Hier ein Interview mit für den Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) zur großen Bedeutung von Genossenschaften für eine soziale und solidarische Ökonomie in Europa. Die Ausgabe der „GdW kompakt“ zum Jahr der Genossenschaften, in der das Interview erschienen ist, gibt es hier zum Download: GdW kompakt 3
Neue politische Bedeutung – Genossenschaften in Europa
Sven Giegold (42) ist finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament und Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Er gehört zu den Begründern von attac Deutschland und gründete außerdem 1997 eine Wohnungsgenossenschaft in Verden, die AllerWohnen eG.
Herr Giegold, was bedeutet Ihnen persönlich die Unternehmensform Genossenschaft und welchen Platz nimmt das Thema innerhalb Ihrer politischen Tätigkeit ein?
Sven Giegold:
Mir liegt die Förderung der genossenschaftlichen Unternehmensform seit langem am Herzen, denn ich glaube, dass Genossenschaften als Teil einer sozialen und solidarischen Ökonomie eine wichtige Rolle zukommt in unserer Wirtschaft. Bei meiner Arbeit im Europaparlament steht natürlich aktuell die Finanz- und Wirtschaftskrise im Mittelpunkt. Darin liegt auch eine Chance für die Genossenschaften, stärker wahrgenommen zu werden. Was Genossenschaften vor allem brauchen sind Rahmenbedingungen, die sie gegenüber anderen Unternehmensformen nicht benachteiligen.
Vermutlich ist vielen Entscheidern in der EU die Rechtsform der Kapitalgesellschaft wesentlich vertrauter als die der Genossenschaften…
Sven Giegold:
Ja, da ist noch Lobbyarbeit nötig. Ich habe aber den Eindruck, dass einige EU-Politiker die Genossenschaften gerade für sich entdecken. Mehrere EU-Kommissare haben angekündigt, den Sektor weiter zu stärken. Genossenschaften stellen – gemeinsam mit Stiftungen und Vereinen, die ebenfalls nicht dem Prinzip der Gewinnmaximierung folgen – rund 10 Prozent der Arbeitsplätze in der EU und damit mehr als die Automobilindustrie. Umso erstaunlicher, wie wenig Aufmerksamkeit dieser ganze Bereich bisher bekam.
Haben Sie eine Erklärung dafür und wie kann man das ändern?
Sven Giegold:
Das Problem ist zum Teil selbstgemacht. Als wir herausfinden wollten, welches aktuell die wichtigsten Anliegen der Genossenschaften und anderer Formen sozialer und solidarischer Ökonomie sind, haben wir allein in Deutschland mit 60 Verbänden diskutiert… Partikularinteressen überdecken da leicht die Gemeinsamkeiten. Es wäre wichtig, sich auf wenige übergeordnete Ziele zu einigen, um sie klar und kraftvoll in Berlin und Brüssel zu vertreten.
Wo setzen Sie sich aktuell auf EU-Ebene für Genossenschaften ein?
Sven Giegold:
Wir haben als EU-Grüne ein Programm zur Förderung und Stärkung der solidarischen und sozialen Ökonomie in Europa vorgelegt, als Teil unseres Green New Deals. Ich habe im März vor dem Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten eine ganze Reihe von Forderungen formuliert, unter anderem die nach einer separaten statistischen Erfassung und Auswertung der genossenschaftlichen Wirtschaftsleistung durch die Europäische Statistikbehörde. Diese Eckdaten brauchen wir, damit der Sektor entsprechend seiner Bedeutung wahrgenommen wird. Wir begrüßen, dass in der EU-Kommission einiges auf den Weg gebracht wird. Seit 2011 läuft die Social Businesss Initiative mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen zur Förderung der solidarischen und sozialen Ökonomie. Wichtig ist auch der Europäische Fonds für soziales Unternehmertum, der im nächsten Jahr aufgelegt wird. Damit wurde von der Kommission ein neues Finanzierungsinstrument geschaffen: 70 Prozent der Investitionen des Fonds müssen in Unternehmen fließen, die nicht auf Profitmaximierung hinarbeiten. Allerdings waren im Entwurf die Maximalgrößen für die Unternehmen sehr begrenzt. Wohnungsgenossenschaften, deren Bilanzsummen leicht 2- bis 3-stellige Millionenbeträge erreichen, wären von vorneherein ausgeschlossen gewesen. Wir konnten darauf hinwirken, dass auf diese Grenze verzichtet wurde.
Das Internationale Jahr der Genossenschaften geht langsam zu Ende. Welche Bilanz ziehen Sie?
Sven Giegold:
Grundsätzlich spürt man, dass die vielen Veranstaltungen und Initiativen die Genossenschaften mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben und Politiker aller Couleur haben die Genossenschaften in höchsten Tönen gelobt. Nächstes Jahr ist Bundestagswahl, deshalb muss man jetzt seine Anliegen mit Nachdruck vorbringen! Da wäre zum Beispiel die Schwerfälligkeit der genossenschaftlichen Rechtsform. Der Aufwand für Genossenschaftsgründer ist einfach zu groß. Deshalb wählt mancher eine nicht genossenschaftliche Rechtsform, die eigentlich nicht zu seinem Projekt passt. Das Genossenschaftsgesetz sollte flexibler werden. Generell wünsche ich mir, dass sich die Genossenschaften noch mehr als Bewegung verstehen. Dann wird es auch leichter, politisch Einfluss zu nehmen!
Das Interview führte Anke Pieper.