In der italienischen Zeitschrift Valori ist der folgende Gastbeitrag von mir erschienen. Wer des Italienischen mächtig ist, kann den Artikel hier auch auf Italienisch lesen (übersetzt von Mauro Meggiolaro).
„Die Globale Finanzkrise seit 2007 hat in das öffentliche Bewusstsein gefördert, was vorher nur Wenige interessierte. Früher unvorstellbar große Summen Finanzkapitals suchen nach kurzfristigen Anlagemöglichkeiten. Die nationalen Grenzen werden dabei immer weniger relevant. Das Finanzsystem wurde aus seiner Einhegung der keynesianisch informierten Periode nach der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre und dem 2. Weltkrieg entlassen. Kapitalverkehrkontrollen wurden geschliffen, Währungskurse dereguliert, Investitionshemmnisse zwischen den Ländern beiseite geräumt. Banken und anderen Finanzmarktakteuren wurde erlaubt, immer komplexere Finanzprodukte zu entwickeln und darin zu investieren. Es entwickelte sich eine riesige Spekulationsblase, die 2008 einen ersten großen Einbruch erlitt. In der Folge mussten nicht nur das Finanzsystem von den Staaten und ihren Steuerzahlern gerettet werden, sondern in Europa auch die gemeinsame Währung. Wie auch beim Klimawandel und dem Weltfrieden machte die Krise dabei die Interdependenz der Welt sichtbar. Die vielen europamüden Regierungen der Mitgliedsländer sahen sich wider eigenen Willen gezwungen, enger zusammen zu rücken und Souveränität zu teilen. In den letzten fünf Jahren kamen aus der Europäischen Demokratie rund 50 Gesetze, um den Finanzsektor stärker zu regulieren. Ca. 200 Ausführungsgesetze mit Details werden folgen. An der Spitze steht die gemeinsame Bankenaufsicht in der Eurozone durch die EZB. Die Macht über die Großbanken in Europa gemeinsam auszuüben und so die Erpressung der Staaten durch die Banken zu beenden, ist ein großer Schritt zu einem vereinten Europa. Seine Bedeutung geht an den Kern staatlicher Macht im Wirtschaftsleben. Gleichzeitig haben wir die Vorschriften zur Ausstattung von Banken mit Eigenkapital und Liquidität verschärft. Damit sind Banken eher in der Lage für die Folgen ihrer Spekulation selbst zu haften, statt die Spielregeln fairer Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen, indem Gewinne privatisiert und Verluste durch den Staat sozialisiert werden. Eine echte Bankenstrukturreform, die die Großbanken auf eine demokratisch und wirtschaftlich gesunde Größe zurückführt, hat es bis heute leider nicht gegeben.
Den Handel mit Finanzprodukten sind wir angegangen. So wird die Europäische Marktrichtlinie Mifid zusammen mit neuen Vorschriften für oft komplexe, von anderen Finanztiteln abgeleitete Finanzprodukte („Derivate“) („Emir“) einen viel größeren Teil der Handels an den Finanzmärkten mit Regeln erfassen als bislang. Dabei wird auch der Hochfrequenzhandel beschränkt. Es wird unattraktiver auf kleinste Wertänderungen mit Scheingeschäften zu spekulieren, die schließlich gar nicht abgeschlossen werden. Außerdem werden an europäischen Finanzplätzen Mindestgrößen für Wertänderungen von Finanztiteln bestimmt, so dass zumindest auch indirekt Kapitalbewegungen für absurd kleine Wertänderungen auf kürzeste Frist begrenzt werden.
Symbolisch wichtiger ist in der Mifid jedoch eine Begrenzung, was Finanzkapital kaufen darf: Erstmals werden Investitionsgrenzen für Nahrungsmittel und Rohstoffe eingeführt. Die Menge an Kapital auf diesen sensiblen Märkten wird beschränkt, um das spekulative Treiben von Preisen nach oben und unten zu vermindern. Diese Regeln kamen nur auf Druck der kritischen Zivilgesellschaft und auch der Kirchen zustande. Während es der Finanzlobby schon 2010 mit Hilfe der französischen und britischen Regierung gelang, Begrenzungen für die Übernahme von realwirtschaftlichen Unternehmen zu verhindern, hatten hier die Bürgerinitiativen Erfolg. Hier ist allerdings Wachsamkeit geboten, denn bei den derzeit verhandelten Ausführungsgesetzen versucht die Finanzlobby, die beschlossenen Fortschritte durch die Detailvorschriften unwirksam zu machen.
Um die kurzfristige Spekulation insgesamt unattraktiver zu machen und mehr Kapital in den langfristigen Umbau unseres Wirtschaftssystems zu lenken, brauchen wir zudem eine Finanztransaktionssteuer. Trotz allen öffentlichen Drucks ist dieses Projekt erst weltweit in der G20 und dann in der EU als ganzes gescheitert. Derzeit versuchen 11 Länder in der Eurozone, sich auf eine abgespeckte Version der „Steuer auf Kurzfristigkeit“ zu einigen. Auch hier locken bei richtiger Ausgestaltung hohe Milliardenbeträge an Steuereinnahmen. Bislang ohne Erfolg. Absurderweise sind es die sozialdemokratischen Regierungen Italiens und Frankreichs, die hier seit Jahren im Interesse ihres Finanzsektors blockieren.
Am wenigsten haben wir bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzkrise erreicht. Anders als in den USA sind die Gesetze gegen Marktmissbrauch auch an Finanzmärkten schwach. Es ist auch schwer, die Bankmanager strafrechtlich zu belangen, die ihre Institute zu Empfängern staatlicher Gelder heruntergewirtschaftet haben. Mit der Verschärfung der Marktmissbrauchsrichtlinie wurden hier zwar Konsequenzen gezogen. Diese sind aber vergleichsweise milde, denn die Justizsysteme der Mitgliedsländer sind wie auch das Steuerwesen der heilige Gral eingebildeter nationaler Souveränität. Eine effektive Harmonisierung in Europa, um schärfere Regeln zu erreichen, ist kaum möglich. Der Wille zur Strafverfolgung von Spitzenmanagern ist kaum vorhanden. Als nächsten Schritt sollten wir uns daher für zweierlei einsetzen: Den europaweiten starken Schutz von Whistleblowern, ohne die die Aufklärung von Wirtschaftskriminalität kaum möglich ist. Und: Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, um Wirtschaftskriminalität in großem Stil grenzüberschreitend verfolgen zu können. Der Widerstand vieler EU-Mitgliedsländer ist hier völlig unakzeptabel!“
Sven Giegold (45) ist Wirtschaftswissenschaftler und Sprecher der Grünen im Ausschuss für Wirtschaft und Währung und im Sonderausschuss zur LuxLeaks-Affaire des Europaparlaments. Seit 6 Jahren arbeitet er dort an einer effektiven und fairen Regulierung von Banken, Investmentfonds und dem Verbraucherschutz an Finanzmärkten. Vorher war er in der Umweltbewegung aktiv und Mitgründer von Attac und des Internationalen Netzwerks Steuergerechtigkeit. Er ist Mitglied der Präsidialversammlung des Deutschen Evangelischen Kirchentags.