handeln im Europäischen Rat bezüglich der Regulierung der Finanzmärkte. Meine verehrten Damen und Herren, das dürfen Sie nicht durchgehen lassen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Finanzmärkte gleichmäßig reguliert werden und ihre Risiken in Zukunft selbst tragen. Dazu gehört eine angemessene Besteuerung und eine angemessene Eigenkapitalausstattung. Roosevelt hat damals gesagt, durch das organisierte Geld regiert zu werden, sei genau so schlimm, wie durch die organisierte Kriminalität. Der Mann hatte Recht.

Allerdings solche Regeln, die von europäischem Zusammenhalt, wie von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz gleichermaßen gleitet sind, werden wir nur bekommen, wenn Europa sich demokratisch verändert. Ich glaube im Kern liegt die Dominanz mächtiger Partikularinteressen über Gemeinwohlinteressen in Europa daran, dass das Maß demokratischer Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Kontrolle auf europäischer Ebene unterentwickelt ist. Und das hat eine ganze Reihe von Gründen. Zum einen sind ein Teil der Sitzungen nicht öffentlich. Das Europäische Parlament ist öffentlich, wird beobachtet. Den Rat  können Sie nicht beobachten. Aber vor allem auch, weil wir keine entwickelte europäische Zivilgesellschaft haben. Es gibt das Brüsseler DGB-Büro, das Büro des Europäischen Gewerkschaftsbundes, das etwa genau so groß ist wie eine Regionalgeschäftsstelle des DGB in Deutschland. Das gleiche gilt für die Kirchen. Das gleiche gilt für viele Nicht-Regierungsorganisationen. Wenn Sie einmal schauen in den Vereinen, in denen Sie vielleicht aktiv sind, wie oft haben Sie ihre Partner aus anderen EU-Ländern schon getroffen? Wie oft haben Sie schon Interessen mit ihnen gemeinsam formuliert? Manchmal vielleicht, aber es ist doch eine seltene Ausnahme.

Ich bin überzeigt davon, dass mächtige Partikularinteressen in Europa nur in Schranken gewiesen werden können, wenn sich die kritische Zivilgesellschaft europäisiert. Die Zivilgesellschaft hat immer wieder an ganz zentralen Stellen Gemeinwohlinteressen durchgesetzt – im Umweltschutz, bei der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, genau so auch bei vernünftigen Regeln in der Wirtschaft, etwa im Verbraucherschutz. Auch jetzt in der deutschen Energiepolitik waren es wieder Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftliche Initiativen mit Unterstützung natürlich einer kritischen Medienlandschaft, die es geschafft haben, dass das Gleichgewicht der Kräfte wieder hergestellt wurde. Deshalb wird entscheidend sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger, und gerade die, die es gut mit Europa meinen, über die europäischen Grenzen hinweg zusammenschließen. Warum schaffen wir nicht einen europäischen Kirchentag? Warum gibt es keinen europäischen Gewerkschaftskongress, bei dem sich nicht nur wenige Funktionäre, sondern eben auch die Aktiven der Basis treffen? Wir haben nach wie vor eine Tendenz, dass sich auf europäischer Ebene einzelne Europadiplomaten sich treffen, aber nicht die Menschen, die die Arbeit in den jeweiligen Organisationen tragen.

In Europa müssen sich die Bürgerinnen und Bürger zusammenschließen und vernetzen, statt das europäische Projekt den Rechtspopulisten zu überlassen, die den Finger in die Wunden Europas legen. Europa ist zu wertvoll, als dass man es rückwärtsgewandten, rechtspopulistischen oder womöglich antisemitischen oder antiislamischen Gruppen überlassen darf, die derzeit in vielen Ländern die Öffentlichkeit zu dominieren beginnen.

Ich glaube, wir müssen eine demokratische Erneuerung Europas einleiten, und das würde natürlich seinen Höhepunkt finden in einem europäischen Konvent. Die Bürgerinnen und Bürger müssen nach dieser Krise das Recht bekommen zu entscheiden, welches Europa sie wollen und wie viel Europa sie wollen. Wir werden die notwendigen Konsequenzen aus der Krise nicht hinter verschlossenen Türen und auch nicht alleine in Brüssel regeln können. Letztlich werden wir, wenn die schlimmsten Wehen der Krise vorbei sind, einen neuen europäischen Konvent ausrufen müssen, der eine breite zivilgesellschaftliche Debatte über die Zukunft Europas ermöglicht. Und danach müssen die dort ausgehandelten neuen europäischen Verträge überall in Europa durch Referenden bestätigt werden. Und diese Volksabstimmungen sollen dann entscheiden, wer dabei sein will und wer nicht. Es kann nicht sein, dass ein einzelner kleiner Staat den gesamten Europäischen Reformprozess aufhält. Aber eine grundlegende demokratische Neuaufstellung Europas ist nach dieser Krise notwendig. Das gilt gerade dann, wenn man weiß, dass wir in der Globalisierung nicht weniger, sondern mehr und vor allem ein besseres Europa brauchen. Vielen Dank.