Sven Giegold

48 Forderungen für die Trennung von ökonomischer und politischer Macht

Die EU-Kommission hat versprochen, die Rechtsgrundlage für das EU Lobbyregister zu erneuern. Kommissionspräsident Juncker hat mehr Transparenz zu einer seiner Prioritäten erklärt. Damit das Parlament sagt, was es im Rahmen dieser Reformen will, hat der Verfassungsausschuss mich beauftragt, einen Initiativbericht “Transparenz, Verantwortlichkeit und Integrität in den EU-Institutionen” zu entwerfen. Dazu haben mich Hunderte von Vorschläge vieler Bürgerinnen und Bürger, existierende Regeln in Kanada, den USA und Kroatien sowie Forderungen von Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International, Lobbycontrol, Democracy International und Corporate Europe Observatory inspiriert. Den Bericht haben wir jetzt eingereicht. Er steht samt meiner ausführlichen Begründung auf Deutsch hier: https://sven-giegold.de/wp-content/uploads/2015/12/AFCO_PR2015567666_DE.pdf

25.000 Lobbyist*innen bedrängen die Politik in Brüssel. Das sind mehr, als in Washington D.C. aktiv sind. Das Vertrauen der Bürger*innen in die EU-Institutionen ist nahe dem historischen Tiefpunkt. Wir müssen sichtbar die wirtschaftliche und politische Macht trennen, um das Vertrauen der Bürger*innen zurück zu gewinnen. Alle 48 Forderungen in meinem Initiativbericht sollen das Versprechen der EU-Verträge erneuern, dass alle Bürgerinnen und Bürger vor den EU-Institutionen gleich sind. Wir wollen das EU-Lobbyregister verpflichtend machen, die Integrität von Europaabgeordneten, Kommissar*innen und Mitarbeiter*innen gegen Interessenkonflikte mit unabhängiger Aufsicht schützen sowie Transparenz und den Zugang zu Informationen vollständig verwirklichen.

Die EU-Institutionen sind bereits jetzt transparenter, rechenschaftspflichtiger und integrer als die meisten anderen politischen Institutionen auf Ebene der Mitgliedstaaten oder der Regionen in Europa. Aber lokale und nationale Politik ist den Menschen näher dank der Medien und stärkerer politischer Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, dank persönlicher Kontakte und weniger Sprachbarrieren. EU-Politik fühlt sich nach weniger Einfluss für Bürgern und mehr Einfluss für professionelle Lobbyist*innen an. Um diesen gefühlten Abstand der Menschen zur europäischen Politik zu verringern, schlägt der Bericht einen Dreischritt vor: Die EU-Institutionen sollen transparenter, rechenschaftspflichtiger und integrer werden und dabei die höchstmöglichen Standards in diesen Bereichen setzen. Unser Grünes Ziel bleibt: Die Europäische Demokratie bauen – stark, sauber und offen für die direkte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger.

Der Verfassungsausschuss hat den Berichtsentwurf am 3. Dezember diskutiert. Da zeigte sich schon: Es gab viel Unterstützung beim Grundsätzlichen, aber viel Einrede beim Konkreten. Ich freue mich auf diese politische Auseinandersetzung im Sinne einer glaubwürdigeren Politik in Europa. Änderungsanträge durch die anderen Abgeordneten werden bis Ende Februar möglich sein. Die Abstimmung im Ausschuss folgt dann nach Kompromissverhandlungen. 182 Europaabgeordnete haben vor der Wahl bei Transparency International eine Selbstverpflichtung für einen legislativen Fußabdruck unterschrieben, wenn sie selbst ein EU-Gesetz entwerfen. 180 haben die Selbstverpflichtung “Politics for People” der ALTER-EU-Koalition unterzeichnet, die ähnliches fordert. Andere Abgeordnete argumentieren allerdings mit der Freiheit des Mandats gegen jegliche neue Regeln. Sobald die anderen Fraktionen ihre Position klarer bezogen haben, werden wir wahrscheinlich noch viel öffentliche Unterstützung benötigen für unsere Forderungen.

Auch ich selbst kann meinen Bericht noch mit Änderungsanträgen verbessern. Daher freue ich mich weiter über Vorschläge und Hinweise.

 

Eine Möglichkeit dazu gibt es am kommenden Dienstag, den 15. Dezember, um 20:00 Uhr. An diesem Abend möchte ich unter dem Motto “Europe Calling – Europa kontrovers“ eine neue Online-Veranstaltungsreihe starten und mit Daniel Freund von Transparency International und Sophie von Hatzfeldt von Democracy International diskutieren, wie Europa transparenter, demokratisch rechenschaftspflichtiger und vor allem integrer werden kann. Auch Ihr und Sie könnt/können mitdiskutieren. Dazu folgt/folgen Sie einfach diesem Link zur Online-Veranstaltung und zur Veranstaltungsanmeldung: https://sven-giegold.de/europe-calling/

 

10 KERNFORDERUNGEN DES BERICHTS

1) Ein Legislativer Fußabdruck, um die Integrität beim Schreiben von EU-Gesetzen zu schützen

Diejenigen in der Europäischen Kommission, Parlament und Rat der Mitgliedstaaten, die EU-Gesetze mitschreiben, sollen ihre Treffen mit Lobbyist*innen sowie alle Vorschläge von ihnen zu Politikentwürfen, Gesetzen und Änderungsanträgen sammeln und als legislativen Fußabdruck veröffentlichen. Dieser legislative Fußabdruck sollte online stehen und die Balance der Einflussnahme zeigen, während der Entscheidungsprozess läuft. So können Unausgewogenheiten korrigiert werden, bevor es zu spät ist.

 

2) Das Lobbyregister verpflichtend und seine Daten aussagekräftig machen

Die Initiative der EU-Kommission von vor einem Jahr, nur registrierte Lobbyisten zu treffen und diese Treffen öffentlich zu machen, sollte ausgeweitet werden. Innerhalb der Kommission sollten diese Regeln nicht nur für die höchsten Ränge gelten, sondern für alle, die EU-Gesetze mitschreiben oder umsetzen. Im Parlament sollten wenigstens Abgeordnete mit besonderer Funktion in der Gesetzgebung wie Berichterstatter*innen und Ausschussvorsitzende die gleichen Regeln einhalten oder ihre Ämter verlieren. Außerdem können Einlasskontrollen überprüfen, wer Lobbyist*in ist, und nur registrierte einlassen. Sobald diese Reformen umgesetzt sind, müssen weitere noch offene Schlupflöcher geschlossen werden mit einem EU-Gesetz in Ergänzung zur hoffentlich jetzt bald vorliegenden Vereinbarung zwischen den EU-Institutionen.

Transparency International hat Tausende Einträge im Lobbyregister gefunden, die auf den ersten Blick Fehler enthalten. So schlechte Qualität der Daten ist inakzeptabel. Wir wollen mehr Mitarbeiter*innen im Sekretariat. Es soll künftig unaufgefordert fünf Prozent aller Einträge auf Richtigkeit intensiv prüfen. Änderungen der Ausgaben für Lobbying sollten monatlich gemeldet werden. Nur so können Bürger*innen nachvollziehen, wer wieviel zu welchem Gesetz ausgibt.

 

3) Unabhängige Kontrolle gegen Interessenskonflikte

Bisher werden Verstöße gegen bestehende Regeln zu Interessenskonflikten von Abgeordneten nur von Parlamentspräsident Schulz entschieden. Fünf Abgeordneten der größten politischen Gruppen geben als beratender Ausschuss Empfehlungen an Schulz. Immer wenn sie bisher Sanktionen empfohlen haben, hat Schulz das ignoriert. Stattdessen schlagen wir vor, dass Experten von außerhalb die fünf bisherigen Mitglieder des Ausschusses ergänzen sollten. Der erweiterte Ausschuss sollte auch an Stelle des Präsidenten endgültig entscheiden. Der Ausschuss und die unterstützende Verwaltung sollten zusätzlich von sich aus zufällig ausgewählte Erklärungen über Interessenskonflikte der Abgeordneten gründlich überprüfen. Darüber hinaus sollte die Finanzierung europäischer politischer Parteien vom Parlament so weit wie möglich an eine neutrale Instanz übergeben werden, die nicht fast ausschließlich aus Mitgliedern eben dieser Parteien besteht.

 

4) Karenzzeiten, um die Drehtür zu schließen

Viele Kommissar*innen, Europaabgeordnete und Mitarbeiter*innen nehmen nach ihrer Funktion in EU-Institutionen einen Lobby-Job an und nehmen ihr Spezialwissen mit. Das schadet dem Ruf der europäischen Insititutionen. Um diese sogenannte Drehtür zu schließen, sollten Kommissare und Europaabgeordnete drei Jahre lang warten müssen bevor sie Lobby-Jobs annehmen dürfen. Für Abgeordnete und Mitarbeiter*innen sollte das für den Themenbereich der vorherigen Funktion gelten. Für Mitarbeiter*innen sollte die Karenzzeit zwei Jahre betragen.

 

5) Ausgewogene Zusammensetzung von Expertengruppen

Viele der Mitglieder in Expertengruppen, die der Kommission bei Entscheidungen helfen sollen, haben Interessenkonflikte, weil sie auch in der Wirtschaftsbranche arbeiten, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Wir wollen solche Interessenskonflikte ausschließen. Alle Expert*innen müssen umfassende Lebensläufe veröffentlichen, damit solche Interessenskonflikte überprüft werden können. Die Berufung von Menschen mit engen Verbindungen zu Wirtschaftsunternehmen als “Experten in persönlicher Kapazität” muss beendet werden.

 

6) Volle Umsetzung des Zugangs zu Dokumenten

Wie soll man nach Dokumenten fragen, von denen man gar nichts weiß? Es gibt bereits eine Liste aller existierenden Dokumente für das Europaparlament. Wir wollen eine solche Liste auch für Kommission und Rat der Mitgliedstaaten. Rat, EZB, Europäischer Gerichtshof, Europol und Eurojust müssen in der Regulierung 1049/2001 über den Zugang zu Dokumenten hinzugefügt werden, wo sie bisher fehlen. Außerdem müssen Nicht-EU-Akteure, die EU-Geld erhalten, genauso rechenschaftspflichtig werden, wie es EU-Institutionen bereits sind.

 

7) Transparenz bei EU-Gesetzgebung

In mehr als 80 Prozent der EU-Gesetze wird der finale Deal in informellen Treffen zwischen den Institutionen gemacht. Diese sogenannten Triloge schließen die wichtigsten Akteure aus Parlament, Rat und Kommission ein. Aber bisher sind weder Protokolle noch andere Dokumente öffentlich verfügbar, bevor das Gesetz beschlossen ist. Wir schlagen vor: Vorsitzende der Parlamentsausschüsse sollten von sich aus Protokolle und in Trilogen benutzte Dokumente veröffentlichen. Zusätzlich haben Bürger*innen das Recht zu wissen, wer an diesen Trilogen teilnimmt und welche Positionen vertritt. Deshalb sollten auch die vorbereitenden Treffen im Rat genauso öffentlich sein wie die Ausschussitzungen des Europäischen Parlaments.

 

8) Transparenz in Handelsverhandlungen wie TTIP

3,2 Millionen Europäer*innen haben unterschrieben, um TTIP und CETA zu stoppen. Der Mangel an Transparenz führt zu Misstrauen. Um das Vertrauen der Bürger*innen zurück zu gewinnen, sollte die Kommission Verhandlungsmandate, alle Verhandlungspositionen, alle Forderungen und Angebote und alle konsolidierten Verhandlungstexte vor jeder Verhandlungsrunde veröffentlichen. Das würde nationalen Parlamenten und dem Europaparlament genauso wie NGOs und der weiteren Öffentlichkeit ermöglichen, Vorschläge zu machen, bevor die Verhandlungen beendet sind und das Ergebnis in den Ratifikationsprozess geht.

 

9) Transparenz und Rechenschaftpflichtigkeit bei Entscheidungen in der Eurozone

Die Finanzminister der Eurogruppe haben viele grundlegende Entscheidungen während der Eurokrise getroffen, ohne dass Bürger*innen und Parlamente vollständig nachvollziehen konnten, wer welche Position vertreten hat. Solche Geheimhaltung zerstört demokratische Rechenschaftspflichtigkeit. Wir wollen, dass Entscheidungen in der Eurogruppe, im Wirtschafts- und Finanzausschuss, “informellen” Finanzministerräten und Euro-Gipfeln transparent und rechenschaftpflichtig werden, auch durch die Veröffentlichung von aussagefähigen Protokollen.

 

10) Schutz von Hinweisgebern und Strafen für Schuldige von Korruption

Korruption kostet uns 120 Milliarden Euro jährlich in der gesamten EU. Effektiver Schutz für Hinweisgeber (Englisch: “Whistleblower”) kann eine entscheidende Waffe gegen Korruption sein. Die Kommission muss ihre Verweigerungshaltung aufgeben und endlich einen Entwurf für eine Hinweisgeberschutz-Richtlinie vorlegen. Sie sollte Minimum-Standards für ganz Europa enthalten. Wenn Korruption nachgewiesen ist, müssen Strafen folgen: Schuldig befundene Politiker*innen, ob im Zusammenhang der EU-Institutionen oder in Mitgliedstaaten, sollten für kein EU-Mandat innerhalb der nächsten zwei Legislaturperioden kandidieren dürfen. Personen oder Firmen, die von Personen geführt werden, die wegen Korruption verurteilt wurden, sollten für zwei Jahre weder Beschaffungsverträge mit der EU schließen oder sonst von EU-Mitteln profitieren dürfen.